T. Scheer: "Minimale Kosten, absolut kein Blut"

Titel
"Minimale Kosten, absolut kein Blut". Österreich-Ungarns Präsenz im Sandžak von Novipazar (1879–1908)


Autor(en)
Scheer, Tamara
Reihe
Neue Forschungen zur ostmittel- und südosteuropäischen Geschichte 5
Erschienen
Frankfurt am Main 2013: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
282 S.
Preis
€ 54,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heike Karge, Universität Regensburg

Tamara Scheer behandelt in ihrer zweiten Monographie einen südosteuropäischen Mikrokosmos, die „Grenzregion und Peripherie“ (S. 18) in einem ist, nämlich den Sandžak von Plevlje. Zuvor war von ihr bereits in derselben Reihe (Neue Forschungen zur ostmittel- und südosteuropäischen Geschichte) die Studie Zwischen Front und Heimat. Österreich-Ungarns Militärverwaltungen im Ersten Weltkrieg1 erschienen. Im Jahre 1880 nach dem Einmarsch österreichisch-ungarischer Truppen (infolge des Berliner Vertrages 1878) gegründet, bildete der Sandžak von Plevlje den nördlichen Teil des (zeitgleich aufgelösten) alten Sandžak von Novi Pazar an der nordwestlichen Peripherie des Osmanischen Reiches. Der Sandžak stellte nicht nur eine bis 1912 zum Osmanischen Reich gehörende Pufferzone zwischen Serbien und Montenegro dar, sondern war zugleich auch Grenzgebiet zum 1878 von Österreich-Ungarn okkupierten Bosnien und Herzegowina (BiH). Hauptfunktion der k.u.k.-Präsenz war, aus österreichisch-ungarischer Sicht, „ein[en] Fuß in der Tür“ zu haben für den Fall, dass einer der oben genannten Nachbarstaaten eine territoriale Ausdehnung anvisieren würde (S. 240).

Tamara Scheers Ziel ist es, die „über dreißig Jahre währende Präsenz [Österreich-Ungarns] zu rekonstruieren“ (S. 238). Das gelingt ihr durch die Auswertung von primär im Österreichischen Staatsarchiv befindlichen Verwaltungsakten der österreichisch-ungarischen Militärpräsenz in ganz vortrefflicher Weise. Denn wie diese Präsenz im imperialen Grenzraum zu Ende des 19. Jahrhunderts ganz konkret aussah, lässt sich über diese Akten zumindest in Teilen recht anschaulich rekonstruieren. Das deutlichste Ergebnis ihrer Studie ist dabei wohl, dass die damals gängige politische Propaganda, in der von „christlicher Kulturmission“ auf der einen, und vom Sandžak als „Unruheherd“ auf der anderen Seite die Rede war, oft nichts mit den konkreten Erfahrungen der Menschen vor Ort zu tun hatte. Das Alltagsleben in diesen dreißig Jahren, im Neben- und Miteinander von osmanischen Behörden, muslimischer und orthodoxer lokaler Bevölkerung sowie österreichisch-ungarischer militärischer und (geduldeter) ziviler Präsenz war vielschichtiger, als diese Schlagworte vermuten lassen. Ein ebenfalls bemerkenswertes Ergebnis ist der Grad der Vernetzung und der Kooperation von k.u.k.-Behörden und osmanischer Verwaltung im Sandžak von Plevlje, die bis hin zu gemeinsamen Grenzwachen wie an der Brücke über den Fluss Lim bei Prijepolje reichten.

Die von 1878 bis 1908 währende österreichisch-ungarische Präsenz stellte dabei keine förmliche Besatzung dar, wie es in Bosnien und Herzegowina nach 1878 der Fall war. Stattdessen muss diese Präsenz als eine auf ganz anderen Rechtsgrundlagen fußende Militärmission in Friedenszeiten verstanden werden, bei der die entsendeten Truppen eher den Status eines Beobachters als einer aktiven Eingreiftruppe (S. 55) innehatten. Die Stärke der Militärmission übertraf zu keinem Zeitpunkt 3.000 Mann, die vor allem von ungarischen Regimentern der gemeinsamen Armee gestellt wurden.

Wo Scheer versucht, den Alltagsraum der k.u.k.-Truppen und ihrer Angehörigen sowie der lokalen Bevölkerung im Sandžak von Plevlje genauer unter die Lupe zu nehmen, stößt die Studie allerdings auch schnell an Grenzen. Quellenmaterial hat sich kaum erhalten. Das Wenige vorhandene allerdings zeugt in beeindruckender Weise davon, dass der Alltag viel weniger in permanenter Konfrontation als vielmehr in einem sich etwas argwöhnisch beäugenden Mit- und Nebeneinander verlief. Scheer nennt es einmal treffend eine „Zweckehe mit defensivem Charakter um die eigene territoriale Ausdehnung aufrechterhalten zu können“ (S. 244). Scheers Buch ist insofern eine Mikrostudie, die vor allem die Pragmatik des Zusammenlebens (oder eben des Nebeneinanderlebens) von Untertanen zweier Imperien, von Menschen unterschiedlicher Religion und Abstammung auf kleinsten Raum zeigt.

