I. Bandhauer-Schöffmann u.a. (Hrsg.): Linksterrorismus

Cover
Titel
Der Linksterrorismus der 1970er-Jahre und die Ordnung der Geschlechter.


Herausgeber
Bandhauer-Schöffmann, Irene; van Laak, Dirk
Reihe
Giessen Contributions to the Study of Culture 9
Anzahl Seiten
286 S.
Preis
€ 31,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kerstin R. Wolff, Bibliothek und Studienzentrum, Stiftung Archiv der deutschen Frauenbewegung Kassel

Im Januar 2010 fand an der Universität Gießen eine Tagung statt, die neue Fragestellungen zum Linksterrorismus ausloten wollte. Die Veranstaltung stand unter dem Titel: „Ein Exzess der Befreiung der Frau? Terrorismus, Geschlecht und Gesellschaft in den 1970er-Jahren in transnationaler und interdisziplinärer Perspektive“. Nun sind die Tagungsbeiträge als neunter Band der Reihe „Giessen Contributions to the Study of Culture“ erschienen.

Sylvia Schraut fragt nach den langen historischen Linien von Terrorismusbildern, Deutungsversuchen und Geschlechterstereotypen. Am Beispiel der „Terror-Mädchen“ – so der von der Bildzeitung in den 1970er-Jahren gebräuchliche Terminus für Terroristinnen, der sich in abgeschwächter Form auch in heutiger Berichterstattung zum ehemaligen RAF-Mitglied Verena Becker findet1 –, weist die Autorin auf das Bild der friedfertigen und unpolitischen Frau hin, das die bürgerliche Epoche begleitete und dessen Überschreitung in den 1970er-Jahren durch die aktiven Terroristinnen besonders auffiel und diskursiv verhandelt wurde. Neben dieser langlebigen Geschlechterzuschreibung auf weiblicher Seite macht Schraut auch auf ein langlebiges Stereotyp auf der männlichen Seite aufmerksam, das Bild des Märtyrers. Bei der Lektüre der Berichterstattung über den Terrorismus der 1970er-Jahre kann Schraut zeigen, dass diese geschlechtlich geprägten Stereotypen bis heute wirkmächtig sind und daher eine „traditionskritische, von überlieferten Genderstereotypen freie Analyse“ verhindert wird.

Die Beiträge von Hanno Balz, Clare Bielby, Vojin Saša Vukadinović, Gisela Diewald-Kerkmann und Patricia Melzer wenden sich verschiedenen Aspekten der Wahrnehmung von weiblichen Terroristen zu. Hanno Balz vergleicht in seinem Artikel die mediale Darstellung der bundesdeutschen RAF und der US-amerikanischen „Weather Underground“ in Bezug auf tradierte Weiblichkeitsmythen und Interpretationsmuster. Er untersucht das „Terroristinnenbild“ in der BILD-Zeitung und zeigt, wie stark dieses sexuell aufgeladen ist. Beim Vergleich mit den US-Medien stellt der Autor fest, dass die starke Sexualisierung der weiblichen Terroristen in der BRD-Presse keine Entsprechung in den US-Medien hat. Der Autor erklärt Unterschiede mit der zeitgleich agierenden Black-Panther-Bewegung in den USA, die sehr viel stärker in den Medien verhandelt wurde, als die ‚weiße‘ Weather Underground. Hier einen analytischen Schritt weiter zu gehen und die Verwobenheit und Konkurrenzen von Gender- und Racepolitiken in den USA zu reflektieren – wie Gabriele Dietze dies getan hat2– wäre hilfreich gewesen.

