P. Martzavou u.a. (Hrsg.): Epigraphical Approaches

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Titel
Epigraphical Approaches to the Post-Classical Polis. Fourth Century BC to Second Century AD


Herausgeber
Martzavou, Paraskevi; Papazarkadas, Nikolaos
Reihe
Oxford Studies in Ancient Documents
Erschienen
Anzahl Seiten
XX, 370 S.
Preis
£95.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sven Günther, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld

Die nachklassische, gegen Ende des 4. Jahrhunderts v.Chr. „hellenistisch“ getaufte Poliskultur hat schon seit einiger Zeit das Interesse der Forschung auf sich gezogen. Namentlich im DFG-Schwerpunktprogramm 1209 „Die hellenistische Polis als Lebensform. Urbane Strukturen und bürgerliche Identität zwischen Tradition und Wandel“ in den Jahren 2006 bis 20121, aber auch in vielen Einzelpublikationen wurde der älteren Ansicht eines Niedergangs der Poliskultur spätestens mit dem Ende des Peloponnesischen Krieges entgegengearbeitet und auf die Kontinuität der Polis als Lebenswelt, obgleich mit gewandelten Formen und Funktionen unter neu strukturierten Rahmenbedingungen, hingewiesen. Wesentliche Erkenntnisfortschritte brachte dabei die Auswertung des reichhaltigen, zum Teil schon lange bekannten, aber ob der einflussreichen Niedergangsthese weniger beachteten epigraphischen Materials. Hieran knüpft der vorliegende Sammelband an, der in 16 Beiträgen zentrale Dokumente betrachtet respektive aus Inschriften generierte Themenkomplexe anreißt, um, so die Herausgeber im Vorwort, „multiple directions in the study of the post-classical polis in its various economic, social, and even representational, real or imaginary, manifestations“ (S. 9) aufzuzeigen. Die Beiträge sind dabei in fünf Rubriken gruppiert; eine umfangreiche Gesamtbibliographie, ein Stellenregister sowie ein integraler Sach-, Orts-, Personen- und Wortindex machen den Band benutzerfreundlich.

Unter der ersten Rubrik „Poleis and Ruling Powers“ sind drei Beiträge versammelt: Miltiades B. Hatzopoulos diskutiert Lesevarianten der Pistiros-Inschrift (SEG XLIII 486), wobei er insbesondere die Rolle von Händlern aus Maroneia als privilegierte Gruppe herausarbeitet (S. 13–21). Peter Thonemann zeigt die Privilegierung der „Griechen“ durch Alexander III. anhand der wohlbekannten Inschrift aus Priene (I.Priene 1) auf, indem er insbesondere den Status der Griechen in Naulochon als dem der Bürger von Priene angeglichen durch seinen Ergänzungsvorschlag einsichtig zu machen vermag (S. 23–36). Jonathan R. W. Prag untersucht die Verwendung griechischer und lateinischer Termini für die Bewohner des antiken Siziliens, die eine ansonsten in der Antike nicht gebräuchliche geographische Identitätsauffassung widerspiegeln und damit nach der römischen Eroberung und Einrichtung als Provinz im Zuge des Ersten Punischen Krieges auch Rückwirkungen auf das Konzept einer „italischen“ Identität zeitigten (S. 37–53).

Mit „Poleis in Conflict“ wird ein Themenbereich betreten, der die intra- wie interstädtischen jurisdiktionellen Begebenheiten aufarbeitet. Die Rolle dritter Poleis als Schiedsrichter bei Streitigkeiten zwischen zwei Städten nimmt dabei Angelos P. Matthaiou anhand eines Dekrets aus Chios in den Blick (S. 57–68). Sein Zeilenkommentar und seine Übersetzung erhellen dabei die Beziehungen der Streitpartner Lamspakos und Parion sowie die Rolle der Chier, hätte aber durch ein Verknüpfen mit anderen Untersuchungen, etwa derjenigen Andreas V. Walsers2, eine bessere Kontextualisierung des Gesamtphänomens der Schiedsrichterrollen von Poleis ermöglicht. Den Einfluss römischer Rechtsauffassungen auf die Ausgestaltung lokaler Gerichtsbarkeit, insbesondere die im griechischen Bereich ungebräuchliche reiectio iudicum, analysiert im folgenden Georgy Kantor anhand einer erst jüngst edierten Inschrift aus Chersonesus Taurica (S. 69–86). Die jetzt wieder neu beachteten Beziehungen zwischen römischem „Reichs“-Recht und den jeweiligen „Lokal“-Rechten dürften weiterhin ein lohnendes Forschungsthema bleiben.3

In der Abteilung „The Social Economics of the Poleis“ untersuchen Angelos Chaniotis und Aneurin Ellis Evans in zwei Beiträgen die Institute der öffentlichen Spende bzw. der öffentlichen Anleihe zur Finanzierung städtischer Aufgaben, insbesondere unter performativen Aspekten (S. 89–106 u. 107–121). Aufgrund der Stellensammlungen von Léopold Migeotte4 und in Orientierung an der Kapitalsorten-Theorie Bordieus arbeiten sie die vielfältigen sozialen Beziehungsgeflechte und Netzwerke, aber auch die polisinternen Regelungsmaßnahmen für dieses Finanzierungsphänomen heraus. Ein Zusammenführen bzw. Abstimmen der beiden Beiträge untereinander hätte hier vielfältige Dopplungen und Überschneidungen vermeiden können.

