Greg Grandin u.a. (Hrsg.): The Guatemala Reader

Cover
Titel
The Guatemala Reader. History, Culture, Politics


Herausgeber
Grandin, Greg; Levenson, Deborah T.; Oglesby, Elizabeth
Reihe
Latin America Readers
Erschienen
Anzahl Seiten
663 S., 105 Abb.
Preis
€ 23,60
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christiane Berth, Universität Basel

Die Wahrnehmung Guatemalas war und ist von zwei Phänomenen dominiert: Tourismus und Terrorismus. Dies konstatieren Greg Grandin, Deborah T. Levenson und Elizabeth Oglesby in der Einleitung des Guatemala Readers; einer Publikation, die einem breiten Leserkreis eine Einführung in die Geschichte und Kultur Guatemalas geben soll. Bereits seit der guatemaltekischen Unabhängigkeit kombinierten ausländische Reisende in ihren Berichten das Bild der alten, vergangenen Maya-Kulturen mit dem Bild eines Landes, das es nie schaffte, die Kultur der Gewalt zu überwinden. Die Herausgeber wollen stattdessen die Gleichsetzung Guatemalas mit Rassismus und Gewalt vermeiden und ein differenzierteres Bild vermitteln; ein Bild, in dem auch das Alltagsleben der guatemaltekischen Bevölkerung ihren Platz hat sowie Kunst, Literatur, Kreativität und Vergnügen. Deshalb haben sie für den Reader ein breites Spektrum an Dokumenten ausgewählt und erstmals auf Englisch zugänglich gemacht: Gedichte, Fotografien und Rezepte wechseln sich ab mit Auszügen aus wissenschaftlichen Texten, Interviews sowie Dokumenten aus US-amerikanischen Archiven.

Der Reader gliedert sich in neun, weitgehend chronologisch geordnete Kapitel. Das Kapitel über die Kolonialzeit illustriert einige interessante Aspekte des Alltagslebens, so z.B. die Bedeutung der Schokolade. Wie die Historikerin Rebecca Earle unlängst in ihrer Publikation „The Body of the Conquistador“ gezeigt hat, dauerte es, bis die spanischen Kolonialherren bereit waren, sich auf die lokale Ernährung einzulassen, da sie als ungesund galt und vermeintlich die Gefahr einer Anpassung an die lokale Bevölkerung beinhaltete. Diese Wahrnehmung war stark von den Vorstellungen der humoralen Medizin beeinflusst.1 Im Falle der heißen Schokolade wurde der Widerstand gegen das Getränk erst Ende des 16. Jahrhunderts aufgegeben, wonach es sich zu einem Alltagsgetränk aller sozialen Schichten entwickelte. In dem ausgewählten Text der Historikerin Martha Few steht jedoch eine weitere Dimension im Zentrum: Schokolade als Symbol für weibliche Hexerei.

Andere Texte verdeutlichen das Fortleben kolonialer Traditionen bis in die Aktualität, wie im Falle der Eroberungstänze, die die Schlacht zwischen dem Eroberer Pedro de Alvarado und dem legendären Maya-K’iche‘ Krieger Tecún Umán nachstellen. Sein Bild ist in Guatemala omnipräsent und wird von ganz unterschiedlichen sozialen Gruppen vereinnahmt, wie die Anthropologin Irma Otzoy verdeutlicht: Das Militär sah in Tecún Umán einen nationalen Helden, wohingegen linksgerichtete Gedichte ihn als Symbol indigenen Widerstandes stilisierten. Seine nebulöse Geschichte vereinfachte es, eine indigene Figur zum Nationalhelden eines Staates zu deklarieren, der die indigene Bevölkerung als Menschen zweiter Klasse behandelte und unterdrückte. Dieser Widerspruch erschwert es den indigenen Bewegungen bis heute, sich zu Tecún Umán zu positionieren (S. 52).

Das Kapitel über die Phase nach der Unabhängigkeit trägt den Titel „A Caffeinated Modernism“, da die Ausbreitung der Kaffeewirtschaft prägend für die guatemaltekische Geschichte war. Es beschränkt sich jedoch keinesfalls auf den Kaffee, sondern beleuchtet wichtige Themen, die den Weg Guatemalas in die Moderne charakterisierten, wie die besondere Spielart des Nationalismus: Während in Mexiko und anderen lateinamerikanischen Staaten die „Mestizaje“ gefeiert wurde, also die Vermischung zwischen spanischen und indigenen Einflüssen, setzte sich in Guatemala der Begriff „Ladino“ durch. Seit der Regierungszeit von Präsident Barrios im 19. Jahrhundert bezieht sich „Ladino“ auf alle nicht-indigenen Guatemalteken, wie der Historiker Severo Martínez Peláez in seinem Text über den Bedeutungswandel des Begriffes erläutert. Trotz seiner Konzentration auf eine europäisch geprägte Identität integrierte der guatemaltekische Nationalismus immer wieder Elemente indigener Kulturen, wie Arturo Taracena Arriola anhand der Marimba-Musik nachweist. Bis ins 19. Jahrhundert meist von indigenen Gemeinden praktiziert, begann der Aufstieg der Marimba in die offizielle Kultur des Landes, als das Instrument an die chromatische Tonleiter angepasst wurde. Einen wesentlichen Beitrag dazu leistete der Diktator Manuel Estrada Cabrera, der das Land von 1898 bis 1920 regierte. Schließlich beinhaltet das Kapitel interessante Beiträge über die bisher wenig erforschte Phase der gesellschaftlichen Öffnung in den 1920er-Jahren, die mit der Diktatur Jorge Ubicos ein Ende fand.

