H. Stenius u.a. (Hrsg.): Nordic Narratives of the Second World War

Titel
Nordic Narratives of the Second World War. National Historiographies Revisited


Herausgeber
Stenius, Henrik; Österberg, Mirja; Östling, Johan
Erschienen
Anzahl Seiten
176 S.
Preis
€ 35,43
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Norbert Götz, Södertörn University

In einem binationalen Masterkurs, den ich vor zwei Jahren gemeinsam mit einem Kollegen in Venedig hielt, schrieb eine der schwedischen Studentinnen im Entwurf ihrer Seminararbeit, dass “in Sweden the shame of our Nazi past” die Behandlung von Stereotypen und Geschichtsmythen zu einem heiklen Thema mache. Ich war, gelinde gesagt, überrascht. Wie konnte eine intelligente Studentin, die erfolgreich eine schwedische Schul- und Bachelorausbildung absolviert hatte, Schlussfolgerungen aus einem derartigen Geschichtsbild ziehen? Offenbar war die bereitwillige Unterstellung einer kollektiv zu verantwortenden NS-Geschichte und NS-Schuld Schwedens das Ergebnis einer Geschichtspolitik, wie sie in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten praktiziert worden ist. Um möglicher Verwirrung unter den italienischen Kommilitonen vorzubeugen (und der der schwedischen Studenten entgegenzuwirken), wies ich in der Diskussion des Papiers darauf hin, dass der Faschismus in der schwedischen Gesellschaft und Politik nie über seinen Außenseiterstatus hinausgekommen ist.

Im von Henrik Stenius, Mirja Österberg und Johan Östling herausgegebenen Sammelband „Nordic Narratives of the Second World War: National Historiographies Revisited“ geht es um die Ablösung des idealisierenden Geschichtsbilds über die Zeit des Zweiten Weltkriegs, wie es sich im Europa der Nachkriegszeit durchsetzte. Zentrale Protagonisten der herrschenden Perspektive waren der Widerstand als Speerspitze des breiten Volkswillens und mehr oder weniger geschickt ihren begrenzten Handlungsspielraum nutzende Regierungen. Nach 1989 formierte sich – zumindest im westlichen Europa – ein Selbstkritik einfordernder Diskurs, der die moralische Integrität dieser Sichtweise in Frage stellte. Der Perspektivwechsel war überfällig und notwendig. Doch wie das Beispiel der schwedischen Studentin zeigt und wie auch der vorliegende Band verschiedentlich andeutet, wurde nicht selten das Kind mit dem Bade ausgeschüttet.

Schuld ist chic – und für die Nachgeborenen preiswert zu haben. Gleichzeitig scheint mit dem Eingeständnis von Schuld und dem Propagieren einer höheren Moral mancherlei erreichbar: In Schweden demonstrierte Ministerpräsident Göran Persson seit Mitte der 1990er-Jahre, wie die Initiierung von Holocaustpropaganda und eines Forschungsprogramms zu nationalsozialistischen Verstrickungen des eigenen Landes einen wenig beliebten Machtpolitiker innenpolitisch mit dem moralischen Kapital eines Gutmenschen versehen konnte und außenpolitisch in das Kostüm eines Staatsmanns internationalen Formats hineinhievte. Der Beitrag zu Schweden nimmt den politischen Stoffwechsel des neuen Moralismus nicht genauer unter die Lupe und zeigt sich deshalb überrascht, dass Persson zu einem späteren Zeitpunkt unter veränderten politischen Bedingungen auf einmal wieder das traditionelle Hohelied der schwedischen Neutralität während des Zweiten Weltkriegs anstimmte.

