D. Schenk: "Aufheben, was nicht vergessen werden darf"

Titel
"Aufheben, was nicht vergessen werden darf". Archive vom alten Europa bis zur digitalen Welt


Autor(en)
Schenk, Dietmar
Erschienen
Stuttgart 2013: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
273 S.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Cornelia Wenzel, Stiftung Archiv der deutschen Frauenbewegung, Kassel / Jürgen Bacia, Archiv für alternatives Schrifttum, Duisburg

"Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen."1 Christa Wolfs Eingangszeilen ihres Buches "Kindheitsmuster" kommen einem bei der Lektüre von Dietmar Schenks Buch unwillkürlich in den Sinn. Auch Archive haben eine Geschichte, sind etwas Gewordenes, durch Zeitläufte und Machtverhältnisse Geprägtes. Auch Archive tragen Vergangenheiten in sich, die ihre Stellung und ihre Aufgaben in der Gegenwart bedingen. Sie sind weder geschichtslos noch wertfrei, auch wenn dem der in der Profession beschworene Grundsatz der Neutralität entgegenzustehen scheint. Dietmar Schenk, Leiter des Archivs der Universität der Künste in Berlin, stellt die aus der Geschichte gewachsene Funktion von Archiven in bewundernswerter Dichte und Anschaulichkeit dar.

Der Begriff Archiv erlebt mit dem Aufstieg des digitalen Zeitalters eine Begriffserweiterung. Als Archive werden inzwischen alle gespeicherten Informationen auf Webseiten bezeichnet, die aus den in stetem Wandel begriffenen Newsseiten herausfallen – was aber nicht bedeutet, dass sie damit jene Form der Sicherung erfahren, die im herkömmlichen Sinne ein Archiv gewährleistet. Es handelt sich in der Regel vielmehr um mehr oder weniger sortierte Altablagen mit unbekanntem Verfallsdatum. Neben diesem der technischen Entwicklung geschuldeten Bedeutungswandel sind Archive aber auch innerhalb der Professionen "ins Gerede gekommen". Waren sie seit dem 19. Jahrhundert ein Kernbereich der Geschichtswissenschaft, so nehmen sich seit einiger Zeit auch die Kulturwissenschaften der Fragen nach der Funktion von Archiven an und kommen zu kritischen Einschätzungen. Erinnert sei an Bücher wie "Das Archiv brennt", herausgegeben von Georges Didi-Huberman oder "Der Geschmack des Archivs" von Arlette Farge. "Es ist an der Zeit", so Schenk, "dass die Archivistik in den vielstimmig gewordenen Debatten ums Archiv ihre Stimme erhebt." (S. 15), zumal er in der archivarischen Fachdiskussion einen Bedeutungsrückgang der Archivgeschichte und damit auch der aus ihr abgeleiteten Definitionen beobachtet. "Das früher noble Fachgebiet führt, verglichen mit seinen besseren Tagen, ein Schattendasein" (S. 16), notwendig sei hingegen "eine Einheit von Theorie, Geschichte und Kritik des Archivs" (S. 18, Hervorh. i.O.). Es ist also folgerichtig, dass der Autor der "Kleinen Theorie des Archivs" (2008)2 nun diesen Band zur Geschichte folgen lässt.

"Aufheben, was nicht vergessen werden darf" erzählt die Geschichte von Archiven mit dem Fokus auf ihre Funktion: Welchen "Herren" und welchem Zweck dienten und dienen sie? Entsprechend stehen politische Verhältnisse und strukturelle Gegebenheiten im Mittelpunkt des Interesses. Nach Einleitung und Begriffsdefinition wirft Schenk einen Blick auf Archive "im Dienst von Recht, Verwaltung und Geschäft", das heißt auf ihre Vorgeschichte in Mittelalter, Renaissance und Aufklärung. Die "Epochenschwelle" um 1800 führt in das "Zeitalter der historischen Bildung", das 20. Jahrhundert wird unter dem Titel "Zwischen Demokratie und Diktatur" behandelt. Ein Ausblick in die digitale Datenwelt 21. Jahrhunderts rundet den Band ab. Eingeschoben werden ein Exkurs zu Archiven im China der Kaiserzeit, mit dem der europäische Archivbegriff erhellend konterkariert wird, und zwei "Archivarische Interventionen", in denen Fragen zu vermeintlich geklärten Sachverhalten täglicher Archivpraxis aufgeworfen werden: Bewertung und Kassation einerseits und die feinen Unterschiede von Sammeln, Dokumentieren, Aufzeichnen andererseits. Im Anhang finden sich Orts-, Archiv- und Personenregister sowie ein ausführliches Literaturverzeichnis, das einen quellenreichen Überblick bietet.