Der Diktatur Ubicos folgte die „Dekade des Frühlings“: 1944 stürzte eine breite soziale Bewegung den Diktator und machte den Weg für eine soziale Reformpolitik frei. Die ausgewählten Texte verdeutlichen die vielschichtigen Motivationen von Guatemalteken, sich der Bewegung anzuschließen und zeigen ihre Visionen für ein neues Guatemala. Das Ende der „Dekade des Frühlings“ 1954 hatte Auswirkungen auf den lateinamerikanischen Kontinent und die interamerikanischen Beziehungen: Der von der CIA initiierte Putsch, der als „Operation PBSUCCESS“ in die Geschichte einging, gilt als klassisches Beispiel für den Machtmissbrauch der USA in der Hemisphäre. Um den Putsch zu legitimieren, legte die US-amerikanische Entwicklungspolitik danach ein Schwergewicht auf Guatemala: Das Land galt nun als „showcase“, der den Erfolg des US-amerikanischen Modells beweisen sollte.2 Diesen wichtigen Einflussfaktor thematisieren die ausgewählten Beiträge allerdings nur wenig. Stattdessen charakterisieren die Herausgeber Guatemala als ein „Laboratorium der Repression“ (S. 199). Von den USA ausgebildete Todesschwadronen entführten und ermordeten 1966 mehr als 30 Oppositionsführer. Diese „Operación Limpieza“ markierte den Beginn der Praxis des „Verschwindenlassens“ in Lateinamerika, die später von anderen Militärdiktaturen fortgeführt wurde.

Das fünfte Kapitel „Roads to Revolution“ stellt die Opposition gegen die Militärregierungen ins Zentrum, sei es durch Guerilla-Gruppen, das Comité de Unidad Campesina (CUC) und indigene Proteste. Letztere illustriert der Beitrag der Historikerin Betsy Konefal über die indigenen Schönheitsköniginnen. Deren folkloristische Inszenierung diente dem Regime zu touristischen Zwecken, doch nach dem Massaker an der indigenen Bevölkerung in Panzós 1978 ließen sich die Proteste nicht mehr übertünchen: Es häuften sich offizielle Präsentationen, bei denen Schönheitsköniginnen ihre Stimme gegen die Repression erhoben. Durch die vielen biographischen Porträts und Interviews mit wichtigen Akteuren lassen die Herausgeber ein lebendiges Bild der Protestkultur entstehen. Dagegen beleuchtet das sechste Kapitel „Intent to Destroy“, die staatliche Repression, die seit Anfang der 1980er-Jahre ein neues Ausmaß annahm. Das siebte Kapitel „An Unsettled Peace“ gibt einen Ausblick auf die Situation nach Ende des Bürgerkriegs 1996: den wachsenden Einfluss der Drogenmafias, neue künstlerische Bewegungen, die Aufarbeitung der Vergangenheit und die Entdeckung des Polizeiarchivs. Das lange verschollen geglaubte Archiv wurde 2005 entdeckt. Es umfasst Millionen von Dokumenten zur Geschichte der Polizei, der Menschenrechtsverletzungen und der Repression zwischen 1870 und 1997, die inzwischen erschlossen und digitalisiert sind.3

Das letzte Kapitel „The Sixth Century“ (gemeint ist das sechste Jahrhundert nach der spanischen Eroberung) ist das heterogenste Kapitel von allen: Es behandelt die Aktivitäten evangelikaler Gruppen, die Maquila-Industrie, die Bedeutung von Fast Food, die Konflikte über genveränderte Maissorten, die Migration in die USA, sowie die Situation der Lesben- und Schwulenbewegung. Vielleicht ist dies das Kapitel, das den Anspruch am besten einlöst, einen Blick auf den guatemaltekischen Alltag zu werfen. Denn trotz aller guten Vorsätze dominiert besonders in den Kapiteln 5 und 6 das Thema der Gewalt und Repression. Der Ausblick der Herausgeber ist pessimistisch: „Much has not changed in Guatemala“ resümieren sie den Streifzug durch die guatemaltekische Geschichte (S. 548). Armut, ungleiche Landverteilung und Ausbeutung durch ausländische Konzerne seien als Konstanten geblieben, wobei die sozialen Bewegungen trotzdem Anlass zur Hoffnung böten.

Den Herausgebern ist es mit dem Reader gelungen, ein differenziertes Bild Guatemalas zu zeichnen, das die Neugier weckt und für zahlreiche Überraschungen sorgt. Jedes Dokument ist mit einer kurzen Einführung versehen, die ein gutes Verständnis ermöglicht. Einziger Wermutstropfen ist, dass Entstehungsdatum und genaue Quellen erst mühsam im Anhang recherchiert werden müssen.

Anmerkungen:
1 Rebecca Earle, The Body of the Conquistador. Food, Race and the Colonial Experience in Spanish America, 1492–1700, New York, 2012.
2 Stephen M. Streeter, The Failure of ‘Liberal Developmentalism’. The United States’s Anti-Communist Showcase in Guatemala, 1954-1960, in: The International History Review 21 (1999), S. 386–413.
3 Die digitalisierten Dokumente sind durch ein Kooperationsprojekt mit der University of Texas, Austin online einsehbar: <https://ahpn.lib.utexas.edu/> (11.06.2014).