J. Sémelin: Persécutions et entraides dans la France occupée

Cover
Titel
Persécutions et entraides dans la France occupée. Comment 75% des juifs en France ont échappé à la mort


Autor(en)
Sémelin, Jacques
Erschienen
Paris 2013: les arènes
Anzahl Seiten
912 S.
Preis
€ 29,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Susanne Beer, Centre Marc Bloch, Berlin

Die Geschichtsschreibung über Hilfeleistungen für Juden während des Holocaust erlebt seit einigen Jahren einen neuen Aufschwung. Hatte sich die Beschäftigung mit dem sogenannten Rettungswiderstand (Arno Lustiger) bis Mitte der 1990er-Jahre auf die Dokumentation einzelner Biographien konzentriert, sind in der jüngsten Zeit zunehmend Bestrebungen zu stärker theoretisierenden Überblicksdarstellungen zu beobachten.1 Parallel dazu werden die Überlebensstrategien jüdischer Verfolgter immer häufiger ins Blickfeld gerückt, um das Bild der vermeintlich passiven jüdischen Opfer zu korrigieren.2

Das neue Buch des französischen Historikers und Politikwissenschaftlers Jacques Sémelin reiht sich in diese Entwicklung ein. Ausgangspunkt des Buches ist die Feststellung, dass in Frankreich rund 75 Prozent der Juden den Holocaust überlebt haben: der höchste Prozentsatz in einem von den Deutschen dauerhaft militärisch besetzten und kontrollierten Land. Dieses Faktum ist in der Fachliteratur bereits seit Längerem bekannt, doch hat die französische Öffentlichkeit laut Sémelin davon bislang kaum Notiz genommen.3 Auch seien die Gründe für das Überleben der Juden in Frankreich bislang nicht hinreichend untersucht worden. Diese Lücke soll das vorliegende Buch nun schließen.

Jacques Sémelin gilt als ausgewiesener Experte auf dem Gebiet der Gewalt- und Widerstandsforschung. Er ist Professor an dem politikwissenschaftlichen Institut Science Po in Paris und Forscher am nationalen Forschungszentrum CNRS. 2005 publizierte er eine vergleichende Studie über Massaker und Völkermorde im 20. Jahrhundert, die in Deutschland unter dem Titel „Säubern und Vernichten“ erschienen ist. Dem folgte 2008 der mit Claire Andrieu und Sarah Gensburger herausgegebene Sammelband „La Résistance aux Génocide“, in dem eine Vielzahl neuerer Studien über Hilfeleistungen im Kontext des Holocaust und der Völkermorde in Armenien und Ruanda vorgestellt wird.4

Die Möglichkeiten des Widerstandes im Kontext eines Genozids untersucht Sémelin in seinem neuen Buch anhand der Geschichte des besetzten Frankreichs. Er kann hierfür auf eine Reihe von Vorarbeiten zurückgreifen, die in den vergangenen Jahren zum Thema jüdisches (Über-)Leben und Hilfeleistungen unter Vichy erschienen sind. Zudem stützt sich Sémelin auf eine Vielzahl autobiographischer Zeugnisse, etwa in Form von Tagebüchern, Erinnerungsberichten und Interviews. Bei der Auswahl der porträtierten Geschichten hat Sémelin auf ein angemessenes Verhältnis von französischen und ausländischen Juden geachtet, da sich die Lebensbedingungen und Überlebenschancen beider Gruppen deutlich unterschieden: Während geschätzte 40 Prozent der ausländischen Juden deportiert wurden, traf dies auf nur etwa zehn Prozent der französischen Juden zu (S. 845). Die Frage, warum die Bedingungen für beide Gruppen so verschieden waren, greift Sémelin im Laufe des Buches immer wieder auf.

