H. Bublitz u.a. (Hrsg.): Automatismen – Selbst-Technologien

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Titel
Automatismen – Selbst-Technologien.


Herausgeber
Bublitz, Hannelore; Kaldrack, Irina; Röhle, Theo; Zeman, Mirna
Erschienen
Paderborn 2013: Wilhelm Fink Verlag
Anzahl Seiten
325 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Martin Karcher, Erziehungswissenschaft, Helmut-Schmidt-Universität Hamburg

Automatismen entziehen sich der bewussten Kontrolle; es gilt, sich sogar in manchem Fall vor ihnen in Acht zu nehmen: „Vorsicht! Türen schließen automatisch!“ Zugleich bergen sie ein utopisches Potential: Google steht kurz davor, das erste Automobil auf den Markt zu bringen, welches selbst blinde Passagiere automatisch durch den Straßenverkehr ans gewünschte Ziel bringen würde. Galt die Selbsttätigkeit vormals als spezifisch menschliche Qualität, lassen die Automaten an dieser Exklusivität Zweifel laut werden. Der hier zu besprechende Band leuchtet die „Schnittmengen zwischen Automatismen und Selbst-Technologien“ (S. 9) aus und fragt, wie dabei ein ‚Selbst‘ hervorgebracht wird. Die Melange von ‚Automatismen‘ und ‚Selbst-Technologien‘ liegt geradezu nah, verweist doch das griechische autós bereits auf das Selbst. Unter Automatismen werden hier „Strukturen, die den intentionalen Horizont der einzelnen Akteure überschreiten“ (S. 10) verstanden. Selbst-Technologien, auf der anderen Seite, werden weit gefasst. Zum einen als „Verfahren, die das Selbst formen“ (S. 13) und zum anderen als die Frage nach dem von Technologien ausgebildeten Selbst. Es ist dieses produktive Spannungsverhältnis, in dem die Beiträge zusammenfinden.

Fragen nach der Konstituierung von Subjekten erfreuen sich seit längerer Zeit einer Konjunktur, dieser Sammelband – soviel bereits vorweg – ist ein äußerst gewinnbringender Beitrag zum Thema. Der von Hannelore Bublitz, Irina Kaldrack, Theo Röhle und Mirna Zeman herausgegebene Band entstand größtenteils aus einer Fachtagung des Graduiertenkollegs „Automatismen – Strukturentstehung außerhalb geplanter Prozesse in Informationstechnik, Medien und Kultur“ der Universität Paderborn.1 Für die Buchfassung kamen nun weitere, ergänzende Beiträge, eine glänzende Einleitung und zwischen den thematischen Schwerpunktsetzungen sogenannte ‚Thesenbaukästen‘ hinzu. Die Publikation reiht sich in vorangegangene Arbeiten des Kollegs ein.2

Im Band versammeln sich Beiträge unterschiedlicher fachwissenschaftlicher Herkunft zu einem farbenfrohen Bouquet. Folglich reicht der thematische Variantenreichtum dann auch von Autismus über Cybernation bis zur Stabilität von Nationen. Deutlich wird dieser Facettenreichtum auch an der Zahl mobilisierter Referenzauthor/innen von Ashby bis Žižek. Die Beiträge wurden in drei Kapitel gruppiert, die jeweils durch Thesenbaukästen abgerundet werden.

Der vorangestellten (er-)kenntnisreichen Einleitung der Herausgeber/innen gelingt es, einen roten Faden für die nachfolgenden Beiträge zu spinnen. Ihr verdankt der mannigfaltige Band seine Kohärenz, da hier die Konturen des Forschungsprogramms aufgezeigt werden und der/m Leser/in notwendige und willkommene Orientierung geboten wird.

Eröffnet wird das erste Themenfeld ‚Selbst-Tätigkeit technischer Objekte‘ mit der Frage nach der Transformation des Humanen in der vollautomatisierten Fabrik. Birgt die vollständige maschinelle Automatisierung der Warenproduktion eine Trivialisierung des Menschen oder dessen Befreiung vom Zwang der trivialen Arbeit? Claus Pias und Jan Müggenburg gehen dem entstehenden „Unterdruck des Humanen“ (S. 66) in der Cybernation-Debatte der 1960er-Jahren nach. Dabei betrachten sie das Spannungsverhältnis von Bedrohung und Utopie: Entlang von drei Interventionen sprechen sich die Autoren gegen eine vorschnelle Gleichsetzung von Cybernation mit Kybernetik aus; es handle sich vielmehr um ein „Creative Misreading“ (S. 65) Letzterer durch Erstere.

