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Titel
Neue Anfänge?. Der Umgang der evangelischen Kirche mit der NS-Vergangenheit und ihr Verhältnis zum Judentum. Die Landeskirchen in Nordelbien. Band 1: 1945–1965


Autor(en)
Linck, Stephan
Anzahl Seiten
352 S.
Preis
€ 17,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Felix Teuchert, München

Die geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit nach 1945 ist schon lange ein etabliertes Forschungsfeld.1 In dieses fügt sich die Studie von Stephan Linck mit dem Titel „Neue Anfänge? Der Umgang der evangelischen Kirche mit der NS-Vergangenheit und ihr Verhältnis zum Judentum. Die Landeskirchen in Nordelbien“ ein, auch wenn sich der Autor nicht explizit auf geschichtswissenschaftliche Paradigmen wie dem der Erinnerungskultur, der Vergangenheitsbewältigung oder der Geschichtspolitik bezieht.

Die Studie ist im Auftrag der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche entstanden. Da sich auf dem Gebiet der nordelbischen Landeskirche vor ihrer Gründung im Jahre 1977 vier evangelische Landeskirchen befanden – nämlich die Schleswig-Holsteinische Landeskirche, die Landeskirche Eutin, die Lübecker Landeskirche sowie die Hamburgische Landeskirche – kann Linck unterschiedliche Wege in der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit skizzieren. Er identifiziert drei große Themenkomplexe: Unter der Überschrift „Schuld und Sühne“ fragt er zunächst nach dem Umgang mit nationalsozialistisch belasteten Theologen nach 1945 und nach Thematisierungen und Konkretisierungen von Schuld (S. 17). Der zweite Themenkomplex ist dem Thema „Juden und Christen“ gewidmet und hat sowohl den Umgang mit dem kirchlichen Antisemitismus als auch das Verhältnis der Kirchenleitungen zu jüdischen Gemeinden und Vertretern des Judentums zum Gegenstand (S. 18). Das letzte Kapitel beschäftigt sich mit „dem Osten“, der nach Linck durch eine „doppelte Deutung“ (S. 18) besetzt sei: Einerseits durch die kirchliche Integration der Ostvertriebenen, die die Landeskirchen im Hauptaufnahmeland Schleswig-Holstein nicht zuletzt wegen der unterschiedlichen Bekenntnisse vor erhebliche Herausforderungen stellte. Andererseits war „der Osten“ Bezugspunkt eines scharfen, gerade auch kirchlich getragenen Antikommunismus (S. 18). Den Untersuchungszeitraum definiert Linck in Anlehnung an einen Vorschlag des Kirchenhistorikers Harry Oelke von 1945 bis 1965, wobei ein zweiter Band für die Zeit seit 1965 vorgesehen ist (S. 15).

Linck kann belegen, dass sich die Kirchenleitungen vielfach schützend vor gesuchte NS-Verbrecher und NS-Ideologen stellten und ihnen Anstellungen verschafften. Vor allem für die evangelische Landeskirche Schleswig-Holstein konnte er zahlreiche Fälle zutage fördern. Zu verweisen wäre etwa auf Hans Beyer, der als „Ostforscher“ die nationalsozialistische Selektions- und Vernichtungspraxis „wissenschaftlich“ begründete und nach 1945 Leiter der Landeskirchlichen Presseabteilung wurde (S. 128–140), oder auf den Theologen, SS-Mitglied und Gestapo-Mitarbeiter Szynanowski-Biberstein (S. 140–151), der als Chef des Einsatzkommandos 6 in Rostow für Massenhinrichtungen verantwortlich war. Biberstein, dessen abstrusen theologischen Rechtfertigungen vor den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen die Aufmerksamkeit der überregionalen Presse hervorgerufen hatten und der 1946 zum Tode verurteilt, aber begnadigt wurde, erhielt nach seiner Haftentlassung eine Anstellung in der Kirchenverwaltung. Bedenken riefen im Landeskirchenamt nicht seine Verbrechen hervor, sondern lediglich der Umstand, dass Biberstein 1938 aus der Kirche ausgetreten war. Eine offene Thematisierung und vor allem Konkretisierung von Schuld fand, wie Linck konstatiert, in den Landeskirchen und insbesondere in den Kirchenleitungen nicht statt (S. 317). Dies zeige sich auch an der Rezeption der Stuttgarter Schulderklärung. Das offizielle Schuldeingeständnis der EKD wurde in den vier Landeskirchen einhellig abgelehnt (S. 104).

Alle vier untersuchten Landeskirchen waren während der NS-Zeit deutschchristlich bestimmt. Dennoch arbeitet Linck deutliche Unterschiede in ihrem Umgang mit dem Nationalsozialismus nach 1945 heraus: Während die Landeskirche Lübeck von allen westdeutschen Landeskirchen den schärfsten und konsequentesten Bruch mit seinem nationalsozialistischen Personal vollzog, galt die Landeskirche Eutin mit einer Entlassungsquote von null als „Mülleimer“ (S. 82) für Nationalsozialisten, die in anderen Landeskirchen nicht mehr angestellt wurden (S. 86). Auch im Verhältnis zum Judentum und im Umgang mit dem kirchlichen Antisemitismus diagnostiziert Linck eine weitgehende Verdrängung. Dies zeige sich am Beispiel der Schrift „Die Kirche und der Jude“ von 1936 aus der Feder des holsteinischen Bischofs Wilhelm Halfmann. Im Zusammenhang der antisemitischen Welle der 1960er-Jahre wurde Halfmanns Schrift in der sozialdemokratischen Presse zitiert und skandalisiert. Anhand der internen Korrespondenz zeigt Linck, dass Halfmann seinen Antisemitismus noch in den 1960er-Jahren theologisch legitimierte (S. 222–228).