Das Werk ist in fünf große Teile gegliedert, denen sich ein etwa 50-seitiges Fazit anschließt. Die ersten drei Teile konzentrieren sich auf die Reaktionsweisen der jüdischen Bevölkerung auf Kriegsniederlage und deutsche Besatzung. Unter dem Stichwort „La Dispersion“ beschreibt Sémelin zunächst die Flucht zahlreicher Juden in Richtung Südfrankreich, die mit einer breiteren Evakuierungsbewegung während des Kriegs verschmolz. Der zweite Teil widmet sich den Verfolgungserfahrungen und Anpassungsstrategien der Verfolgten in den Jahren von 1940 bis 1942. Eindrücklich beschreibt Sémelin hier das Schwanken zwischen dem Befolgen staatlicher Anweisungen und dem Versuch, sich der antisemitischen Gesetzgebung zu entziehen, etwa durch präventive Geldabhebungen, um der befürchteten Sperrung des Bankvermögens zuvorzukommen (S. 227). Der dritte Teil konzentriert sich dann auf die Überlebensstrategien im Kontext der Deportationen. Sémelin arbeitet heraus, dass die sogenannte „Rafle du Vél d’Hiv“ (die Festnahme von rund 13.000 Juden durch die französische Polizei am 16./17. Juli 1942 und ihre Internierung im Pariser Velodrom bis zu ihrer Deportation nach Auschwitz) für viele Juden ein Schlüsselmoment für die Entscheidung zum Untertauchen war (S. 123, 326). Das Versteck im Sinne einer lang andauernden räumlichen Isolation von der Außenwelt blieb insgesamt jedoch eher eine Ausnahme. Häufiger versuchten die Betroffenen die Spuren ihrer Herkunft zu verwischen, indem sie den Wohnort wechselten oder sich falsche Papiere beschafften (S. 353).

Der vierte und fünfte Teil des Buches beschäftigen sich schließlich mit den Hilfeleistungen für Juden durch Einzelpersonen und Organisationen. Sémelin thematisiert hier zunächst die Haltung der französischen Bevölkerung zur antisemitischen Gesetzgebung Vichys. Er widerspricht dabei dem amerikanischen Historiker Robert Paxton, der in den 1980er-Jahren die These eines eigenständigen französischen Antisemitismus vertreten hatte. Anders als Paxton interpretiert Sémelin die anfängliche Indifferenz der Bevölkerung jedoch nicht als Ausdruck von Zustimmung, sondern als Folge einer allgemeinen Desorientierung zu Kriegsbeginn. Spätestens im Sommer 1942 sei die Indifferenz in Solidarität und Mitgefühl umgeschlagen (S. 477). Für das spontane, wohlwollende Verhalten der nichtjüdischen Bevölkerung führt Sémelin den Begriff der „sozialen Reaktivität“ ein, den er von dem enger gefassten Begriff des „zivilen Widerstandes“ abgrenzt (S. 595ff.). Letzteren reserviert er für kollektive und organisierte Hilfsformen, um die sich der fünfte Teil seines Buches dreht.

Um einen Eindruck von den argumentativen Konturen des Buches zu vermitteln, möchte ich im Folgenden aus der Fülle des Materials drei Aspekte herausgreifen, die das Überleben der Juden in Frankreich erklären helfen. Erstens macht Sémelin deutlich, dass ein zentraler Faktor die Parzellierung des französischen Territoriums nach dem Waffenstillstand im Mai 1941 war. Die relative Autonomie der Südzone wurde auch nach der deutschen Besetzung dieses Gebietes im November 1942 aufrechterhalten, da Deutschland vom Funktionieren des französischen Verwaltungs- und Polizeiapparates abhängig war (S. 128). Parallel dazu bestand in Südwest-Frankreich seit Mai 1940 eine kleinere italienische Besatzungszone, die ab November 1942 bis zur Rhone ausgeweitet wurde und Städte wie Nizza und Grenoble umfasste. Da die Italiener sich weigerten, die Juden ihres Gebietes an die Deutschen auszuliefern, bot ihre Zone bis zur deutschen Besatzung im September 1943 einen wichtigen Schutz vor den Deportationen (S. 130ff.).

