K. Holste: Arena der preußischen Verfassungsdebatte

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Titel
In der Arena der preußischen Verfassungsdebatte. Adlige Gutsbesitzer der Mark und Provinz Brandenburg 1806–1847


Autor(en)
Holste, Karsten
Reihe
Elitenwandel in der Moderne 14
Erschienen
Berlin 2013: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
IV, 326 S.
Preis
€ 99,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hartwin Spenkuch, Berlin

Der jüngste Band der von Heinz Reif begründeten Reihe „Elitenwandel in der Moderne“ ist die in Halle bei Michael G. Müller entstandene Dissertation von Karsten Holste. Sie folgt mit ihren Grundbegriffen Akteure – Arenen – Aushandlungsprozesse einer von Müller, Holste und Dietlind Hüchtker 2009 herausgegebenen Aufsatzsammlung.1 Die Arenen entsprechen hierbei den vier Grundachsen Max Webers. Laut Klappentext bildet die zentrale Erkenntnis, dass Brandenburger adelige Gutsbesitzer nach 1807 weder grundsätzlich gegen eine Verfassung eingestellt waren, noch verstockt der altständischen Ordnung bis 1806 anhingen, sondern ihre Argumentation den neuen Bedingungen anpaßten und sich schließlich zu engagierten Verteidigern der ab 1823 etablierten, wenig partizipatorischen Staatsordnung wandelten. Damit verknüpft sich eine spezifische Interpretation von Hardenbergs Scheitern.

Holste skizziert in der Einleitung bisherige Forschungskonzepte und kritisiert dabei speziell die Vorstellung des Überdauerns vormoderner Herrschaftsstrukturen in Preußen. An späterer Stelle (S. 194 ff.) widerspricht er Herbert Obenaus2, daß Hardenbergs Verfassungspläne primär am Widerstand restaurativ orientierter Junker- und Beamtengruppen gescheitert seien. Holste dagegen betont die politische Schwäche der Stände-Opposition und die Inhomogenität des Adels, die er aus seinen Quellen, zuvörderst den Nachlässen von Rochow, von Voß und von Quast, herausliest, nicht unähnlich den Befunden von Ewald Frie.3 Nur in der ersten Phase bis 1815 hätten die alten Adelsstände die Reformmaßnahmen Hardenbergs scharf attackiert; 1815–1821 hingegen habe Hoffnung auf einen Politikwechsel infolge des Kriegssiegs und des Zögerns des Königs bestanden. In der dritten Phase ab 1822 sei ein neuer Elitenkompromiss zwischen grundbesitzendem Adel und Staat entstanden und ersterer habe sich als treueste Stütze des Throns neu erfunden.

Die argumentative Flexibilität und die Bereitschaft zum Kompromiss mit dem Staat werden als Modernisierungsleistung des Adels betrachtet. Jedoch lässt sich darüber streiten, ob die Differenz zwischen einem Übergewicht aufgrund staatlich gewollter Begünstigung oder bloß aufgrund ständisch-historischer Vorrechte für die zeitgenössische Praxis wie auch das historische Urteil einen fundamentalen Unterschied macht. Am Ende (S. 286) schätzt Holste die Etablierung der Provinzial- und Kreisordnungen von 1823/25, mit ihren drei Kurien klar neoständisch gegliedert, sogar als hilfreichen Zeitgewinn ein, der den adligen Gutsbesitzern die Anpassung an neue professionelle Standards in Verwaltung und Gutswirtschaft erleichterte. Er folgt damit Reinhart Koselleck, der den erfolgreichen Wandel „vom herrschenden Stand zur herrschenden Klasse“ konstatierte.4 Jedoch hat Koselleck hierbei auch das Abblocken eines Bedeutungsgewinns für bürgerliche Schichten und die weitere Fesselung der Unterschicht in einem quasiständischen Abhängigkeitsverhältnis gesehen. Diese sozialen Kosten geraten bei Holste aus dem Blick. Auch politisch forderten die zweifelhaften Lern-Dekaden für den Adel der Kernprovinzen Preußens 1823–47 einen Preis, denn sie befestigten die neoständische politische Gliederung, verhinderten frühzeitige praktische Einübung in parlamentarische Verfahren und belasteten somit den Übergang zum Konstitutionalismus ab 1848. Dieser Rückstand im Vergleich mit den süddeutschen Verfassungsstaaten war bedeutsam.

