Titel
Weimar in Amerika. Leo Strauss' Politische Philosophie


Autor(en)
Steiner, Stephan
Reihe
Leo Baeck Institute: Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo-Baeck-Instituts 76
Erschienen
Tübingen 2013: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
306 S.
Preis
€ 59,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
D. Timothy Goering, Neuere Geschichte III, Ruhr-Universität Bochum

Leo Strauss nimmt in der Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts eine eigentümliche Stellung ein. Er war beispielsweise einer der wenigen, der Carl Schmitt heiter vorwarf, noch zu liberalistisch zu denken, und von dem Schmitt dann überraschend behauptete, keiner habe ihn besser verstanden als eben dieser Strauss. Als deutsch-jüdischer Philosoph musste Strauss in den späten 1930er-Jahren nach Amerika fliehen, wo er unvermutet großen Einfluss ausübte. Dort erlangte sein Name plötzlich neuen Ruhm, als er von den Anhängern der Regierung von George W. Bush als Geheimtipp für eine Irak-Strategie gehandelt wurde. Allein diese chronologische wie ideologische Spannbreite der Rezeption und des Einflusses seines Werkes demonstriert dessen starken Kontraste und unterschiedlichen Übersetzungsmöglichkeiten. Wie das ikonische Che Guevara-Bild scheint auch Strauss für alles Mögliche stehen zu können. Es ist daher bezeichnend, dass die Forschung ganz unterschiedliche „Straussians“ gezüchtet hat.

Der Philosoph Stephan Steiner will mit seiner Dissertation, die am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt entstanden und in der Schriftenreihe des Leo Baeck Instituts bei Mohr Siebeck erschienen ist, in die „Strauss-Wars“ eingreifen und einen eigenständigen Beitrag liefern. Seine Arbeit verfolgt dabei zwei Hauptziele: Zum einen möchte er die „weitreichende Kontinuität [Strauss'] Denkens im Übergang von Deutschland nach Amerika […] demonstrieren“ (S. 4) und zum anderen dem Denkweg von Strauss historisierend auf die Spur kommen. Es sollen Horizonte in mühsamer „historischer Wühlarbeit“ (S. 5) aufgedeckt werden, die jenseits der Autorintentionen den Schriften des Philosophen ihre Gestalt verliehen. An die Stelle einer hermeneutischen, philosophiegeschichtlichen Methode soll ein „historisierender Ansatz [treten], der nach Kontexten, Konstellationen und Netzwerken fragt“ (S. 5).

Dazu nimmt Steiner drei verschiedene, thematisch gegliederte Kontexte in Augenschein, die für Strauss' Philosophie besondere Relevanz haben: (1) Zuerst werden die religionsphilosophischen Aspekte Strauss' Denkens behandelt, und hier besonders die Präsenz von Friedrich Nietzsche in seinen frühen Schriften. Auch Strauss' Erfahrung als Jude und sein kritisches Verhältnis zum Zionismus werden detailreich berücksichtigt und auf religionsphilosophische Aspekte hin untersucht. Darüber hinaus werden seine kritischen aber auch zustimmenden Positionsbestimmungen zur Dialektischen Theologie diskutiert. In diesen Jahren, so kann man zusammenfassen, stemmten sich Strauss' Schriften einerseits gegen eine nachkantianische Gottesvorstellung, wie man sie bei Hermann Cohen vorfand, und andererseits gegen das erfahrungsbasierte Gottesverständnis, wie es vorgeblich Franz Rosenzweig propagierte. In seinen Auseinandersetzungen mit und Besprechungen über Rudolf Otto, Georg Wobbermin, Julius Guttmann und Friedrich Gogarten entfaltete Strauss, so Steiner, bereits in dieser frühen Zeit seine „lebenslange Kritik an den neuzeitlichen (europäischen) Wissenschaften“ (S. 77).

(2) Der zweite Teil der Arbeit widmet sich den Schwierigkeiten der von Leo Strauss geübten Historismuskritik und setzt mit einer sehr langen Analyse des kurzen Vortrags „German Nihilism“ ein, den Strauss im Jahr 1941 an der New School in New York City hielt. In diesem Vortrag gibt er sich, wie Steiner ausführlich darlegt, als Sympathisant der konservativen Revolution zu erkennen. Strauss nimmt zwar zum Ende seines Vortrages die moderne Zivilisation gegen Deutschland in Schutz, aber Steiner vermutet in diesen Abschlusspassagen lediglich einen „rhetorischen Zaubertrick“ (S. 127) und wittert hier alten Wein in neuen Schläuchen. Für ihn ist dieser Vortrag von einer „Suche nach einem tragfähigen Modell für seine philosophischen Grundüberzeugungen“ (S. 128) gekennzeichnet. Dabei gehe es Strauss mehr oder weniger darum, neue Begriffe für alte Überzeugungen zu finden. In der Folgezeit werde daher der Begriff des Nihilismus strategisch in den Hintergrund gerückt und durch den neutraleren Begriff des Historismus ersetzt, um sein altes Projekt, das aus der Weimarer Zeit stammt, weiter durchdenken zu können. So sieht Steiner Strauss' wohl bekanntestes Werk „Natural Right and History“ (1953) als mit dem Historismusbegriff auf die Debatten der Weimarer Republik zurückverweisend und zugleich auch „den Schlussstein des europäischen Strauss“ (S. 150) bildend. Dass „Natural Right and History“ auf die Weimarer Zeit zurückführt, dürfte kaum gänzlich überraschen, finden doch Ernst Troeltsch, Wilhelm Dilthey und natürlich Max Weber dort namentliche Erwähnung – Weber wird sogar ein ganzes Kapitel eingeräumt. Dennoch zeigt Steiner viele interessante Parallelen und Unterscheide zwischen Strauss und Troeltsch, die über den Text selbst hinausweisen.