Ein zweiter Grund dafür, dass sich die Juden in Frankreich ihrer Verhaftung so erfolgreich entziehen konnten, hängt mit dem hellsichtigen Handeln jüdischer Organisationen zusammen. Sie reagierten auf die Deportationen mit gezielten Zerstreuungsaktionen, bei denen die in ihrer Obhut befindlichen Juden auf Gastfamilien, kirchliche Einrichtungen und in abgelegene Dörfer verteilt wurden (S. 675ff.). Von herausragender Bedeutung war zudem die Aktivität der amerikanischen Hilfsorganisation „Joint“ (American Jewish Joint Distribution Committee), die etwa sechs Millionen Dollar an jüdische Widerstandsorganisationen im besetzten Frankreich auszahlte und damit schätzungsweise 60 Prozent ihrer Finanzierung übernahm (S. 792).

Schließlich weist Sémelin auf die Rolle der französischen Staatsführung hin, die den Prozess der Exklusion und Vernichtung abgemildert habe. So schloss Vichy – trotz seiner antisemitischen Gesetzgebung – die Juden nicht von der staatlichen Sozialfürsorge aus, was zu der paradoxen Situation führte, dass Vichy die desaströsen Folgen der eigenen Politik durch Sozialmaßnahmen teilweise wieder auffing (S. 833). Diese Ambivalenz des Vichy-Regimes setzte sich auch im Kontext der Deportationen fort. Zwar beteiligte sich der französische Staat in beiden Zonen an der Verhaftung und Deportation von Juden, bemühte sich ab September 1942 jedoch um eine Begrenzung der Kollaboration. Den deutschen Besatzern fehlten dadurch die Kapazitäten, um die Deportationen von Herbst 1942 bis 1944 großflächig umzusetzen (S. 838ff.).

Jacques Sémelin hat ein facettenreiches und gut lesbares Buch geschrieben, das nicht nur für Spezialisten auf dem Gebiet der Rettungs- und Widerstandsforschung von Interesse sein wird, sondern für all jene, die sich für die Umsetzung des Holocaust und den Alltag von Jüdinnen und Juden im deutsch besetzten Frankreich interessieren. Kritisch angemerkt sei lediglich, dass durch den Umfang und die Komplexität der Ausführungen der rote Faden der Argumentation zuweilen aus den Augen zu geraten droht. Zudem dürfte Sémelins Versuch einer erinnerungspolitischen Intervention bei einigen Leser/inne/n zu Unbehagen führen. Denn Sémelin will mit seinem Buch nicht nur einen wissenschaftlichen Beitrag leisten, sondern explizit auch das nationale Selbstbild korrigieren, das durch Arbeiten zum französischen Antisemitismus und zur Kollaboration zu einseitig geprägt worden sei (S. 802ff.). Es ist Sémelins Studie zu wünschen, dass sich die potentiellen Leser/innen davon ebenso wenig abschrecken lassen wie vom Umfang dieses herausragenden Buches.

Anmerkungen:
1 Richtungweisend für diese Entwicklung war im deutschsprachigen Raum die von Wolfgang Benz u. a. herausgegebene siebenbändige Reihe „Solidarität und Hilfe für Juden während der NS-Zeit“, die zwischen 1996 und 2004 im Metropol-Verlag erschien. Zuletzt bemühte sich der (inzwischen verstorbene) Historiker Arno Lustiger um eine groß angelegte Überblicksdarstellung: ders., Rettungswiderstand. Über die Judenretter in Europa während der NS-Zeit, Göttingen 2011.
2 So zum Beispiel Bob Moore, Survivors. Jewish Self-Help and Rescue in Nazi-Occupied Western Europe, Oxford 2010; und Tanja von Fransecky, Flucht von Juden aus Deportationszügen in Frankreich, Belgien und den Niederlanden, Berlin 2014.
3 Siehe etwa André Kaspi, Les Juifs pendant l’Occupation, Paris 1991, S. 283–374.
4 Jacques Sémelin, Purifier et détruire. Usages politiques des massacres et génocides, Paris 2005. Claire Andrieu / Sarah Gensburger / Jacques Sémelin (Hrsg.), La Résistance aux génocides. De la pluralité des actes de sauvetage, Paris 2008.

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