P.H. Breitenstein: Die Befreiung der Geschichte

Cover
Titel
Die Befreiung der Geschichte. Geschichtsphilosophie als Gesellschaftskritik nach Adorno und Foucault


Autor(en)
Breitenstein, Peggy H.
Reihe
Frankfurter Beiträge zur Soziologie und Sozialphilosophie 19
Erschienen
Frankfurt am Main 2013: Campus Verlag
Anzahl Seiten
325 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Uwe Barrelmeyer, Widukind-Gymnasium Enger

Historikerinnen und Historiker setzen sich mittlerweile offener mit geschichtstheoretischen Fragen auseinander. Dies lässt sich für den deutschen Sprachraum an der umfänglicheren Rezeption ablesen, die in den letzten Jahren einzelne niveauvolle Studien zur Geschichtstheorie erfahren haben.1 Auf das Feld der materialen Geschichtsphilosophie trifft dies bisher nicht in gleicher Weise zu. Im Gegensatz zur formalen Geschichtsphilosophie, die die Erkenntnistheorie und Methodologie historischen Wissens umfasst, wird die universale Betrachtung grundlegender Strukturen und Einflussfaktoren geschichtlicher Prozesse als spekulativ abgelehnt, ja sie ist sogar häufig, wie der Philosoph Johannes Rohbeck hervorhebt, dem „politischen Verdacht eines totalitären Standpunktes“ ausgesetzt. In der Konsequenz habe dies dazu geführt, dass die in praktischer Absicht erfolgende philosophische Reflexion über universale „Inhalte der Geschichte“ als unwissenschaftlich disqualifiziert werde. Gleichwohl erkennt Rohbeck in jüngster Zeit „Anzeichen einer Wiederkehr der materialen Geschichtsphilosophie“2.

Dieser geschichtsphilosophischen Forschungsdynamik ist auch der vorliegende Band zuzuordnen. Die Studie von Peggy H. Breitenstein wurde 2009 an der Philosophischen Fakultät der Technischen Universität Dresden als Dissertation eingereicht und 2013 als Band 19 der im Auftrag des Frankfurter Instituts für Sozialforschung herausgegebenen Buchreihe „Frankfurter Beiträge zur Soziologie und Sozialphilosophie“ veröffentlicht. Breitenstein geht der Frage nach, „was eine kritische materiale Geschichtsphilosophie heute sein und leisten“ kann (S. 45). Antworten auf diese Frage entwickelt sie in zwei Hauptkapiteln im Rahmen einer „problemorientierten Rekonstruktion“ des geschichtsphilosophischen und gesellschaftskritischen Denkens Adornos (Kap. II) und Foucaults (Kap. III). Sie möchte zeigen, dass deren Arbeiten die „vielleicht wichtigsten Erträge einer materialen kritischen Geschichtsphilosophie des 20. Jahrhunderts“ darstellen (S. 281). Diese Ausführungen werden durch einleitende Überlegungen vorbereitet (Kap. I), die den gegenwärtigen Diskussionsstand über den „Sinn und die Grenzen einer materialen Geschichtsphilosophie“ (S. 45) skizzieren. Im Schlussteil (Kap. IV) resümiert Breitenstein die aus der vergleichenden Gegenüberstellung der Arbeiten Adornos und Foucaults erwachsenden Erträge für das „Projekt einer kritischen materialen Geschichtsphilosophie“ (S. 46).

Um von zeitgemäßer Geschichtsphilosophie sprechen zu dürfen, müssen für Breitenstein zwei Voraussetzungen erfüllt sein. In einem ersten Schritt seien „epistemische Grenzen und methodologische Forderungen“ (S. 37) zu beachten, die die neuere Wissenschaftsforschung (z.B. Prinzipien der Falsifizierbarkeit sowie der empirischen Unterbestimmtheit wissenschaftlicher Darstellungen) sowie Geschichtstheorie (z.B. narrativistische Darstellungslogik, Begriff der Multikausalität) zur Geltung gebracht hätten. Wichtige Hintergrundannahmen der klassischen Geschichtsphilosophie (z.B. teleologische Deutung der gesamten Menschheitsgeschichte, naiver Fortschrittsglaube) seien damit obsolet geworden.