Schließlich wird (3) die Rückkehr zur philosophischen Antike als Hauptmotiv von Strauss' Philosophie aufgezeigt. Wieder analysiert Steiner sehr detailliert einen Vortrag: „The Living Issues of German Postwar Philosophy“, den Strauss 1940 in New York hielt. Auch hier wird der Verarbeitungsprozess einer suchenden Positionsbestimmung durchleuchtet, die durch die Zäsur der Auswanderung forciert wurde. An dieser Stelle tritt ein bisher unveröffentlichter Briefwechsel zwischen Strauss und Hans-Georg Gadamer der 1930er-Jahre auf. Steiner bespricht aber leider nur elf Briefe von Strauss an Gadamer. Rätselhaft bleibt dabei, warum Steiner die Briefe, die Gadamer an Strauss richtete und die sich im Strauss-Nachlass befinden, nicht berücksichtigt hat. Gezeigt wird dennoch, dass Strauss' „von der Kulturkritik inspirierte Idee einer Rückkehr zur Antike […] sich als alles andere als ein solitäres Projekt“ (S. 193) zeige. Auch wenn Gadamer sich stark von Strauss abgrenzte, seien ihre Anliegen ähnlich und in den Problemlagen der Weimarer Republik verwurzelt. Mit einem Abschlusskapitel, welches in der Abgrenzung gegen die Wissenssoziologie einen Brennpunkt und eine Neujustierung von Strauss' philosophischem Denken der Weimarer Zeit sieht, schließt die Untersuchung.

Leider kann das Buch nicht alles einlösen, was Titel und Einleitung versprechen. Unklar bleibt zum Beispiel, welchen analytischen Mehrwert die Arbeit dadurch gewinnt, dass sie als „Transfergeschichte“ (S. 8 und S. 270) angekündigt wird. Die Analysekategorie des Transfers spielt kaum eine Rolle in der Durchführung der Arbeit. Zu unscharf wird auch das Ziel verfolgt, einen historisierenden Ansatz zu verfolgen. Leider geht deshalb der Versuch, neue historische Kontexte von Strauss' Philosophie zu finden, nicht immer auf. Ein Beispiel: Steiner kündigt an, dass das „Herzstück von Strauss' religionsphilosophischer Argumentation […] sein Verhältnis zur dialektischen Theologie“ (S. 19) bilde. Doch nach einigen Seiten stellt sich heraus, dass überhaupt keine Konstellation oder Netzwerk – weder persönlich noch akademisch – zwischen Strauss und der Dialektischen Theologie bestand. Es liegen keine Briefwechsel zwischen Strauss und einem der Dialektischen Theologen vor. Weder Karl Barth, Rudolf Bultmann, Eduard Thurneysen noch Friedrich Gogarten nahmen von den Schriften Strauss' Notiz. Die Dialektische Theologie als Strauss' „Gesprächspartner“ (S. 268) zu bezeichnen, scheint daher unnötig weit gegriffen.

Damit ist ein grundsätzlicher Kritikpunkt angesprochen: Eine angestrebte historisch-biographische Untersuchung, die nach konfigurativen Elementen des Gedankenaustauschs und tatsächlich bestehenden Netzwerken fragt, verwandelt sich beim genauen Lesen, wenn auch widerwillig, zu einer traditionellen Philosophiegeschichte, die sich von den Fragen leiten lässt, welche fremden Einflüsse sich im Denken eines Philosophen finden lassen und wann sich Kontinuitäten und Brüche im Denkweg markieren lassen. Es ist durchaus zu begrüßen, dass die Arbeit das „hermeneutische Modell der immanenten Textauslegung“ (S. 5) überwinden möchte – leider wird aber lediglich eine Textimmanenz durch eine andere ersetzt. Strauss' Texte werden vor dem Horizont anderer Texte gelesen, aber der Autor stößt nur selten von den Texten zu den Kontexten vor, vom singulären Autor zu Kommunikationsnetzwerken und zur biographischen Kontextualisierung. Die umfangreichen Leo Strauss Papers an der Universität Chicago, die der Arbeit eine tiefere historische und biographische Dimension hätte verleihen können, werden hierfür leider nur selten herangezogen.

Trotz dieser Kritik dürfen die positiven Aspekte der Arbeit nicht verschwiegen werden. Stephan Steiner hat eine lesenswerte philosophiegeschichtliche Studie zu Leo Strauss vorgelegt. Besonders positiv hervorzuheben ist der attraktive Stil und die effektive Durchführung der Arbeit, der es gelingt, komplexe Sachverhalte facettenreich und konzentriert zugleich zu analysieren.

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