I. A. Diekmann (Hrsg.): Emanzipationsedikt 1812

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Titel
Das Emanzipationsedikt von 1812 in Preußen. Der lange Weg der Juden zu „Einländern“ und „preußischen Staatsbürgern“


Herausgeber
Diekmann, Irene A.
Reihe
Europäisch-jüdische Studien, Beiträge 15
Erschienen
Berlin 2013: de Gruyter
Anzahl Seiten
VII, 382 S
Preis
€ 99,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hans-Werner Hahn, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Das die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in Preußen regelnde Edikt vom 11. März 1812 gilt als wichtiger Schritt auf dem langen Weg zur Gleichstellung der deutschen Juden. Es hob den bisherigen Schutzjudenstatus auf, befreite die Juden von Zwangs- und Sonderabgaben und erklärte die preußischen Juden zu „Einländern“ und „Staatsbürgern“. Von einer vollständigen Emanzipation konnte aber schon deshalb keine Rede sein, weil das Gesetz den Juden zwar die gleichen Pflichten auferlegte, sie aber vor allem durch den verweigerten Zugang zu den Staatsämtern erst einmal zu „Bürgern auf Probe“ zu machen schien. Hinzu kam, dass die Vergabe des Staatsbürgerrechts an bestimmte Bedingungen wie die Führung fester Familiennamen und den Gebrauch der deutschen Sprache in allen Verträgen und Handelsbüchern gebunden war. Obwohl es zur Entstehung und zu den Folgen des Ediktes von 1812 bereits eine breite Literatur gibt, kann man den hier vorgelegten Band aus mehreren Gründen als eine Bereicherung der Forschung ansehen. Die Beiträge, die auf eine 2012 durchgeführte Tagung des Moses Mendelssohn Zentrums für europäisch-jüdische Studien zurückgehen, geben nicht nur einen kenntnisreichen Überblick über die bisherige Forschung und ihre Kontroversen, sondern zeigen auf teilweise sehr eindrucksvolle Weise, dass die Beschäftigung mit dieser Thematik noch keineswegs als abgeschlossen angesehen werden kann.

In einem einleitenden Beitrag umreißt Julius H. Schoeps noch einmal anschaulich die Ambivalenz des Ediktes von 1812, das den Juden einerseits den Weg zu einer gleichberechtigten Stellung in der preußischen Gesellschaft zu ebnen schien, andererseits aber weiterhin Grenzen dieser Integration markierte. Es folgen drei Beiträge zu den Diskussionen um die „bürgerliche Verbesserung“ der Juden im Vorfeld des Ediktes. Tobias Schenk geht in seinem ausführlichen Beitrag der Frage nach, inwieweit das Edikt den Abschluss rechtsstaatlicher Entwicklungen des „aufgeklärten Absolutismus“ bildete. Gestützt auf eine breite Quellengrundlage kommt er in seinen innovativen Analysen zur Regierungspraxis zu dem Ergebnis, dass der preußische Staat bis 1806 von einem wirklichen Durchbruch in der Judenemanzipation weit entfernt war und erst die mit der Niederlage von Jena und Auerstedt entstandene Staatskrise den Weg zu einer anderen Judenpolitik ebnete, die Teil der „defensiven Modernisierung“ war. Hannah Lotte Lund beschreibt, wie sich die Berliner Juden an den um 1780 verstärkt einsetzenden Debatten über die „bürgerliche Verbesserung“ beteiligten, vermittelt dabei neue Einblicke in die jüdische Salonkultur und ihre Wirkungen auf die Reformdiskurse und zeigt vor allem auch die internationalen Verflechtungen der Debatten auf, die durch die Französische Revolution intensiviert wurden. Marion Schulte widmet sich den Reformdiskussionen innerhalb der preußischen Ministerialbürokratie und unterscheidet dabei zwei Phasen. Während im ausgehenden 18. Jahrhundert die rechtliche Gleichstellung erst nach einer „moralischen Verbesserung“ der Juden erfolgen sollte, von der die breite Masse aus Sicht der Beamten noch weit entfernt schien, setzte sich seit 1806, freilich vor allem aus wirtschaftlichen und fiskalischen Nützlichkeitserwägungen langsam die Meinung durch, dass eine partielle rechtliche Gleichstellung schon vor einer Assimilation erfolgen solle. Auch die stigmatisierenden Zuschreibungen wie die vom „schädlichen Nationalcharakter“ der Juden gingen deutlich zurück, wenngleich auch mit dem nun verwendeten Begriff des „eigentümlichen Nationalcharakters“ fortbestehende Restriktionen gerechtfertigt werden konnten.