Bielby geht der Figur der ‚Nestbeschmutzerin‘ nach, wobei sie die Presseberichterstattung zu Ulrike Meinhof, Susanne Albrecht und Gudrun Ensslin nachzeichnet. Sie kann die wichtige Stellung von Frauen im staatlichen Gefüge nachweisen, die die Terroristinnen durch ihre Taten zu „beschmutzen“ schienen. Vojin Saša Vukadinović analysiert die staatliche Verfolgungspraxis gegen die Revolutionären Zellen (RZ) und deren Frauenabspaltung Rote Zora. Er stellt fest, dass die Mitglieder der Roten Zora, die als Terroristinnen verdächtigt wurden, allein wegen ihrer Geschlechtszugehörigkeit schärfer verfolgt wurden, als die antisemitisch agierenden RZ. Der Staat entdeckte im „Feminismus eine größere Gefahr als im Antisemitismus von links“ (S. 158). Diesem Befund scheint der Beitrag von Gisela Diewald-Kerkmann zu widersprechen, die sich primär auf Kriminal-, Ermittlungs- und Prozessakten stützt. Die Autorin fragt, wie die Strafverfolgungsbehörden und die Justiz den Weg von Männern und Frauen in die Illegalität deuteten und ob von einer Gleichbehandlung von weiblichen und männlichen RAF-Mitgliedern im Strafvollzug gesprochen werden kann. Die Autorin kommt zu dem überraschenden Ergebnis, dass in den Akten der Straf- und Justizbehörden die Geschlechterdifferenz eine kleine bis keine Rolle spielte. Einen ganz anderen Zugang wählt Patricia Melzer, die die Briefe der deutschen Terroristin Gabriele Kröcher-Tiedemann untersucht und fragt, wie sich die Gefangene mit Theorien und Schriften des Feminismus auseinander setzte. Melzer kann nachweisen, dass sich die Einstellung Kröcher-Tiedemanns zu Frauenbewegung und feministischen Ideen innerhalb von zehn Jahren grundsätzlich änderte: Von einer ablehnenden Haltung, in der Frauenbewegung als „konterrevolutionäre Selbstbefreiungsgruppe“ bezeichnet wurde, bis zur Einsicht, dass die patriarchalen Gesellschaftsstrukturen in jede Analyse einfließen müssten, verlief dieser Veränderungsprozess.

Die Artikel von Katharina Karcher, Irene Bandhauer-Schöffmann und Dominique Grisard wenden sich dem Geschlechterverhältnis bzw. der Geschlechterordnung zu. Karcher analysiert, ausgehend von Berichten über die Befreiung Andreas Baaders im Mai 1970, die unterschiedlichen ‚Gender-Performanzen‘, die die Beteiligten darboten. Dabei versteht die Autorin das bewusste Darstellen von Geschlechterrollen und Kleidernormen als eine Form von Camouflage. Spannend ist hierbei, dass die beteiligten Frauen dabei ihre Weiblichkeit als Tarnung einsetzten, während Männer auf militärische Kleidung zurückgriffen. Der Beitrag der Herausgeberin Irene Bandhauer-Schöffmann wendet sich den Hungerstreiks von TerroristInnen in österreichischen Gefängnissen zu (1977–79). Es handelte sich dabei um das deutsche RAF-Mitglied Waltraud Boock und die Österreicher Thomas Gratt, Othmar Keplinger und Reinhard Pitsch. Interessant ist die Instrumentalisierung der hungernden Körper durch die österreichische Presse, die die RAF-Gefangene Boock zu einer diäthaltenden, ‚richtigen Frau‘ umschrieb und die hungerstreikenden Männer zu verführten Buben verniedlichte. Dominique Grisard verweist in ihrem Artikel auf die Verschränkung von Geschlecht und Terrorismus auf einer strukturellen, symbolischen und personalen Ebene. Sie untersucht Schweizer Parlamentsdebatten und Eingaben von Schweizer BürgerInnen, die sich um die Sicherheit ihres Landes Sorgen machten. Sie kann zeigen, dass in den Parlamentsdebatten verschiedene Geschlechternarrative zum Ausdruck kamen, die aus der Schweiz eine weiblich imaginierte Nation machten, die durch eine Verschärfung der Terrorismusbekämpfung vor dem ‚Eindringen‘ eines als männlich gedachten Terroristen beschützt werden musste. Diese (Geschlechter)Ordnung wird auch in Privatbriefen deutlich. Diese wurden – mit Vorschlägen zur Terrorismusabwehr – von Schweizer Männern und wenigen Frauen an den Staatsapparat gerichtet. Dabei verstanden sich die Briefeschreiber als die Familie beschützende Staatsbürger, die qua ihrer Rolle das Recht hatten, darüber mitzubestimmen, wer im Innern und im Außen dazugehörte und wer als Staatsfeind abgewehrt werden müsste. Der Autorin gelingt es überzeugend nachzuweisen, dass die Schweiz auf die Kooperation mit den Bürgern setzte und dass hier die Bekämpfung des Linksterrorismus eine Regierungstechnik war, die bewusst den männlichen Staatsbürger aktiv als Mithandelnden einbezog.