Ein anderes Beispiel für die Instrumentalisierbarkeit der asynchronen und insofern weitgehend schmerzfrei zu übenden „Selbst“kritik ist der dänische Ministerpräsident Anders Fogh Rasmussen. Der heutige NATO-Generalsekretär sicherte seine militaristische Außenpolitik an der Seite der USA im Irak 2003 legitimatorisch über einen verbalen Frontalangriff auf das dänische Lavieren im Zweiten Weltkrieg ab. Uffe Østergård versteht dies in seinem Beitrag zu Dänemark als eine „populistische Wende“ und übersieht, dass das verallgemeinerte Wiederstandsnarrativ der Nachkriegszeit zu seiner Zeit selbst Populismus in Reinkultur war. Was er zu leisten gehabt hätte, wäre folglich eine Historisierung populistischer Perspektiven auf den Zweiten Weltkrieg gewesen. Stattdessen reproduziert er – als einziger Autor des vorliegenden Bandes in der herkömmlichen Lesart der Geschichte befangen – das altbekannte patriotische Geschichtsnarrativ. Der Feststellung, dass die Rettung der dänischen Juden sowohl dem Widerstandswillen der Bevölkerung als auch der Kollaborationspolitik der Regierung anzurechnen sei, folgt die Erklärung: „the policy of accommodation made it possible to delay the German action to such an extent that the will to resist in Denmark as well as the rest of Europe had increased“ (S. 51) – ein zirkuläres Argument. Der Verzicht einer selbständigen Analyse Østergaards wird auch dadurch nicht aufgewogen, dass er jeweils über mehrere Seiten Rasmussen und den dänischen Historiker Hans Kirchhoff zitiert. Statt einer unfertigen Überblicksdarstellung und Plattitüden vom Schlage „some Danish self-praise is justified“ (S. 49) hätte man vom ehemaligen Direktor des Kopenhagener Center for Holocaust and Genocide Studies einen reflektierten Ansatz und die Verortung der eigenen, noch aufzuarbeitenden Rolle in der Geschichtspolitik seines Landes erwartet.

Wie so oft in Sammelbänden, stehen auch im vorliegenden Beispiel Beiträge variierender Qualität nebeneinander; der von den Herausgebern ausgeworfene rote Faden wird in unterschiedlicher Weise aufgegriffen. Mehr noch als der Titel des Bandes stellt der einleitende Beitrag der Herausgeber den Paradigmenwechsel der nationalen Narrative zum Zweiten Weltkrieg nach 1989 ins Zentrum. Die „moralische Wende“ in der Sicht auf den Zweiten Weltkrieg und die Fokusierung auf den Holocaust nach dem Ende des Kalten Kriegs wird als eine „Americocentric“ Perspektive mit begrenzter Haltbarkeit verstanden. Zugleich scheint die Erleichterung der Herausgeber über das Aufbrechen der herkömmlichen patriotischen Interpretation des Zweiten Weltkriegs so groß, dass die gegenwärtigen Narrative zu den politisch-moralischen Verfehlungen dieser Zeit kaum mehr kritisch hinterfrag werden. Mit der Charakterisierung der Wende als universalistisch und demokratisch scheint diese, im Gegenteil, mehr als eine bloße Antithese der Nachkriegshistoriographie zu sein. Die Herausforderung läge jedoch gerade darin, gegenwärtige Tendenzen der Geschichtsschreibung und Geschichtsbilder des Zweiten Weltkriegs kritisch zu begleiten, ohne wie Østergård in die Apologie der überkommenen Geschichtsmythen der Nachkriegszeit zurückzufallen.

Henrik Meinanders Beitrag zu Finnland ist in dieser Hinsicht instruktiv. In seinem die Komplexität der finnischen politisch-historiographischen Situation aufarbeitenden Aufsatz werden die Thesen eines vom deutschen Krieg getrennten finnischen Feldzugs, von Finnland als Treibholz im von Großmächten bestimmten Geschehen oder von Finnland als eines geschickt gesteuerten Ruderboots wissenschaftlich distanziert diskutiert. Bemerkenswert sind in Finnland nationalistische und antisowjetische Parallelen zu baltischen und osteuropäischen Diskursen nach 1989 (wie auch entsprechende Parallelen in den nationalen Erfahrungshaushalten während des Zweiten Weltkriegs). Vor allem aber haben finnische Historiker im vergangenen Jahrzehnt die Verbindungen ihres Landes zum „Dritten Reich“ stärker ins Visier genommen – eine Entwicklung, die Meinander in anderen osteuropäischen Ländern vermisst. Das Problem, das er in der gegenwärtigen finnischen Geschichtsschreibung sieht, ist, dass sich diese in disparaten Mikrostudien zu erschöpfen drohe, die die Totalität des Zweiten Weltkriegs aus den Augen verlieren. Dass die modische amerikanisch-westeuropäische Fixierung auf den Holocaust eine ähnliche Begrenzung bedeuten könnte, klingt an. Von Universalismus ist bei Meinander insofern nur indirekt als ein Abwesendes die Rede; vielmehr sieht er die notwendige Dekonstruktion der nationalen Geschichtserzählung des Zweiten Weltkriegs in unzusammenhängende akademische Geschichtsfragmente münden. Allerdings dürfte dieser Befund seine Ursache auch darin haben, dass die nachwachsende Generation finnischer Historiker noch nicht radikal genug vorgegangen ist: In den vergangenen siebzig Jahren haben Fachvertreter aller wissenschaftlichen und politischen Schattierungen den irreführenden Begriff Fortsetzungskrieg für die finnisch–sowjetische Konfrontation der Jahre 1941–1944 verwenden (und auch international durchsetzen) können, ohne dass terminologische Alternativen angeboten oder nachgefragt worden wären. Nach dem wissenschaftlichen Ausrangieren der Separatkriegsthese steht die finnische Historikerzunft somit heute vor ihrer zweiten großen Herausforderung: Dem Ersetzen des chauvinistischen und entschuldigenden Terminus Fortsetzungskrieg (in dem zudem – genau betrachtet – die Separatkriegsthese konserviert ist) durch den sachgerechten Begriff Revanchekrieg. Erst wenn sie ihren nationalen Wortschatz von seiner Lebenslüge befreit, kann die finnische Geschichtsschreibung ihre Integrität vollends zurückgewinnen.