Die strikte Unterscheidung von vitalistischer Biologie und mechanistischer Technologie wird im Horizont von lernenden Maschinen und biologischer Ko-Evolution zumindest schwieriger. Christoph Neubert kommt in seinem Beitrag „Selbstlos“, nach einer Auseinandersetzung mit Samuel Butler und Gabriel Tarde, mit der Akteur-Netzwerk-Theorie zum Schluss, dass „Technologien nicht autonom gedacht werden können“ (S. 98) und appelliert für „Heterotechnologien“. Die drei Karlsruher Informatiker/innen Irina Taranu, Sebastian Labitzke und Hannes Hartenstein schließen den ersten Teil mit einer Untersuchung zu technischen Möglichkeiten von Profiling im Internet. Die durch Datensammlung entstehende ‚digitale Identität‘ entzieht sich unweigerlich der Kontrolle der Nutzer/innen. Im ersten Thesenbaukasten wird dann anschließend von Timo Kaerlein die Beziehung von „Selbst-Verhältnis“ und „Verhaltensautomatismen“ mit Bezug auf mobile Medien ausgelotet sowie in einem zweiten Beitrag von Julius Othmer der Wirkungsweise von „medialen Repräsentationen“ auf „kollektive Automatismen“ nachgegangen.

Der zweite Teil des Bandes ‚Selbst-Verhältnisse, Selbst-Konstitution, Selbst-Reflexion‘ wird eingeleitet von Jens-Martin Loebels Selbstversuch „Privacy is Dead“: Fünf Jahre lang dokumentierte er via GPS seinen Standort und interessierte sich dabei für die „heikle Verquickung von Identität, Person und Mobiltelefon“ (S. 149). Welche Rückschlüsse auf die persönliche Lebensführung lassen sich durch das Bewegungsprofil – dem ‚localized Self‘ – ziehen? Im Anschluss ist dann Volker Peckhaus den „Automatismen auf der Spur“: er geht der „rationalistischen Vorstellung von der vollständigen Erfassbarkeit des Wissbaren“ (S. 165) und der Einsicht in die Grenzen eines solchen Vorhabens nach. Ausgangspunkt sind für ihn die drei Krisen-Schriften des 20. Jahrhunderts (Husserl, Adorno und Lyotard), deren Gemeinsamkeit Peckhaus darin sieht, „dass sie den aufgeklärten Rationalismus mit dem Streben nach Einheitlichkeit und Universalismus in Verbindung bringen“ (S. 172).

Doch die Krise der Selbstkonstruktionen ist nicht nur temporär, verwiesen doch bereits Descartes und Leibniz auf die Grenzen der Vernunftstätigkeit. Anil Jain spürt dann dem dialektischen Verhältnis von Automatismen zwischen Verunsicherung und Stabilisierung, Kontrolle und der Aufgabe von Kontrolle nach, und bietet abschließend Strategien gegen die „Maschinen der Deflexion“ (S. 190) an. Annette Runte wiederum schlägt über die ‚Wiederholung‘ eine Brücke zwischen „Automatismus und Autismus“. Es seien „stereotype Abläufe, [die] sich gleichsam bewusstlos und selbst gesteuert“ (S. 195) vollziehen. Eng anschließend an seine vorangegangenen Arbeiten zu erziehungswissenschaftlichen Studien der Kontrollgesellschaft wendet Ludwig Pongratz sich im nächsten Beitrag der „aktuelle[n] Bildungsreform als ‚gouvernementale Strategie‘“ (S. 221) zu. Zunächst grundiert er den Beitrag mit Überlegungen zur Reformpädagogik und dem aufkommenden pädagogischen Panoptismus (beispielsweise Stuhlkreis). Pongratz verdeutlicht seine Ausführungen im Hauptteil am Beispiel der ‚Trainingsraum-Methode‘: ein „Laboratorium der Selbst-Transformation oder Selbstregierung“ (S. 226).