Etwa bis zum 18. Jahrhundert hatten Archive die Aufgabe, Verträge zu verwalten, Rechte und Privilegien von Adel, Kirche und später auch der Städte festzuhalten. Jedes Kloster, Stift, Bistum und jedes Fürstenhaus bewahrte die eigenen "rechtserheblichen Dokumente" (S. 57). Durch die Zunahme der Schriftlichkeit seit dem hohen Mittelalter entstanden immer mehr Archive. Die Fürstenstaaten bewahrten die Registraturen ihrer Kanzleien und Behörden, hier entstand der Begriff des "Geheimen Archivs" – was bedeutet, dass diese Unterlagen nur dem jeweiligen Herrn zur Verfügung standen, als "schriftliche Waffe in der Hand des regierenden […] Hauses" (S. 69). Schon hier zeigt sich neben der Funktion des Archivs als neutrale "Vertragsablage" eine mögliche Funktionalisierung als Machtinstrument. Aber: "Die Sphäre des Geheimen ist nicht durch das Medium Akte oder die Institution Archiv vorgegeben, sondern resultiert aus den politisch-sozialen Verhältnissen." (ebd.).

In einer erhellenden und durchaus aktuellen Passage setzt Schenk sich mit Urkundenfälschungen auseinander. Es ist kein Spezifikum der Gegenwart, "sich einfach auf das zu verlassen, was andere mitteilen" und "auf eine nähere Überprüfung zu verzichten" (S. 72) – ein erstaunliches Verhalten, denn man war sich bereits im Mittelalter "des Umstands bewusst, dass es Fälschungen gab" (S. 74). Doch erst mit dem Aufstieg der modernen Naturwissenschaften im 17. Jahrhundert wurde es leichter, die Echtheit von Urkunden zu überprüfen. Dieses und viele weitere Beispiele, die Schenk bringt, zeigen, wie wichtig es ist, im Zweifelsfall auf die Originalurkunden – oder eben die gefälschten "Originale" – zurückgreifen zu können. Wichtig für Schenk ist in diesem Zusammenhang, und er bezieht sich hier auf Marc Bloch, die Möglichkeit, anhand von kritischem Quellenstudium die Wahrheit herausbekommen zu können.

Um 1800 setzte im Selbstverständnis und in der gesellschaftlichen Bedeutung der Archive ein weitreichender Wandel ein. Durch die Auflösung der Kleinstaaten im Laufe des 19. Jahrhunderts entstanden größere Archive mit anderem Charakter: Im "Zeitalter der historischen Bildung" wurde die Freiheit der Wissenschaft postuliert, nun war auch die wissenschaftliche Einsichtnahme in historische Quellen vorgesehen. Die Geschichtswissenschaft löste sich aus der Bindung an Recht, Theologie und Philosophie, eine Kultur des Bewahrens und die Vorstellung des für alle zugänglichen historischen Archivs entstanden. Die Archive gingen aus den Händen der Juristen in die Hände der Historiker über. Seither wird die Kompetenz- und Machtfrage nicht mehr von Königen und Fürsten gestellt, sondern von Archivar/innen und Wissenschaftler/innen. Doch wichtige Fragen blieben: Wer legt fest, was überliefert wird? Was ist archiv- und damit geschichtswürdig, was ist verzichtbar? Wer bestimmt den Kanon?

Ganz offensichtlich hat die archivische Überlieferungsbildung auch in bürgerlichen Gesellschaften ihre Tücken, und es wurden irreparable Fehlentscheidungen getroffen, die zum massenhaften Verlust authentischer zeitgeschichtlicher Dokumente geführt haben. Im Mitteleuropa des 20. Jahrhunderts kamen drastische Probleme hinzu: Archive wurden von Diktaturen missbraucht – und Archive konnten Menschen in Gefahr bringen. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurden in Deutschland massenhaft „Ariernachweise“ gebraucht. Die meisten Archive stellten sich „bedenkenlos in den Dienst der Rassenpolitik“, indem sie „entsprechende personenbezogene Auskünfte“ erteilten (S. 150). Umgekehrt versuchten diktatorische Regime, wenn sie ins Wanken gerieten, belastende Akten zu vernichten. In der zusammenbrechenden DDR waren es aufgebrachte Volksmassen, die die Vernichtung der Stasi-Akten verhinderten. Diese „revolutionäre Archiv-Rettung“ in der DDR ist kein Einzelfall; Schenk sieht generell beim Sieg über Diktaturen, ob im mittleren und östlichen Europa seit 1989, beim Ende der Apartheid in Südafrika 1994, beim Zusammenbruch von Diktaturen in Lateinamerika oder jüngst in Ägypten, wo 2011 Demonstrant/innen die Geheimdienstzentrale besetzten, das Bedürfnis der Bevölkerung, sich mit dem geschehenen Unrecht zu beschäftigen, und „ohne Archive fehlen die Voraussetzungen, sich mit diesen drängenden Problemen fundiert auseinander[]setzen“ zu können (S. 157f.). Schenks Fazit: „Der Zugang zu archivischem Wissen [ist] in einer modernen Demokratie“, insbesondere „für die Betroffenen der jeweiligen Aktenführung“, unabdingbar; der Stellenwert von Archiven „beim Auf- und Ausbau zivilgesellschaftlicher Strukturen [ist] heute offenkundig“ (S. 162).