Wie Guðmundur Hálfdanarson in seinem Beitrag „The Beloved War“ zeigt, war das von den Alliierten aus strategischen Gründen besetzte Island ein vom Zweiten Weltkrieg wirtschaftlich und politisch profitierender Sonderfall. Die isländische Geschichtsschreibung zum Krieg ist dennoch begrenzt, da dessen Rolle als Katalysator der Unabhängigkeit des Landes sich nicht ins nationale Selbstbild einfügt. Ebenso interessant ist Synne Corrells Aufsatz zum gänzlich anders gelagerten Fall Norwegen; trotz einer Reihe von Kontroversen zum Zweiten Weltkrieg in den 1980er und 1990er Jahren diagnostiziert er ein bis heute vorherrschendes national geprägtes Geschichtsbild. Leider unterbleibt die wünschenswerte Fortschreibung der Studie ins 21. Jahrhundert.

Schließlich wird der schwedische Fall im Beitrag Johan Östlings anhand des Aufstiegs und Falls des Interpretationsrasters „Kleinstaatenrealismus“ analysiert. Dies ist ein aus der Lehre der internationalen Beziehungen entlehnter Terminus von aufschlußreicher Suggestivität, der auch auf die anderen nordischen Länder anwendbar gewesen wäre und dann – je nach geopolitischer Lage – anderes bedeutet hätte. Charakteristisch für Schweden ist der fließende Übergang des Kleinstaatenrealismus in einen „Kleinstaatenidealismus“, eine Möglichkeit, die sich aus der peripheren geopolitischen Lage und der schlußendlich erfolgreich aufrecht erhaltenen Neutralität ableitet. Die moralische Wende der schwedischen Geschichtsschreibung zum Zweiten Weltkrieg in den 1990er Jahren war wichtig und notwendig, doch – wie mir scheint – weniger hegemonisch und zugleich weniger unproblematisch als es in Östlings Perspektive deutlich wird.

Das abschließende Kapitel des Bandes, „Nordic Foundation Myths after 1945: A European Context“ ist von Bo Stråth verfasst. Europäisch wird hier ausschließlich als westeuropäisch verstanden, wobei insbesondere Deutschland, aber auch Frankreich und Italien als Referenzfälle herangezogen werden. Fraglich bleibt, inwieweit die deutsche Metapher von 1945 als „Stunde Null“ auf andere Länder und andere Zeiten (d.h. 1989) übertragbar ist. Der Verdienst des Aufsatzes liegt aber gerade darin, die Aufmerksamkeit von historischen Brüchen auf längerfristige, kontinuierliche intellektuelle Prozesse zu lenken. Dabei deutet Stråth Deutschland von einem häufig als Sonderweg bezeichneten Fall zu einem Modell um, dass „stands for an alternative view to those who discern sharp divides and interruptions of historical flows in 1945 or around 1990“ (S. 156). Insofern zeigt Stråth zu Recht auch für Deutschland, dass die Behauptung einer „Stunde Null“ in die Irre führt.

Alles in allem ist „Nordic Narratives of the Second World War“ ein wichtiges Buch, das eine Einführung in die historischen Narrativen des Zweiten Weltkriegs in den nordischen Ländern bietet. Dass es zur Diskussion anregt, ist nur zu begrüßen.

[Zuerst veröffentlicht in: Baltic Worlds 6,3 (2013), S. 51–52].

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