: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. München 2013 : Deutsche Verlags-Anstalt, ISBN 978-3-421-04359-7 896 S. € 39,99

: The Sleepwalkers. How Europe Went to War in 1914. London 2013 : Allen Lane, ISBN 978-0-713-99942-6 697 S. £30.00 / € 23,63

Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Jost Dülffer, Historisches Seminar, Universität zu Köln

Die Debatte über Ursachen für und Schuld am Ersten Weltkrieg setzte bereits mit der Julikrise im Jahr 1914 ein. Darauf verweist Christopher Clark, Historiker an der Universität Cambridge, gleich zu Beginn seines Buches. Sie erreichte mit dem angeblich zentralen „Kriegsschuldartikel“ 231 des Versailler Vertrages gegenüber dem Deutschen Reich einen völkerrechtlichen Höhepunkt und bestimmte nachhaltig die europäische Politik. Wenn Politiker mal nach einer europäischen Befriedung suchten, wie etwa der britische Kriegspremier Lloyd George, fanden sie sich bereit, die allgemeine Schuld zu artikulieren („hineingeschlittert“). Das galt auch für die Anfänge der westeuropäischen Aussöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg. Insofern bedeutete es in der Tat einen geschichtspolitischen Paukenschlag, als Fritz Fischer 1961 mit „Griff nach der Weltmacht“1 quellengestützt dem Deutschen Reich eine nachhaltige Politik zum Kriege nachzuweisen suchte und später diese These immer weiter verschärfte, dabei aber auch weiterhin eine vergleichende Analyse forderte, die von ihm und seiner Schule nicht geleistet wurde. Nach den unbestreitbaren deutschen Verbrechen der NS-Zeit, wozu auch die „Entfesselung“ (Hofer) des Zweiten Weltkrieges zählte, warf dies tiefgreifende Fragen nach den Kontinuitäten deutscher Geschichte auf, die eine Generation von nicht nur deutschen Historikern umtrieb und die Geschichtskultur hierzulande zum Kritischen hin tief veränderte.

Dennoch stand die Frage nach den komparativen oder systemischen Ursachen des Krieges weiterhin im Raum. In zehntausenden Arbeiten wurde international, zum Teil sehr ausgewogen, daran geforscht. Nach Luigi Albertini (1942) waren es vor allem David Stevenson und David G. Herrmann, die zu dem Thema ausführlich Hervorragendes leisteten.2 Clark kennt all dies und noch viel mehr. In einer bewundernswerten Dichte hat er nicht nur einen großen Teil der Forschungsliteratur zur internationalen, aber auch je nationalen Situation in den europäischen Staaten herangezogen, sondern auch in Dutzenden Archiven, darunter in Belgrad und Den Haag Quellen gesichtet. Das macht ihm so schnell keiner nach und dies stellt eine Leistung sui generis dar. Seine Forderung, man müsse „die multilateralen Interaktionen von fünf autonomen, gleichwertigen Akteuren [oder sechs mit Italien…] berücksichtigen“ (S. 13) löst er in dem voluminösen Werk voll ein. So sucht er in den „Wirrwarr aus Versprechungen, Drohungen, Plänen und Prognosen“ Ordnung zu bringen. Es gelingt ihm, ein vielfältiges und multidimensionales Bild internationaler europäischer Politiker in Interaktion zu zeichnen.