Auch eine Bildstrecke lässt sich im Band finden: Youtube, iPad, myspace – Hartmut Winkler stellt eine Reihe von Firmenlogos zusammen und regt zur Frage an, wie das Selbst durch/in (visuelle/n) Medien adressiert wird. Der zweite Thesenbaukasten greift zahlreiche Gedanken der vorangegangenen Beiträge erneut auf und gewährt Einblicke in eine hoch interessante Theoriewerkstatt. Bublitz und Winkler gehen der Reflexion als Selbst-Technologie und Automatismus nach, Kristin Wenzels macht sich Gedanken zur ‚Leiblichkeit als Automatismus‘. Größere Zusammenhänge, die in den einzelnen Beiträgen vielleicht aus den Augen geraten, werden hier wieder eingeholt, Verbindungen werden aufgezeigt und vertieft und das Potential der Perspektivierung gut erkennbar. Deutlich wird ebenso, dass die Forscher/innengruppe zahlreiche aufkommende Fragen umsichtig antizipiert.

Das dritte Kapitel ‚Selbst-Organisation, Kollektive‘ leitet Christina Bartz prägnanter Beitrag „Die Masse und der Automat als Metapher und Modell“ ein. Sie betrachtet darin LeBons Klassiker der Massenpsychologie und kontrastiert diesen mit „Die einsame Masse“ von Riesman/Denney/Glazer. Ist der Automat für LeBon nur eine von vielen „wenig präzise[n] Metapher[n]“ (S. 268) für den Massenmenschen, gehen Riesman/Denney/Glazer in eine andere Richtung und lesen mit kybernetischen Anleihen den Menschen als informationsverarbeitende Maschine, dessen Steuerung in den Fokus gerät: „Subjektivierung wird dabei als ein Prozess der Selbststeuerung durch Informationsaufnahme und -verarbeitung verstanden“ (S. 272). Anschließend studiert Mirna Zeman in „Nation und Serialität“ Gruppenbildungsprozesse in einer spätmodernen, individualisierten und globalisierten Gesellschaft. Sie kommt mit Rückgriff auf Sartre zur spannenden These, dass „in der Spätmoderne der Automatismus des seriellen Warenkonsums zunehmend zum Vehikel nationaler Kollektivität“ (S. 277) avanciert. Den finalen Beitrag liefert schließlich Sebastian Vehlken, der eine schöne „Mediengeschichte jeweils neuester Befunde biologischer Schwarmforschungen seit 1900“ (S. 289) in drei Episoden darlegt. Zum Schluss steht noch ein letzter Thesenbaukasten, in dem Lioba Foit der Bedeutung von Automatismen für Identitätskonstruktion aus „kollektiv-ironischen Positionen“ nachgeht (S. 308) und Andreas Weich digitale Profile als Selbst-Technologien skizziert.

Offen bleibt, ob die Subsumtion unter das Konzept des Automatismus für die jeweilige Perspektive stets ertragreich ist: Die Verbindung zum Sujet gelingt manchen Beiträgen schlicht besser als anderen. Die Zusammenhänge sind in diesen wenigen Fällen nur auf Umwegen erreichbar und der Gewinn der Theoriefusion ist nicht eindeutig zu bestimmen. Vermutlich wirken daher vereinzelte Beiträge überkoloriert; dies mindert das Lesevergnügen an einem sonst ausgesprochen empfehlenswerten Band. Womöglich wäre auch eine kontroversere Auseinandersetzung mit der Perspektivierung ergiebig. Gespannt darf man gerade deshalb auch auf den für August 2014 angekündigten Band des Graduiertenkollegs zur „Entautomatisierung“ warten. Wird die analytische Folie auch an mancher Stelle etwas überstrapaziert, so gelingt es dem Sammelband doch, eine eindrucksvolle Spannweite an möglichen Konstellationen aufzuzeigen. Die Beiträge zeigen, auf wie viele Felder sich das Konzept des Kollegs applizieren lässt. Dies ist gerade der herausragenden und herausfordernden Einleitung und den wohlplatzierten Thesenbaukästen zu verdanken.

Anmerkungen:
1 Siehe hierzu auch den Tagungsbericht Automatismen – Selbst-Technologien. 08.04.2011-09.04.2011, Paderborn, in: H-Soz-u-Kult, 13.07.2011, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=3733> (01.06.2014).
2 Vollständige Liste der Publikationen des Kollegs <http://www.uni-paderborn.de/institute-einrichtungen/gk-automatismen/publikationen/> (01.06.2014).

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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