Breitenstein favorisiert in interdisziplinärer Perspektive eine Geschichtsphilosophie „mittlerer Reichweite“ (S. 35), deren narrative Konstruktionen dem Prinzip des methodologischen Individualismus folgend die „synchronen, vor allem aber [die] diachronen Zusammenhänge sozialen Handelns“ (S. 41) in den Blick rücken. Im Kern gehe es um die Deutung sozialer Prozesse, die, obwohl von einzelnen menschlichen Handlungen getragen, eine solche Eigendynamik entwickelten, dass von einem „Verhältnis von subjektiver Handlung(smacht) und objektivem Zwang“ (S. 275) gesprochen werden müsse.

Zeitgemäße Geschichtsphilosophie müsse sich allerdings auch zweitens „normativ reflektiert zur historischen Genese gegenwärtiger Praktiken, Institutionen, Handlungszwänge“ (S. 46) verhalten. Vor allem durch den aufklärerischen Rekurs auf Marx gewinne sie das nötige „sozialkritische Potential“ (S. 38). Breitenstein qualifiziert die Arbeiten Adornos und Foucaults als „überzeugende und aktuelle Ansätze“ (S. 45) kritischer Geschichtsphilosophie, deren Anregungen aufgenommen und weiterentwickelt werden sollten.

Adorno habe in Anknüpfung an Marx’ Analyse und Kritik der kapitalistischen Gesellschaftsformation die zeitgenössische Gesellschaft als Warentauschgesellschaft gedeutet und nachdrücklich die „expansive und umfassende Ökonomisierung des Sozialen wie Kulturellen“ (S. 272) kritisiert. Er suche „totalitäre Züge der sozialen Praxis“ (S. 280) durch die besondere Methode der „physiognomischen Deutung“ kultureller und sozialer Einzelphänomene exemplarisch offenzulegen. Foucault hingegen rücke mit „teleologiefreie[n], funktionale[n]“ Erklärungen des Wandels von Machttypen unter Verwendung des „Analyserasters des Dispositivs“ (S. 280) historische Tendenzen der „Disziplinierung und Normalisierung“ (S. 274) in den genealogischen Blick. Er charakterisiere die zeitgenössische Gesellschaft daher als „Disziplinar-, Kontroll- und Normalisierungsgesellschaft“ (S. 275). Beide Autoren verpflichteten die Geschichtsphilosophie gleichermaßen zur „Kritik am und Widerstand gegen den Selbstlauf“ (S. 281) historischer Prozesse und legten Gegendarstellungen zu den üblichen historischen Meta-Erzählungen vor.

Für Breitenstein ist die Aktualität dieser Gegendarstellungen offensichtlich. Angesichts der humanen Katastrophen des 20. Jahrhunderts sowie drohender humaner und ökologischer Krisen im 21. Jahrhundert verbiete es sich, die Geschichte länger als einen „Prozess des zivilisatorischen Fortschritts“ (S. 275) zu lesen. Vielmehr müsse es dem Titel ihres Buches entsprechend im Sinne einer Verwirklichung praktischer Vernunft künftig darum gehen, die Geschichte vom „Schein naturgesetzlicher Eigendynamik und Fatalität“ (S. 271) zu befreien und die Handlungsmacht „mündige[r] Subjekt[e]“ (S. 278) zu stärken. Ein erster Schritt zur Befreiung aller handelnden Menschen von den Zwängen der Geschichte bestehe deshalb darin, „auf die Logik spezifischer historischer Prozesse“ (S. 271) aufmerksam zu machen, die die „Entfaltung subjektiver wie kollektiver Selbstbestimmung“ (S. 275) für gegenwärtige und zukünftige Generationen unmöglich machten oder zu machen drohten.