Programmatisch setzt er im ersten Teil mit der serbischen Geschichte seit dem Beginn von Eigenstaatlichkeit im frühen 19. Jahrhundert ein, die in all ihren Facetten des politischen Systems, der latenten Gewalthaftigkeit und der Verquickung von Regierung und Terrorgruppen vor allem seit dem Jahr 1903 beschrieben wird. Visionärer Nationalismus und ethnische Realität klafften weit auseinander. Daneben steht ein weiteres Kapitel über die Strukturprobleme und Funktionsweise Österreich-Ungarns. Dann folgen im zweiten Teil vier große Kapitel, welche aus unterschiedlichen Blickwinkeln den „geteilten Kontinent“ seit etwa den 1880er-Jahren vorführen. Einen Höhepunkt bildet dabei das Kapitel über die personellen Strukturen bei den einzelnen Großmächten und eines über das je unterschiedliche, im Zeitablauf wechselnde Zusammenwirken so unterschiedlicher Größen wie Monarchie/Staatsspitze, Diplomatie, zivil-militärische Beziehungen und schließlich die amorphe Größe der Öffentlichkeit, hier vor allem als Medien verstanden. Diese knapp 300 Seiten entsprechen am ehesten herkömmlicher Geschichtsanalyse, zeigen sie doch auch, wie sich die Krisenszenarien in den ersten Jahren des Jahrhunderts änderten, kriegsanfälliger wurden. 1907 sei ein welthistorischer Umbruch gewesen; die Bosnienkrise 1908, der osmanisch-italienische Krieg 1911/12 und vor allem die beiden Balkankriegen 1912/13 verschärften das Klima weiter. Dann folgen im Teil Drei nochmals gut 250 Seiten, welche Tag für Tag der eigentlichen Julikrise vom Mord in Sarajewo bis zum allgemeinen Krieg nachspüren.

Die äußere Struktur bietet im Großen noch nichts Neues, wohl aber im Detail. Noch kein Historiker hat so dicht aus Archivquellen, Forschungsliteratur und späteren Selbstzeugnissen die „mental maps“ einer so großen Zahl an Akteuren ermittelt, die auch in den Staaten plural waren und sie dann in täglicher Interaktion gezeigt. Dabei werden auf allen Seiten waghalsige Annahmen, inkonsistentes Verhalten, „Umfallen“, Wegsehen etc. aufgezeigt. So geht es etwa auch am Rande einmal um Männlichkeitsrollen. Nur selten blitzt so in knapper Einordnung die profunde Kenntnis auch vieler einschlägiger methodischer Debatten auf.

Schuldzuweisungen sind nicht das Erkenntnisziel, obwohl sich Clark im Schluss auch dieser Frage stellt. Bei allen Mächten findet sich für ihn Versagen. Für Österreich-Ungarns Vorgehen gegen Serbien hat er aufgrund der bereits erwähnten Diskrepanz von expansivem Anspruch und ethnischer Realität großes Verständnis; auch die russische Unterstützung für Serbien sieht er kritischer als viele Historiker vor ihm. Die französische Weigerung, die Berechtigung Wiens für eine Strafaktion überhaupt anzuerkennen, markieren einen weiteren Akzent. „Alle Hauptakteure […] filterten das Weltgeschehen durch Narrative, die sich aus einzelnen Erfahrungen zusammensetzten“ (S. 712). Damit steht das Verstehen der subjektiven Motive, des nicht kohärenten Denkens und Agierens im Vordergrund, nur gelegentlich mit freundlicher Ironie gemildert. Kann das der einzige Maßstab der Historie sein? Clark spricht von objektiven Faktoren und arbeitet diese auch im Rande überzeugend heraus, was grundsätzlich ein schwierigeres Unterfangen ist. Selten fallen einmal die üblichen Floskeln nationaler Rechtfertigungen wie „musste“, „konnte nicht anders“ etc., welche – wie sonst oft – die subjektive Rationalität von Akteuren zu der des Historikers machen.