Dass der kirchliche Antisemitismus aber keineswegs nur deklamatorischen oder legitimatorischen Charakters war, sondern zwischen 1933 und 1945 auch zu aktiver Mittäterschaft hatte führen können, verdeutlicht das Beispiel der Kirchenbuchämter: Die Kirchenbücher, über die sich die jüdische Herkunft getaufter Christen erfassen ließ, waren von zentraler Bedeutung für die nationalsozialistische Verfolgungspraxis. Die darin enthaltenen Informationen wurden von den neu eingerichteten Kirchenbuchämtern an NS-Behörden weitergegeben, zum Teil auch in Eigeninitiative, was nach 1945 von den Kirchenverwaltungen geleugnet wurde (S. 240–244). Diese genannten Beispiele zeigen den Erkenntnisgewinn einer regionalgeschichtlichen Arbeit, die solche konkreten Verstrickungen und Beteiligungsformen und den Umgang damit herauszuarbeiten vermag.2

Linck kommt zu einem ernüchternden Ergebnis, was den Umgang der kirchlichen Institutionen mit ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit betrifft. Er führt dieses auf die Wirkungsmacht des im Norden besonders stark ausgeprägten Nationalprotestantismus zurück, der die Annäherung an den Nationalsozialismus ermöglicht und eine selbstkritische Thematisierung der eigenen Rolle im Nationalsozialismus unmöglich gemacht habe (S. 17, Anm. 6; S. 316). Die von Linck genannten positiven Beispiele wie die Versöhnungs- und Erinnerungsarbeit von Pastor Johannes Meyer in Ladelund (S. 162–178) oder die von Erich Lüth initiierte „Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit“, die hochkarätig besetzte Tagungen von jüdischen und evangelischen Theologen organisierte und einen christlich-jüdischen Dialog zu eröffnen beabsichtigte (S. 198–211), sind demgegenüber auf die Initiative von Einzelnen zurückzuführen. Sie stießen zum Teil sogar auf den Widerstand der Kirchenleitungen.

Vereinzelt sind begriffliche Ungenauigkeiten zu entdecken: So ist mehrfach von „Diskurs“ die Rede, wo eigentlich Debatten oder Diskussionen gemeint sind, denn das methodisch anspruchsvolle Instrumentarium der Diskursanalyse wendet Linck hier nicht an. (z.B. S. 212, 231) Hinsichtlich der Wahl der Einzelfälle wäre zuweilen eine stärkere Einordnung wünschenswert: Handelt es sich hierbei um generalisierbare Fälle oder, nicht weniger kritikwürdig, um extreme Ausnahmen? Auch wird nicht klar, inwieweit der Abschnitt „Frauenrolle im beginnenden Wandel“ sowie die Debatten um die Deutsche Friedensunion und die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik – diese beiden Debatten skizziert Linck im Kontext des Antikommunismus der Nachkriegszeit – zum Verständnis der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit beitragen. Zwar spielt die nationalsozialistische Vergangenheit in diesen Debatten als Hintergrunddiskurs eine große Rolle. Daraus aber Konsequenzen für die Reflexion der eigenen Schuld im NS zu ziehen, geht etwas zu weit. Ein scharfer Antikommunismus, so ließe sich argumentieren, war zwar zweifellos ein Bindeglied zwischen Nationalsozialismus und Protestantismus. Der – auch kirchlich getragene – Antikommunismus nach 1945 ist aber nicht gleichzusetzen mit der Unfähigkeit bzw. der mangelnden Bereitschaft, die eigene nationalsozialistische Vergangenheit zu reflektieren.

Diese Kritikpunkte schmälern jedoch den Erkenntnisgewinn nicht. Lincks Ergebnis ist im Grundsatz vielleicht nicht überraschend, wohl aber in der Ausprägung. Der regionalgeschichtliche Zugriff bringt einen großen Detailreichtum hervor und macht zudem sichtbar, wie unterschiedlich der kirchliche Umgang mit der Vergangenheit war. In den personalpolitischen Konsequenzen bilden Eutin und Lübeck die Pole, im Umgang mit dem Antisemitismus das tolerante Hamburg und die antisemitischen Positionen anhängende schleswig-holsteinische Kirchenleitung, wo sogar die Bekennende Kirche die antisemitische Gesetzgebung mitgetragen hatte (S. 24). Linck hat insgesamt eine flüssig geschriebene und anschauliche Dokumentation vorgelegt, die viele interessante Fälle und Einzelaspekte auf einer konkreten Ebene ans Licht bringt und einen kritischen Blick auf die vier Landeskirchen der ehemaligen Landeskirche Nordelbien wirft.

Anmerkungen:
1 Hier sei lediglich auf zwei Gesamtdarstellungen hingewiesen: Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, 2. Auflage, München 1997 (1. Aufl. 1996); Peter Reichel, Vergangenheitsbewältigung in Deutschland. Die Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur von 1945 bis heute, München 2001. Einen Überblick über die Rolle der Kirchen im Nationalsozialismus findet sich bei: Christoph Strohm, Die Kirchen im Dritten Reich, München 2011.
2 Zu diesem Themenfeld erschien 2008 ein regionalgeschichtlicher Sammelband von: Manfred Gailus (Hrsg.), Kirchliche Amtshilfe. Die Kirche und die Judenverfolgung im „Dritten Reich“, Göttingen 2008. In der Gesamt- und Überblicksdarstellung von Christoph Strohm werden Formen der aktiven Mittäterschaft nicht beschrieben. Siehe: Strohm, Kirchen im Dritten Reich.

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