Interessant sind diesbezüglich die Ausführungen zum Bereich der medizinischen Versorgung. Scheer berichtet, dass das von Seiten Österreich-Ungarns eingerichtete Militärspital in Plevlje schon bald zu einem überregionalen Anziehungspunkt wurde, da hier alle – Kolonisatoren und Einheimische – kostenlos behandelt wurden. Dies entsprang allerdings weder einem philanthropischen noch einem missionarischen, sondern wiederum einem ausgesprochen pragmatischen Grund: Eine gesunde Bevölkerung war die Vorbedingung für eine Verminderung der Ansteckungs- und Erkrankungsgefahr für die eigenen Soldaten. Anders als in BiH kamen hier also keine organisierten Hygienemaßnahmen zur Anwendung, es existierte keine „strategisch geplante und durchgeführte Kulturpolitik“ (S. 137).

Eine Folge der Militärpräsenz bezeichnet Scheer als „Verdichtung der urbanen Strukturen“ im Sandžak (S. 220). Diese urbanen Strukturen durchleuchtet sie in verschiedenen Bereichen wie Verkehr, Freizeit, Arbeit und Wohnen und fragt dabei, ob all die getätigten Maßnahmen wie der Ausbau von Garnisonen, Häusern und Parks, all die Eingriffe in das Stadtbild (von Plevlje) ein Zeichen für Kulturimperialismus seien. Leider diskutiert Scheer diese spannende Frage in nur knapper theoretischer Ausführung, wobei sie einerseits argumentiert, dass im Verständnis des Historikers Michael Behnen das Handeln der Donaumonarchie im Sandžak durchaus als „informeller Imperialismus“ gedeutet werden müsste (S. 241). Andererseits gibt sie einschränkend zu bedenken, dass in ihrer Lesart der Quellen die österreichisch-ungarische Präsenz im Sandžak vor allem vom Primat des Pragmatischen geprägt war: das Agieren der Offiziersfrauen im öffentlichen Raum, das Betreiben von Bordellen und Gasthäusern, Ausritte und Sportaktivitäten der Offiziere – all diese nicht immer konfliktfrei verlaufenden Aktivitäten und Unternehmungen entsprangen, so Scheer, eher dem tagesaktuellen Bedürfnis nach mehr „Wohnlichkeit“ und eben nicht einem imperialistischen Ausgreifen in das Alltagsleben im als fremd empfundenen Sandžak (S. 240). In ihrer knapp gehaltenen Argumentation bleibt Spielraum für beide Interpretationen offen. Ein Indikator für auch langfristige Veränderungen des urbanen Raumes infolge der k.u.k.-Präsenz sind in jedem Falle die gestiegenen Einwohnerzahlen zwischen 1892 und 1911 in den drei Städten Plevlje (von 23.035 auf 31.560), Prijepolje und Priboj (zusammen von 16.344 auf 22.449). Ein imperialistisch motiviertes Agieren seitens der k.u.k.-Behörden belegen diese Zahlen allerdings noch nicht, und Scheers Studie scheint, bei aller Offenheit, hier eher Zweifel anzumelden.

In der untersuchten Zeit war der Sandžak weit weniger eine Unruheregion, als es dennoch oft in Reiseberichten damaliger Reisender kolportiert wurde. Das Unterkapitel zu „Gewalt und Konkurrenz im öffentlichen Raum“ belegt eindrücklich, dass die muslimische lokale Bevölkerung und die osmanische Verwaltung um ein gutes Auskommen mit den österreichisch-ungarischen Truppen bemüht waren. Zumindest bis 1908, denn im Zuge der nun einsetzenden jungtürkischen Revolutionswirren zeigte sich, wie verletzlich das Vertrauen auf den Pragmatismus auch der Gegenseite tatsächlich war. Die politischen Kämpfe innerhalb der osmanischen Hierarchie wirkten sich auch auf die periphere Region des Sandžak von Plevlje aus und verminderten das Gefühl von Sicherheit bei den k.u.k.-Truppen (S. 236). Der Abzug der k.u.k.-Truppen im Jahre 1908, im Zuge der Annexion Bosnien und Herzegowinas, sollte indes nicht zu einer Stärkung des osmanischen Reiches in dieser abgelegenen Region, sondern zu einem Erstarken der südslawischen Kräfte führen. Im Jahre 1912 wurde der Sandžak im Zuge des Ersten Balkankrieges zwischen Serbien und Montenegro aufgeteilt.

Das Buch weist an manchen Stellen Redundanzen auf, wohingegen die theoretische Einbettung der Fragestellungen knapp ausfällt. Aber dies schmälert kaum den Erkenntniswert dieser lokalen Studie über eine noch immer kaum bekannte, periphere Region im Osmanischen Reich, wo österreichisch-ungarische, südslawische und osmanische Interessen und Bevölkerungen über dreißig Jahre hinweg – relativ friedlich – aufeinandertrafen.

Anmerkung:
1 Tamara Scheer, Zwischen Front und Heimat. Österreich-Ungarns Militärverwaltungen im Ersten Weltkrieg (Neue Forschungen zur ostmittel- und südosteuropäischen Geschichte 2), Frankfurt am Main 2009.

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