Konsequenterweise setzt sich Schenk in einem eigenen Kapitel mit Archiv-Gemeinschaften und Gemeinschafts-Archiven, international als Community Archives bekannt, auseinander. Gemeint sind damit soziale Bewegungen, ethnische Minderheiten, politische Gruppen oder „Gemeinschaften, die nicht nur Objekte der Verwaltung anderer sein wollen“, sondern sich eigene Archive aufbauen (S. 169). Am Beispiel der Jungferninseln schildert er, wie deren Bewohner sich ihr historisches Gedächtnis bewahrten, obwohl die Kolonialherren alle archivischen Quellen abtransportiert hatten (S. 165 ff)3. Auch Beispiele aus der Zeit des Nationalsozialismus zeigen, wie notwendig es ist, eine Gegenüberlieferung zu den behördlichen Quellen zu bilden, weil oft erst dadurch ein authentisches Bild der “Verbrechen des Regimes und seiner Schergen” (S. 171) möglich ist. Exemplarisch beschreibt Schenk dies anhand des Ringelblum-Archivs, das 1940 im Warschauer Ghetto entstand und durch das es heute möglich ist, "Geschichte aus der Perspektive derer zu vergegenwärtigen, die zum Tode verurteilt waren"4. Die Neuen Sozialen Bewegungen und ethnischen Minderheiten, die in der Bundesrepublik seit den 1970er Jahren entstanden sind und die im Laufe der Jahrzehnte eine eigene, ausdifferenzierte Archivlandschaft hervorgebracht haben, erwähnt er leider nur kurz mit dem Hinweis, dass sich auch hier "Archive aus eigener Initiative " formiert haben (S. 169).

Schenks Buch zeigt den rasanten Wandel, dem Archive im Laufe der Jahrhunderte unterlagen, und fragt abschließend noch einmal nach dem Selbstverständnis von Archiven und den sie gestaltenden Personen. Wie muss Überlieferungsbildung aussehen, wenn sie einer demokratischen Zivilgesellschaft gerecht werden will? Was bedeutet es, wenn Archive nicht mehr „gehütet“, sondern „gestaltet“ werden? In welchem Ausmaß sind „archivarische Interventionen“ sinnvoll oder nötig, und was bedeuten sie für den Zustand des Archivs? Verliert eine aktiv gestaltete Überlieferung an Quellenwert? „Ist die Authentizität eines Archivs nicht umso geringer, je stärker die Archivare sich in die Überlieferungsbildung einmischen“, ein Archiv also „konstruieren“? Welche Macht haben Archivar/innen dadurch, dass sie entscheiden, welche Dokumente für die Nachwelt aufgehoben und welche kassiert werden? Schenk zweifelt nicht an, dass Archivar/innen im Laufe der Archivgeschichte von passiven Hüter/innen zu aktiven Gestalter/innen geworden sind; umso wichtiger sei es geworden, die Frage nach der „Ethik des Archivs“, und damit nach der Ethik der Archivar/innen zu stellen (S. 216). In Abgrenzung gegen eine Forderung von archivwissenschaftlicher Seite, die „falsche Bescheidenheit“ beim Festlegen der Inhalte von Archiven abzulegen, plädiert Schenk für eine Rückbesinnung auf die alte Tugend der Bescheidenheit: „Wir sind sie den Menschen schuldig, deren Tun und Leiden die Archivalien bezeugen“ (S. 217).

Hier schließt sich der Bogen zum Titel des Buches, der Walter Kempowskis kollektivem Tagebuch „Das Echolot“ entnommen ist. Das deutsche Wort „aufheben“, so Schenk, ist vielschichtig. In der Hegel’schen Dialektik bedeutet es „die Beendigung eines Zustandes“, doch hier interessiert Schenk die Bedeutung, dass man „etwas auf dem Boden Liegendes“ aufheben kann. Dazu muss man sich bücken. „Im übertragenen Sinne ist dieses Sich-Bücken eine Verbeugung: eine Geste der Demut, eine Bezeugung des Respekts vor dem, was auf elementare Weise aufgehoben zu werden verdient. […] Es ist schwer zu sagen, was aufgehoben werden soll, damit es möglich ist, das ‚Richtige’ oder ‚Wichtige’ zu erinnern. Wer kann sich eine Entscheidung darüber anmaßen?“ Klar ist nur eins: „ Je vielfältiger aber aufgehoben wird, umso differenzierter kann die Vergangenheit betrachtet werden“ (S. 212).

Anmerkungen:
1 Wolf, Christa, Kindheitsmuster, Frankfurt am Main, 1979, S. 11.
2 vgl. dazu: Martin Dinges: Rezension zu: Schenk, Dietmar: Kleine Theorie des Archivs. Stuttgart 2008, in: H-Soz-u-Kult, 18.03.2009, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2009-1-226>, (Zugriff am: 18.02.2014).
3 Bastian, Jeannette Allis: Owning Memory. How a Caribbean Community lost Its Archives and Found Its History, Connecticut / London, 2003.
4 Bergmann, Eleonora: "Ein Archiv der Opfer". In: Hering, Rainer/Schenk, Dietmar: "Wie mächtig sind Archive?", Hamburg, 2013, S. 121ff.

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