Jan Henschen und Stefanie Pilzweger wenden sich den Männlichkeitskonstruktionen in der RAF zu. Haben sich geschlechtersensible Untersuchungen bisher vorzugsweise den Konstruktionen von Weiblichkeit und der von der Presse hochgehaltenen Idee einer pervertierten Frauenemanzipation gewidmet, wendet sich der Beitrag von Henschen dem Einfluss des Kinofilms auf die Männlichkeitskonstruktionen der RAF zu, während Pilzweger die Frage aufwirft, welche Selbstbilder führende RAF-Mitglieder propagierten und wie diese männlichen Bilder von der bürgerlichen Öffentlichkeit wahrgenommen wurden. Dabei kann sie die These von der starken Verknüpfung von Krieg und Militär als genuin männlich gedachtes Terrain für die theoretische Ausrichtung der RAF als Guerillaeinheit bestätigen. Dass diese Ausrichtung auf männliche ‚Tugenden‘ sich auch in die Öffentlichkeit vermittelten, zeigt die Presseauswertung der Autorin, die das Medienbild von Andreas Baader untersucht. Dabei werden zwei Erzählmuster deutlich. Einmal der Autonarr Baader, der viele große Autos fuhr, Frauen um sich scharte und ein reges heterosexuelles Sexualleben an den Tag legte und das andere mal Baader als verweichtlicht, feige, nervös und harmlos. Interessant wäre hier die Frage gewesen, ob beide Diskursstränge parallel verliefen oder ob der Virilitätsduktus durch den Effiminierungsdiskurs abgelöst wurde, als Baader im Gefängnis saß und die Medien mit verharmlosenden Beschreibungen des Terroristen seine Gefährlichkeit für den Staat in Frage stellen mussten.

Zum Abschluss stellen Till Knaudt und Wolfram Ette künstlerische Verarbeitungen des Linksterrorismus vor. Wolfram Ette plädiert dafür, das Stück von Heiner Müller „Die Hamletmaschine“ vor dem Hintergrund der RAF zu lesen, während Knaudt anhand eines deutschen und eines japanischen Kinofilms über Linksterrorismus die Darstellung von Geschlechtern und deren Verhältnisse vergleicht. Dabei kommt der Autor zu der Einschätzung, dass trotz RAF und Gewalteskalation die sexuelle Revolution und das Aufbrechen der herrschenden Geschlechterrollen in der BRD positiv erinnert wird, während in Japan die Sicht auf die gesellschaftliche Aufbruchzeit in den 1970er-Jahren deutlich negativer ausfällt. Fraglich bleibt, ob die Einschätzung, die sexuelle Befreiung sei für alle eine gewünschte Liberalisierung gewesen, an dieser Stelle nicht zu positiv ausfällt.

Der Sammelband ist ausgesprochen vielfältig, die Artikel gut zu lesen und meistens spannend geschrieben. Das Abstraktionsniveau und die Durchdringung des gewählten Themas ist unterschiedlich gut gelungen, manche Artikel bleiben zu stark auf einer deskriptiven Ebene und auch das Arbeiten mit der Analysekategorie Geschlecht ist bei einigen Aufsätzen besser gelungen als bei anderen. Trotzdem ist der Sammelband zu empfehlen, denn er kann zeigen, wie fruchtbar es ist, das Phänomen des Linksterrorismus zu „gendern“, was eben nicht heißt, hier lediglich die Rolle der Frau vorzustellen. Vielmehr geht es darum, die der Gesellschaft zugrundeliegenden Geschlechterordnungen innerhalb des Linksterrorismus aufzuspüren und somit die Verknüpfung von Staat und den ihn bekämpfenden Gruppen zu analysieren.

Anmerkungen:
1 So spricht ein Artikel aus der Süddeutschen Zeitung vom 1.10.2009 vom „Mädchen Verena“ und bezieht sich dabei auf das ehemalige RAF-Mitglied Verena Becker.
2 Gabriele Dietze, Weiße Frauen in Bewegung. Genealogien und Konkurrenzen von Race- und Genderpolitiken, Bielefeld 2012.

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