Zwei Beiträge des Bandes widmen sich dem Vergleich der preußischen Emanzipationsgesetzgebung mit anderen deutschen Staaten und Frankreich. Daniel Gerson skizziert die Unterschiede zwischen dem bürokratischen Reformweg Preußens und der Judenemanzipation in Frankreich, die 1791 durch Parlamentsbeschluss und auf der Grundlage der Menschen- und Bürgerrechtserklärung von 1789 erfolgte und der Integration der jüdischen Minderheit in die neue bürgerliche Gesellschaft förderlicher war als der preußische Weg. Gleichwohl warnt Gerson zu Recht vor der Idealisierung der französischen Entwicklung, die – wie vor allem die Dreyfus-Affäre zeigen sollte – nicht reibungslos und gradlinig verlief. J. Friedrich Battenberg beleuchtet die Judenemanzipation in den hessischen Gebieten, die durch die Zugehörigkeit zum Rheinbund recht früh mit dem französischen Emanzipationsmodell konfrontiert wurden und in deren zum Königreich Westfalen gehörenden Teilen den Juden schon 1808 die volle Gleichberechtigung gewährt wurde. Der Blick auf die hessischen Staaten zeigt aber zugleich, wie kompliziert und langwierig die Judenemanzipation in Deutschland verlief, denn die gewährten Rechte wurden den Juden nach 1815 teilweise wieder entzogen, und es sollte bis in die 1860er-Jahre dauern, ehe der in Kassel oder Frankfurt schon einmal bestehende Zustand wieder erreicht wurde. Dass auch das preußische Edikt von 1812 für die Juden keineswegs all jene Wünsche erfüllte, die sie in der Reformzeit gehegt hatten, wird in den Beiträgen deutlich, die sich mit den Auswirkungen des Ediktes befassen. Die Reform des Jahres 1812 erwies sich schon deshalb nicht als der große Wurf, weil sie nach 1815 nicht auf die neu oder wieder erworbenen Gebiete des preußischen Staates ausgedehnt wurde. Ein einheitliches Judenrecht erhielt Preußen erst 1847, und selbst hier blieb die Provinz Posen ausgenommen. Hinzu kam, dass die Behörden auch dort, wo das Edikt von 1812 galt, es außerordentlich restriktiv auslegten. Über die bislang wenig untersuchte bürokratische Alltagspraxis der Staats- und städtischen Behörden informiert der Beitrag von Michal Szulc, der der konkreten Umsetzung der Verleihung des Staatsbürgerrechts an Juden in Westpreußen nachgeht. Die Ergebnisse sind in zweierlei Hinsicht bemerkenswert. Zum einen wird herausgearbeitet, wie restriktiv die von traditionellen Vorurteilen geprägte Beamtenschaft das Edikt von 1812 auslegte. Zum anderen belegt Szulc, dass über 200 jüdische Familien die ihnen nach dem Edikt zustehenden Rechte zunächst gar nicht beantragten.

Die restriktiven Aspekte des Ediktes von 1812 und seiner Umsetzung werden auch in den Beiträgen von Dietz Bering und Werner Treß deutlich, die sich mit der geforderten Annahme fester Familiennamen und dem Zugang zu akademischen Lehrämtern befassen. Auch wenn das Edikt den Weg zu akademischen Lehrämtern zu eröffnen schien, zeigen die von Treß untersuchten Beispiele, welche Hindernisse auch herausragenden jüdischen Wissenschaftlern den Weg zur Professur noch lange verwehrten. Ebenso wie auf den Universitäten blieben Juden auch im preußischen Militär Karrierewege letztlich verschlossen. Den Folgen der im Emanzipationsedikt festgeschriebenen, von der Forschung lange vernachlässigten Militärpflicht der Juden geht Christine G. Krüger in ihrem instruktiven Beitrag nach. Sie zeigt, welch enger Zusammenhang in den innerjüdischen Debatten zwischen der Militärpflicht und dem Anspruch auf Rechtsgleichheit gesehen wurde und wie die preußischen Juden im Krieg gegen Napoleon ihren preußischen Patriotismus unter Beweis stellten. Gleichwohl blieb ihnen der Weg in führende Militärpositionen verwehrt, und auch das Misstrauen der Mehrheitsgesellschaft gegenüber dem Patriotismus der Juden sollte bis ins zwanzigste Jahrhundert fortwirken, was allerdings nicht nur ein preußisches Phänomen war, sondern auch in Frankreich mit seinem ganz anderen Emanzipationsmodell der Fall war.

Es ist zweifellos eine besondere Stärke des vorgelegten Bandes, dass die Fortschritte, Grenzen und Rückschläge der Judenemanzipation immer wieder auch an Einzelbiographien erläutert werden, wie dies etwa Irene Diekmann und Bettina L. Götze in ihrem Beitrag über die in Rathenow und dann in Berlin ansässige Familie Lesser zeigen. Welche Probleme im Laufe des 19. Jahrhunderts für die Nachfahren der 1812 rechtlich gleichgestellten preußischen Juden aufkommen konnten, beschreibt Deborah Hertz am Beispiel einer Urenkelin von Saul Ascher, der der judenfeindlichen Propaganda der Reformzeit 1815 mit seiner Schrift „Germanomanie“ entgegengetreten war. Helene von Dönniges, die Tochter einer getauften Enkelin Aschers und eines Gelehrten und Diplomaten, wurde von der eigenen Familie die Ehe mit dem Juden Ferdinand Lassalle verweigert. Abgeschlossen wird der Band mit einem Beitrag von Thomas Brechenmacher, in der er den Stellenwert des preußischen Emanzipationsedikts in den Narrativen deutsch-jüdischer und anderer jüdischer Historiker differenziert nachzeichnet. Mit all dem gibt das Buch nicht nur einen guten Einblick in die Forschungen zur Geschichte der Judenemanzipation in Preußen, sondern vermittelt etwa durch den Blick auf die konkrete Umsetzung des Edikts von 1812 eine Fülle von Anregungen für weitere Untersuchungen.

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