Generell konstatiert der Verfasser, dass es in allen Regierungen Kriegstreiber gab, findet jedoch auch, dass bis in die Julikrise hindurch bei allen beteiligten Mächten eine subjektive Komponente vorherrschte: Man selbst sei friedliebend, doch handele man unter von anderen Mächten gesetzten Zwängen, da diese auf einen Krieg zustrebten. Das galt nach Clark auch für die innere Kommunikation der Mächte – mit Ausnahme des Deutschen Reiches, in dem die Beteiligten eher militärisch argumentierten. Hier stellt sich aber gegen Clark die Frage nach der strukturellen Rolle des Deutschen Reiches in der Welt seit der Jahrhundertwende. Manche deutsche Kritiker haben schon in der Tradition Fischers darauf hingewiesen, dass in dieser Zeit ein mentaler Eigenweg beim Aufbruch zur Weltmacht einsetzte, dem unter anderem auch Heeres- und Flottenrüstung folgten. Diese Kriegsbereitschaft führte allerdings nicht zu mittelfristigen Kriegsabsichten, wie Clark unter anderem bei der Zurückweisung der These vom verschobenen Präventivkrieg im Dezember 1912 darlegt. Sorgen um die Kohärenz der eigenen, durchaus fragilen Bündnisse hemmten überall die Fähigkeit zur Entspannung – aber auch nicht ganz neu. Wirtschaftliche Rivalitäten, koloniale Ambitionen, das ganze Instrumentarium imperialer Rivalität kommen kaum vor, werden am Ende nur beim britisch-russischen Verhältnis als relevant erwähnt. James Joll hatte vor langem in einem auch heute noch lesenswerten Bändchen die „unspoken assumptions“ erörtert3, zu denen auch ein Denken vom „worst case“ her gehörte. Oder anders gesagt: wenn sich bei anderen neue militärische Fähigkeiten (capabilities) abzeichneten, wurde angenommen, dass der Gegner diese auch einzusetzen plante. Bei Clark stehen ganz überwiegend die outspoken assumptions im Vordergrund der Narration – die „objektiven Faktoren“ treten in den Hintergrund. In dieser Vernachlässigung des doch immer im Hintergrund mitzudenkenden Rahmens angesichts der konkreten täglichen Begründungszusammenhänge liegt die Grenze des Buches.

Clark hat einen Bestseller geschrieben. Nach einem enormen Erfolg der englischen Auflage ließ der deutsche Verlag 100.000 Exemplare drucken. Woran liegt das? Zum einen ist Clark mit seinen beiden großen Büchern über Preußen bzw. Wilhelm II. auch hierzulande ein bekannter und populärer Autor.4 Zum anderen profitiert das Buch von dem Medienhype um den Ersten Weltkrieg, und diesen Markt weiß Clark mit seinem flüssig, unprätentiös und doch empathisch geschriebenen Buch zu bedienen. Dies gilt für die deutsche Fassung ebenso wie für das englische Original. Die Leser können sich hervorragend in doch so andere Mentalitäten dieser Zeit einfühlen. Zudem ist vermutet worden, dass es auch die Schuldentlastung der Deutschen sei, die hierorts zum Erfolg beitrug. Das scheint allerdings wenig plausibel, denn der systemische Blick auf die Staatengesellschaft Europas und ihre Dynamiken darf mittlerweile als der internationale Standard der Zunft gelten. Gewiss steht die farbige, manchmal doch recht langatmige Erzählung im Vordergrund – aber auch diese ist je quellengestützt und ist zumeist im Rahmen bisheriger Forschung auch analytisch plausibel oder vertretbar. Wenn man es auf einen Punkt bringen will: Europa schlidderte nicht in den Ersten Weltkrieg hinein, sondern fast alle beteiligten Akteure trugen aktiv dazu bei, dass es so kam. Von den Dimensionen des Weltkrieges hätten sie zwar Vorstellungen haben können – aber sie schlafwandelten geradezu in ihn hinein. Das will der Titel Clarks andeuten. Dabei ist allerdings seltsam, dass Hermann Brochs gleichnamiger, seit 1930 erscheinender Romanzyklus5 nicht einmal Erwähnung findet, obgleich dieser doch genau den Verfall der traditionalen Gesellschaft zum Inhalt hat, den die Julikrise 1914 auslöste.

Anmerkungen:
1 Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18, Düsseldorf 1961.
2 Luigi Albertini, The Origins of the War of 1914, Oxford 1952–1957 (drei Bände; italienisch 1942); David Stevenson, Armaments and the Coming of War. Europe 1904–1914, Cambridge 1996; David G. Herrmann, The Arming of Europe and the Making of the First World War, Princeton 1966.
3 James Joll, 1914. The Unspoken Assumptions, London 1968.
4 Christopher Clark, Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600–1947, München 2007; ders., Wilhelm II. Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers, München 2008.
5 Hermann Broch, Die Schlafwandler, München 1930–1932; Frankfurt 1976 (drei Romane mit Zeitschnitten um 1888, 1903, 1918).

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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