Die Stärke des Bandes – intensive Betrachtung der adelsinternen Debatten anhand tradierter Nachlässe – gerät zugleich zu einer Schwäche. Denn weder kann damit das gesamte adelige Umfeld des Monarchen erfaßt noch die Verfassungsdebatte umfassend rekonstruiert werden. Die hochkonservative Hofpartei, weithin Repräsentant adeliger Interessen, kommt in Holstes Quellen kaum vor. Aber Spitzenfiguren wie Fürst Wittgenstein, Herzog von Mecklenburg, Ancillon oder Schuckmann verdrängten Hardenberg vom Ohr des Königs. Am Ende hat Wittgenstein die Kabinettsordre vom 11. Juni 1821 formuliert, die die endgültige Absage an Hardenbergs Verfassungspläne markierte, was Holste (S. 186) mit Verweis auf Obenaus, aber ohne diese wichtige Sachinformation, referiert. Abweisende Antworten des Königs auf Ständeeingaben konzipierte noch im März 1820 Friedrich August Stägemann (S. 168), ein enger Mitarbeiter Hardenbergs, und dieser überredete den König mühsam zur Unterschrift (S. 180).

Holste erkennt zu wenig an, welche historische Bedeutung Hardenbergs hartnäckig verfolgten partizipatorischen Verfassungsplänen, Kreis- und Provinzialorganisation eingeschlossen, zukommt; die aktengestützte Dokumentation von Christian Schmitz dazu 5 wird nur am Rande erwähnt. Die bürgerlich-liberalen Forderungen aus (westlichen) Städten nach einer Konstitution werden kaum genannt und das „latente Konfliktpotential zwischen den Ständen“ des Provinziallandtags eher beiläufig erwähnt (S. 264), ebenso die Ablehnung des Vereinigten Landtags 1847 (S. 267). Wittgenstein wird als Nicht-Gegner der Verfassungsgebung bis 1819, ja noch 1821, und zudem als Befürworter neuer Kommunalordnungen dargestellt (S. 196, 199). Hardenberg, als angeblicher Befürworter bloßer Staatsmacht und nur konsultativer Landtagsbefugnis vorgestellt, soll 1820/21 nicht an einer starken (Adels-)Opposition, sondern an seiner zu weitgreifenden Version des vom König früher gebilligten Verfassungsplans gescheitert sein (S. 198 f.). Hier liegt der Kern: Hardenberg, beraten von einer kleinen Gruppe entschiedener Reformer, verfolgte ein postständisches Programm, das den Grundadel in Kreis und Provinz in die Gesamtheit aller Eigentümer eingeordnet hätte. Dagegen formierte sich bei Hofe und altpreußischen Beamten Widerstand mit adeliger Speerspitze.

Dieses Gesamtbild der Hardenberg-Zeit ergab zuletzt ein von Thomas Stamm-Kuhlmann herausgegebener Band 6, den Holste laut Literaturverzeichnis auch rezipiert. Dort formulieren Christoph Dipper, Paul Nolte und David Barclay, daß weder etwaige wirtschafts- und verwaltungspolitische Prioritäten Hardenbergs noch die latente Aporie des Reformwerks – bürgerliche Freiheit vs. bürokratischer Herrschaftsanspruch – den Handlungsspielraum der adeligen Opposition vergrößerten, sondern Preußens Sieg 1815 und die Verflechtung des Junkeradels mit Hof und Monarch. Sie folgen weithin Herbert Obenaus Analyse, der zudem eindeutig die umfangreichsten Quellenstudien betrieb. Bei Holste scheinen die zentralen materiellen Ziele des Junkeradels im ganzen 19. Jahrhundert – selbständige Gutsbezirke und Beinahe-Mehrheit in Selbstverwaltungsgremien, Steuervorteile und günstige landwirtschaftliche Rechtsverhältnisse – zwar immer wieder auf. Weil aber im Sinne von Begriffsgeschichte der Wandel von Argumentationsstrukturen im Fokus steht, wird diese interessenmäßige Grundlage nicht deutlich genug in Rechnung gestellt. Man mag hierin ein Manko des gebrauchten und des diskurstheoretischen Ansatzes erkennen. Den Rochow, Voß und Quast spricht Holste sogar das Selbst- und Weltbild von Grand Seigneurs zu (S. 279 f.). Dieser Gruppe wird üblicherweise Reichtum, Weltläufigkeit und eine jedenfalls phasenweise offenere Haltung zur (politischen) Modernisierung attestiert. Realiter traten diese Merkmale in Preußen überwiegend bei neupreußischen, oft katholischen Standesherren mit durch ihre frühere Reichsunmittelbarkeit bedingter Distanz zum Staat Preußen auf. Deshalb lassen sich die genannten brandenburgischen Familien kaum dazu rechnen, allenfalls einige wenige andere Häuser, etwa die Brühl-Pförten oder Schoenaich-Carolath.7