Wie ist die Qualität der Studie insgesamt zu bewerten? Philosophisch interessierten Leserinnen und Lesern werden differenzierte und stringente Interpretationen der Arbeiten Adornos und Foucaults geboten. Breitenstein erfüllt zudem ihren Anspruch, eine „Fortsetzung, Korrektur und Erweiterung der bisherigen Adorno- sowie Foucault-Forschung“ vorzulegen (S. 46). So kann sie beispielsweise die von Herbert Schnädelbach vorgetragene Behauptung von der „Geschichtslosigkeit der Geschichtsphilosophie“ (S. 51) Adornos überzeugend entkräften. Im Hinblick auf die genealogischen Schriften Foucaults zeigt sie, dass der Vorwurf des „Kryptonormativismus“ (S. 46) gerade mit Blick auf dessen „Spätwerk“ als unbegründet zurückgewiesen werden darf. Es gelingt ihr insgesamt, die Werke Adornos und Foucaults als „veritable geschichtsphilosophische Entwürfe mittlerer Reichweite“ (S. 256) nahezubringen.

Welche Anregungen können Historikerinnen und Historiker aus der Lektüre des Buches ziehen? Breitenstein stellt in wünschenswerter Klarheit heraus, dass für die ihrer Meinung nach heute noch vertretbaren materialen Geschichtsphilosophien mittlerer Reichweite „wesentliche Prämissen des Narrativismus“ (S. 269) sowie die epistemologischen und methodologischen Standards heutiger Wissenschafts- und Geschichtstheorie gelten müssen. Unter dieser Voraussetzung dürften sich geschichtsphilosophische Deutungen zukünftig für geschichtswissenschaftliche Forschungen als heuristisch anschlussfähiger erweisen.

Darf man Breitensteins Ausführungen zur Epistemologie und Methodologie eines zeitgemäßen geschichtsphilosophischen Denkens als instruktiv qualifizieren, trifft dies auf ihre normativen Einlassungen nicht in gleicher Weise zu. Es ist argumentativ nur schwer nachzuvollziehen, weshalb geschichtsphilosophische Deutungen historische Prozesse wesentlich als „objektive“ Zwangszusammenhänge begreifen sollen, die „nur noch negativ thematisiert“ werden könnten (S. 275). Mit dieser Festlegung steht Breitenstein auch in Spannung zu ihrer eigenen konzeptionellen Forderung, dass die Reflexion der Ambivalenz des Fortschritts als eine der „dringlichsten Aufgaben der Geschichtsphilosophie“ zu betrachten sei (S. 36). Abschließend stellt sich daher die Frage, ob man der geschichtsphilosophischen Konzeption der Autorin eher ein „utopisches Moment“ (S. 93) zuschreiben oder sie als „Verwirklichung der praktischen Vernunft“ (S. 96) begreifen will. Der Rezensent optiert für den Begriff der „normativen Utopie“ und empfiehlt Peggy H. Breitensteins Studie sozialphilosophisch interessierten Leserinnen und Lesern zur Lektüre. Für Historiker und Historikerinnen dürfte das Buch allerdings weniger von Interesse sein.

Anmerkungen:
1 Vgl. etwa Jan Kusber u.a. (Hrsg.), Historische Kulturwissenschaften. Positionen, Praktiken und Perspektiven, Bielefeld 2010; Jens Hacke / Matthias Pohlig (Hrsg.), Theorie in der Geschichtswissenschaft. Einblicke in die Praxis des historischen Forschens, Frankfurt am Main 2008; Arndt Hoffmann, Zufall und Kontingenz in der Geschichtstheorie. Mit zwei Studien zu Theorie und Praxis der Sozialgeschichte, Frankfurt am Main 2005; Hans-Jürgen Goertz, Unsichere Geschichte. Zur Theorie historischer Referentialität, Stuttgart 2001; Chris Lorenz, Konstruktion der Vergangenheit. Eine Einführung in die Geschichtstheorie, Köln 1997.
2 Johannes Rohbeck, Aufklärung und Geschichte. Über eine praktische Geschichtsphilosophie der Zukunft, Berlin 2010, S. 9f.; außerdem ders., Geschichtsphilosophie zur Einführung, Hamburg 2004; Jörg Baberowski, Der Sinn der Geschichte. Geschichtstheorien von Hegel bis Foucault, München 2005; Heinz Dieter Kittsteiner, Wir werden gelebt. Formprobleme der Moderne, Hamburg 2006; zum Forschungsstand vgl. Jürgen Große, Geschichtsphilosophie heute, in: Philosophische Rundschau 55 (2008), S. 123–155, S. 209–236; Schwerpunkt: Ist eine Rehabilitierung von Geschichtsphilosophie möglich?, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 48 (2000), S. 49–105.

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