Das in Inschriften stark vertretene Feld des Ehrungswesens bearbeiten vier Beiträge: Irene Salvo untersucht anhand von SEG XXX 1073 das Einwandern der römischen Gründungssaga von Romulus und Remus in die griechische Polis Chios, was mit dem politischen Bündnis im Kampf gegen Antiochus III. einherging (S. 125–137). Bezüglich der vieldiskutierten Frage nach dem Charakter der in der Inschrift beschriebenen Votivgabe stellt sie sich auf die Seite der Befürworter einer künstlerischen Bildwiedergabe des Geburtsmythos statt einer „historischen“ Nacherzählung in Form einer zweiten (Votiv)Inschrift. William Slater weist in seiner Untersuchung zur Rückkehr siegreicher Athleten in deren Poleis einerseits eine Kategorisierung der Spiele in der römischen Kaiserzeit, insbesondere durch kaiserliche Herauf- oder Herabstufung, nach, zeigt andererseits aber auch, dass diese Kategorien, insbesondere das Institut der „Eiselasis“, in hellenistischer, also vorrömischer Zeit noch nicht ausgeprägt waren bzw. einen gänzlich anderen Charakter aufwiesen (S. 139–163). John Ma widmet seine Aufmerksamkeit den in spätklassischer Zeit vermehrt auftretenden „privaten“ Ehrenstatuen (S. 165–179), die er als Ausdruck eines sich wandelnden, aber weiterhin miteinander korrespondierenden Verhältnisses zwischen Polis und Individuum auffasst. Für das bislang wenig beachtete kykladische Siphnos stellt Nikolaos Papazarkadas sechs fragmentarische Ehreninschriften in Editio princeps vor, um damit die Erforschung des politischen Charakters dieser Inselpolis anzustoßen (S. 181–198).

Der letzte Themenbereich widmet sich in fünf Beiträgen dem insgesamt sehr disparaten Komplex „Institutions, Ethics, Religion“: Georgia E. Malouchou ruft in ihrem Beitrag zwei nicht in die Inscriptiones Graecae aufgenommene attische Inschriften, erstmals ediert von Kyriakos S. Pittakes in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in Erinnerung (S. 201–215); eine verloren geglaubte, mittlerweile vor der Drucklegung noch wiederentdeckte (siehe Addendum) Phialai-Inschrift, die das Corpus der Inschriften in der radikalen Neuinterpretation von Elizabeth A. Meyer hinsichtlich des Rechtsschutzes für Metöken in Athen ergänzt5, sowie einen horos als Pfandstein. Nigel M. Kennell macht auf die unterschiedliche Verwendung des Begriffs neoi, einmal als übergreifende Sammelbezeichnung für die Gruppen innerhalb des Gymnasion, einmal als Gegenbegriff zu den jüngeren Epheben, aufmerksam (S. 217–232), und arbeitet deren Aufgabenspektrum und Rolle als Verteidiger, aber auch als potentielle Umstürzler der Polisordnung heraus. Das von der nachklassischen Polis, insbesondere in Asia Minor, immer mehr beeinflusste und am Ideal der Blütezeit ausgerichtete Erziehungsideal steht bei Benjamin D. Gray im Mittelpunkt der Betrachtungen zu diesbezüglichen Ehreninschriften (S. 233–253).

Sofia Kravaritou legt anhand zweier Inschriften aus der Nachbarschaft von Demetrias, nämlich aus Glaphyrai und Iolkos, eindrücklich dar, wie der von Demetrios Poliorketes initiierte und von dessen Sohn Antigonos II. Gonatas vollendete Synoikismos in der Errichtung eines gemeinsamen Kultes für die jeweils lokalen Gründungsheroen und die beiden makedonischen Herrscher als archegetai und ktistai mündete (S. 255–275). Albert Schachter und Fabienne Marchand erweitern schlussendlich das Spektrum der bekannten böotischen Thespiai-Inschriften um sechs fragmentarische Zeugnisse, unter anderem mit einer lateinisch-griechischen Bilingue aus domitianischer Zeit (S. 277–299).

Summa summarum bietet der Band einen wertvollen Steinbruch für die wesentlichen, momentan in der Diskussion stehenden Themenkomplexe hellenistischer Polisgeschichte. Daraus Gesamtbilder, insbesondere für die Übergangsphase im 4. Jahrhundert v.Chr. sowie für die Periode seit dem Eintreten Roms als Macht- und Herrschaftsfaktor, zu entwickeln, steht nun als nächste Herkules-Aufgabe dringend an.

Anmerkungen:
1 Vgl. dazu die Homepage mit den jeweiligen Forschungsbereichen und -ergebnissen unter: <http://www.poliskultur.de/> (02.01.2014).
2 Andreas V. Walser, Bauern und Zinsnehmer. Politik, Recht und Wirtschaft im frühhellenistischen Ephesos, München 2008, bes. S. 258–272.
3 Vgl. dazu auch die anregende Studie von Clifford Ando, Law, Language, and Empire in the Roman Tradition, Philadelphia 2011.
4 Léopold Migeotte, L’emprunt public dans les cités grecques. Recueil des documents et analyse critique, Québec 1984; ders., Les souscriptions publiques dans les cités grecques, Génève 1992.
5 Elizabeth A. Meyer, Metics and the Athenian Phialai-Inscriptions. A Study in Athenian Epigraphy and Law, Wiesbaden 2010.

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