Cover
Titel
Nazi Soundscapes. Sound, Technology and Urban Space in Germany, 1933–1945


Autor(en)
Birdsall, Carolyn
Erschienen
Anzahl Seiten
272 S.
Preis
€ 39,37
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Blanck, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit vergangenen und gegenwärtigen Klangwirklichkeiten kann nicht mehr als Nischendisziplin gelten – ganz im Gegenteil: Die Sound Studies prosperieren. Zuletzt haben vor allem zahlreiche, stark interdisziplinär ausgerichtete Sammelbände dazu beigetragen, dieses Forschungsfeld theoretisch zu erschließen.1 Grundkonsens all dieser Veröffentlichungen ist eine Kritik der great divide theory (Mark Smith), der Annahme also, dass die Moderne den Übergang von einer primär oral-auditiven hin zu einer schriftlich-visuell dominierten Kultur bedeutete. Darüber hinaus erwiesen sich Zielsetzungen und Methoden jedoch oft als disparat, was nicht zuletzt an der Bandbreite der wissenschaftlichen Sozialisationen vieler Klangforscherinnen und Klangforscher liegt. Umso erfrischender ist es, dass nun mit dem Buch der in Amsterdam lehrenden australischen Historikerin und Medienwissenschaftlerin Carolyn Birdsall eine weitere Studie vorliegt, die sich den Phänomenen Klang und Hören in dezidiert historischer Perspektive nähert. Mit dem Nationalsozialismus nimmt das Buch zudem einen Zeitraum in den Blick, der in der Klanggeschichte – man glaubt es kaum – bislang unterrepräsentiert war.2 Dabei kann das Buch ohne Frage auf eine breite Forschungsliteratur zur nationalsozialistischen Propaganda sowie zur Stadt- und Mediengeschichte zurückgreifen.

Die große Stärke von Birdsalls Studie ist, dies sei vorangestellt, dass sie einerseits auf einem reflektiert konstruierten Theoriefundament ruht, andererseits die Historizität der Klänge und des Hörens stets an konkrete soziale Praktiken rückbindet und daraus ihr großes Erklärungspotenzial schöpft. Dass dies gelingt, liegt an einer überzeugenden Definition des Soundscape-Begriffes. Diesen beschreibt Birdsall zunächst im Rückgriff auf das semiotische Konzept R. Murray Schafers, erweitert ihn aber im Anschluss um eine phänomenologische Komponente (S. 26). Eine solche Herangehensweise ermöglicht ihr, Klang und Hören nicht nur als symbolische Ordnung, sondern auch als affektives und körperliches Phänomen zu untersuchen. Im Zentrum von Birdsalls Analyse der nationalsozialistischen Klanglandschaft steht der Zusammenhang zwischen staatlich gelenkter Klangproduktion, der Entwicklung individueller und kollektiver Hörtechniken sowie deren medialer Vermittlung im städtischen Raum. Insgesamt zeichnen die vier Kapitel Kontinuitätslinien aus der Weimarer Zeit bis in die Bundesrepublik nach und beschränken sich damit nicht auf den engen, im Titel angegebenen Untersuchungszeitraum von 1933 bis 1945. Dabei stützt sich die Arbeit auf eine breite Quellenbasis, die audiovisuelles Material, schriftliche Archivalien und einen kleinen Bestand an eigens erschlossenen Oral-History-Dokumenten umfasst. Dadurch, dass einmal nicht das politische Zentrum des Nationalsozialismus in Berlin, sondern Düsseldorf der Untersuchungsraum ist, vermeidet die Studie einen zu globalen Anspruch und stellt die Eigenheiten lokaler Klangregime in den Fokus.

Deutlich zeigt sich der Vorteil ihres Zugriffs im ersten Kapitel, in dem Birdsall die auditive Dimension der Gedenkfeiern für Leo Schlageter untersucht, der 1923 aufgrund seines militanten Kampfes gegen die Ruhrbesetzung hingerichtet wurde. Die Nationalsozialisten stilisierten Schlageter in den ersten Jahren des Regimes zum Prototyp des nationalen Kämpfers und neuen Menschen. Birdsall zeigt auf, welche Rolle akustische Ikonen bei der Institutionalisierung des Schlageter-Mythos spielten. So wurde beispielsweise der Klang der Gewehrschüsse bei Schlageters Exekution im Rahmen von Massenveranstaltungen nachgespielt und dann über das Radio medial weiterverbreitet. Über diese Form des ‚Reenactments‘ fand Schlageters Märtyrertod Eingang in das kollektive akustische Gedächtnis des Nationalsozialismus und konnte aufgerufen werden, um das nationale „Erwachen“ zu inszenieren (S. 54). Grundsätzlich theoretisiert Birdsall diese und ähnliche Klangereignisse mit dem Begriff der „affirmative resonance“, unter dem sie kollektive auditive Praktiken fasst, deren räumlicher Widerhall die politische Identität und Legitimation der Gruppe stärkt (S. 34f.). Das akustische Propagandaregime in Form von Gedenkfeiern, Liedern und Radiosendungen, so Birdsalls These, funktionierte jedoch gerade in den ersten Jahren des Nationalsozialismus keineswegs reibungslos, sondern zeichnete sich durch ein hohes Maß an Trial-and-Error-Strategien aus (S. 28).