Holstes Neuinterpretation ist umso erstaunlicher, als er im genannten Sammelband von 2009 selbst noch eine andere Lesart der Entwicklung skizziert hat.8 Demnach ging es der Junker-Opposition darum, ihren gesellschaftlichen Status und ihre materiellen Vorteile in den Gutsherrschaftsregionen weitgehend zu erhalten. Trotz gewisser Strategie-Differenzen verfolgten sie dieses Ziel taktisch je nach Lage zurückhaltend oder massiv, mit historisch-ständischen oder situativ-staatstragenden Argumenten. Zu den 1823/25 rechtlich fixierten neoständischen Kreis- und Provinzialordnungen, die für altangesessene Rittergutsbesitzer Mehrheiten garantierten und Bauern und Landstädte in den Repräsentationsgremien klein hielten, trug das Wirken der Adels- wie der Beamten-Konservativen trotz aller punktuellen Differenzen wesentlich bei. König Friedrich Wilhelm III. traf seine Letztentscheidungen unter ihrem tagtäglichen Einfluß. Die Termini von Partizipation und Repräsentation zur Erhaltung eigener Vorrechte und zur Abwehr sozial verbreiterter politischer Teilhabe zu nutzen, gelang dem Junkeradel mittels enger Bindung an die Monarchen. Ähnliches Vorgehen und ähnliche Erfolge lassen sich in der konstitutionellen Frühzeit um 1850, der Neuen Ära um 1860 und in den 1870er Jahren gegenüber moderat liberalen Modernisierungsgesetzen beobachten. Auch später gab es trotz zeitweiser Krisen (Caprivi-Zeit, Mittellandkanal 1899, Wahlreform 1910) am Ende junkeradelsfreundliche Kompromisse mit dem monarchischen Staat. Ohne den Primat des Staates über die Stände grundsätzlich zu bestreiten, hält der Rezensent deshalb nicht die phasenweisen Kontroversen ständisch orientierter Adelsgruppen mit dem Staat, sondern die Ergebnisse des gegenseitigen Arrangements seit Friedrich II. für das zentrale Faktum; regelmäßig verband sich damit Zurücksetzung bäuerlicher und bürgerlich-städtischer Schichten.

Holste hat arbeitsintensiv Nachlaßquellen durchforstet und hierbei die Perspektive der märkischen Adelsfronde detailliert beleuchtet. Aber seine aus begrenzten Quellen geschöpfte Gesamtinterpretation von Verlauf und Kausalitäten des Verfassungskampfes überzeugt den Rezensenten nicht, da wichtige Faktoren aus dem Blick geraten. Die Evidenz von Herbert Obenaus und der Tenor der neueren Hardenberg-Forschung sind nicht widerlegt.

Anmerkungen:
1 Karsten Holste u.a. (Hrsg.), Aufsteigen und Obenbleiben in europäischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts. Akteure – Arenen – Aushandlungsprozesse, Berlin 2009.
2 Herbert Obenaus, Anfänge des Parlamentarismus in Preußen bis 1848, Düsseldorf 1984.
3 Ewald Frie, Friedrich August Ludwig von der Marwitz: 1777–1837. Biographien eines Preußen, Paderborn 2001, S. 284 ff.
4 Reinhart Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution, 3. Aufl., Stuttgart 1981, S. 486.
5 Christian Schmitz, Die Vorschläge und Entwürfe zur Realisierung des preußischen Verfassungsversprechens 1806–1819. Eine rechtliche Bilanz zum Frühkonstitutionalismus der Stein-Hardenberg’schen Reformzeit, Göttingen 2010.
6 Thomas Stamm-Kuhlmann (Hrsg.), „Freier Gebrauch der Kräfte“. Eine Bestandsaufnahme der Hardenberg-Forschung, München 2001, S. 194 f., 205 f., 220 ff.
7 Zum Begriff Grand Seigneurs im Gefolge Heinz Gollwitzers vgl. Hartwin Spenkuch, Das Preußische Herrenhaus. Adel und Bürgertum in der Ersten Kammer des Landtages 1854–1918, Düsseldorf 1998, S. 252 ff.
8 Karsten Holste, Provinzialstände als Projekt der Elitenvergesellschaftung. Strategien kurmärkischer Adeliger in der preußischen Verfassungsdiskussion 1815–1822, in: Ders. u.a. (Hrsg.), Aufsteigen und Obenbleiben in europäischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts, S. 147–161.

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