Grundlagen des zweiten Kapitels bilden Michail Bachtins Konzept des Karnevalismus sowie Jacques Attalis Lärmtheorie, die beide Lachen bzw. Lärm als subversive und gegen die Norm gerichtete Phänomene interpretieren. Indem Birdsall die Veränderungen des rheinischen Karnevals ab 1933 untersucht, stellt sie diese Sichtweise auf den Kopf: Das ausgelassene Singen, Lärmen und Lachen in der „fünften Jahreszeit“ verschwand zwar nicht als solches, doch es verlor seinen antiautoritären Charakter und wurde nationalistisch umgedeutet – aus der Narrengemeinschaft wurde die Volksgemeinschaft (S. 95). Auch wenn gerade Bachtin bisweilen zum überstrapazierten Theorieklassiker avanciert, gelingt mit der These einer festivalisation des Alltags im Nationalsozialismus eine interessante Relektüre. So schlägt Birdsall den Bogen von einem „de-festivalisierten“ Alltagsleben in der Weimarer Republik (S. 77) über den zunehmend von chauvinistischen, kolonialen, rassistischen und antisemitischen Ressentiments geprägten Karneval bis hin zu den Novemberpogromen 1938 (S. 96f.).

Im dritten Kapitel steht die akustische Ordnung in Düsseldorf während des Zweiten Weltkriegs im Mittelpunkt. Die These einer „imagined listening community“ (S. 109) schließt dabei an Benedict Anderson an. So seien das von staatlicher Seite forcierte und überwachte Radiohören, die Warnsirenen bei Luftangriffen oder der gezielte Einsatz von Mundpropaganda Teil eines akustischen Disziplinarregimes gewesen, das über den Erhalt der Volksgemeinschaft wachte. Akustische Signale produzierten laut Birdsall stadträumliche Ordnungen, wobei diese mit zunehmender Kriegsdauer immer schwieriger aufrechtzuerhalten waren: Als nach einem verheerenden Bombenangriff auf Düsseldorf Lautsprecherwagen zur Erbauung Arien aus der Zauberflöte abspielten, wurde die Diskrepanz zwischen unmittelbarer urbaner Kriegserfahrung und offizieller akustischer Propaganda offenbar (S. 128).

Im vierten und letzten Abschnitt des Buchs problematisiert Birdsall die musikalische Aneignung des Wagnerschen Begriffs vom Gesamtkunstwerk in den Filmen Walther Ruttmanns, womit sich der thematische Fokus auf die (multi-)mediale Ebene des Klangs verschiebt. Während die Musik in Ruttmanns Berlin – Symphonie einer Großstadt (1927) noch kontrapunktische Wirkung erzielte, so hier die These, habe sie im Kleinen Film einer großen Stadt (1935) eine rein illustrative Funktion erfüllt und damit im Dienst einer ‚totalen‘ Machtästhetik gestanden (S. 156). Durch die Kontrolle der räumlichen, auditiven und visuellen Dimension wurde schließlich auch der Kinobesuch zu einem performativen Gesamtkunstwerk, das als synästhetisches „Event“ die Volksgemeinschaft beschwor (S. 163).

Insgesamt überzeugt die Studie, weil sie nicht den Fehler macht, aus einem rein theoretischen Ansatz heraus die Klanglandschaft des Nationalsozialismus als monolithisch darzustellen. Vielmehr verweist Birdsall stets auf die Brüchigkeit der Klangregime und jene individuellen und kollektiven auditiven Praktiken, die mit diesem konkurrierten. Zu kritisieren sind vereinzelte Redundanzen, die bei der übersichtlichen Länge des Buches überraschen. Dies mag daran liegen, dass Teile der Studie bereits vor Erscheinen in Zeitschriften und Sammelbänden publiziert worden sind. Eher knapp behandelt wird hingegen die spezifische Verbindung zwischen akustischer und körperlicher Gewalt – wenn man denn diese Unterscheidung überhaupt so treffen mag. Gerade angesichts eines nicht radikalkonstruktivistischen Verständnisses von Klang und Hören wäre hier stärker nach ‚gewalttätigen‘ auditiven Praktiken zu fragen. Einschränkend ist dabei zu sagen, dass die Sound History nicht den Anspruch haben kann, die Geschichte des Nationalsozialismus neu zu schreiben und damit gezwungen ist, sich auf bestimmte Aspekte zu konzentrieren. Doch ebenso wenig darf sie sich als reine Komplementärgeschichte verstehen. Gerade angesichts des immer noch begrenzten Stammes an Referenztexten und großer methodischer Vielfalt ist es deswegen umso begrüßenswerter, dass mit Birdsalls Buch eine theoretisch reflektierte, quellenbasierte und gut lesbare Studie vorliegt, die aufzeigt, welches Potenzial in der Analyse vergangener Klangwirklichkeiten liegt.

Anmerkungen:
1 Vgl. Trevor Pinch / Karin Bijsterveld (Hrsg.), The Oxford Handbook of Sound Studies, Oxford 2012; vgl. die Rezension von Daniel Morat, in: H-Soz-u-Kult, 09.11.2012, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2012-4-121> (05.04.2014); Jonathan Sterne (Hrsg.), The Sound Studies Reader, London 2012.
2 Vgl. exemplarisch als weitere historische Studien Emily Thompson, The Soundscape of Modernity. Architectural Acoustics and the Culture of Listening in America 1900–1933, Cambridge 2004; Mark M. Smith., Listening to Nineteenth-Century America, Chapel Hill 2001; Alain Corbin, Die Sprache der Glocken. Ländliche Gefühlskultur und symbolische Ordnung im Frankreich des 19. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1995.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension