Cover
Titel
Mein Europa. Reisetagebücher eines Historikers


Autor(en)
Schmale, Wolfgang
Erschienen
Anzahl Seiten
278 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Weißmann, Institut für Europäische Studien, Technische Universität Chemnitz

Ein Reisebericht – ob nun fiktiv oder real – ist seit Jahrhunderten Teil eines informativen sowie tiefgründigen Genres, der uns nicht nur die bereisten Regionen näherbringt, sondern auch stets etwas über die Epoche mitteilt, in denen der Bericht verfasst wurde. Nicht nur Historiker wie etwa Jacques Le Goff1 bedienen sich gerne dieser Textform, sondern auch Schriftsteller wie Hans Magnus Enzensberger, der in den 1980er-Jahren die europäische Peripherie bereiste, unter der man noch etwas anderes verstand, als es heutzutage der Fall ist.2 Den Beweis, dass es sich auch heute noch lohnt, ein Reisetagebuch zu veröffentlichen, tritt Wolfgang Schmale an, der uns mit „Mein Europa. Reisetagebücher eines Historikers“ auf eine Europareise einlädt, die in elf Kapiteln, eingebettet in Prolog und Epilog, von der Peripherie über Kernregionen auch zu geographisch außerhalb Europas liegenden Gegenden führt. Die jeweiligen Kapitel sind je einem Land, einer Region oder Stadt gewidmet und umfassen Reisen nach Usbekistan, Armenien, Marokko, in die Toskana, Jerusalem und Dänemark, komprimierte Erinnerungen an mehrfache Aufenthalte in Paris und im Burgund, gemachte Entdeckungen auf Dienstreisen nach Serbien, Québec und Athen sowie eine Beschreibung von der „Mitte“ Europas zwischen Berlin und Wien. Damit wurde eine ausgewogene Mischung zwischen Zentrum und Peripherie gefunden, deren Zusammenspiel seit jeher die europäische Geschichte ausmacht (S. 11).

Im Zentrum siedelt Wolfgang Schmale Deutschland, Österreich und Dänemark an, da diese Länder stets gut vernetzt wichtige Brückenfunktionen in der Geschichte übernahmen und dies immer noch tun. Während Enzensberger in den 1980er-Jahren die europäische Peripherie noch in Schweden, Portugal oder in Ländern hinter dem Eisernen Vorhang verortete, ist sie bei Wolfgang Schmale auch mit geographisch außerhalb Europas liegenden Regionen vertreten. So ist Québec ein Kapitel gewidmet, weil Europa dort durch die Erinnerungskultur eine wichtige Rolle bei der Identitätsbildung einnimmt. Dahingegen liegen Marokko, Armenien und Usbekistan an der Grenze zwischen Orient und Okzident, sind aber durch stattgefundene Kulturtransfers, etwa zwischen Armenien und Italien, oder durch Konflikte wie die Kolonialisierung Marokkos oder die blutigen Auseinandersetzungen zwischen Türken, Armeniern und Aserbaidschanern untrennbar mit der Geschichte Europas verbunden. Usbekistan ist darüber hinaus für europäische Erkundungsreisen interessant, da Europa teilweise nur noch als Spur zu erkennen ist, was Wolfgang Schmale beispielsweise an sowjetischen Überbleibseln aufzeigt.

In seinen Reiseberichten geht es Wolfgang Schmale dabei aber nicht „um Europa-Romantik, um etwa dem Krisenalltag eine bunte historische Welt entgegenzusetzen“ (S. 16), noch um eine Reflexion tagespolitischer Ereignisse oder die Bewertung Europas an Hand seiner Institutionen (S. 17). Vielmehr versucht sich der mit Neugier ausgestattete Reisende auf seine Umgebung einzulassen und sie mit seinen Sinnen zu erfassen, um so „Geschichtsschreibung auf die Begehung vor Ort, auf das Durchwandern von Räumen und Städten, auf die unmittelbare Begegnung mit Menschen und Artefakten zu gründen und dadurch bewusst die gegenwartsgebundenen Fragen, die wir an die Geschichte haben und derentwegen wir Geschichtswissenschaften betreiben, zu bedienen“ (S. 13f.). Da es sich um Reiseberichte handelt, verzichtet Wolfgang Schmale auch auf ein Literaturverzeichnis und überfrachtet seine Reiseberichte nicht mit langatmigen Diskussionen wissenschaftlicher Theorien. Auf die für seine Ausführungen wichtigsten, etwa den Europabegriff oder die Bedeutung der Erinnerungsorte und die Erinnerungskultur an sich, wird nur kurz eingegangen und meist in einem großzügig gestalteten Anmerkungsverzeichnis wieder aufgegriffen, sodass die Leichtigkeit der Reiseberichte größtenteils gewahrt bleibt, ohne dass dies auf Kosten einer ansprechenden wissenschaftlichen Tiefe von statten geht. Darüber hinaus wird niemals die Weite der gemachten Beobachtungen überschätzt, denn einerseits gibt es in Europa „keinen räumlichen Standort, von dem aus man sich alles erschließen kann“ (S. 14). Ebenso sieht sich der „Tagebuchschreiber […] in einer Tradition von Reisenden und Reiseberichten, in einer Tradition des Sehens, des Wahrnehmens und des Auswählens“ (S. 12).

Bei der Bereisung der Peripherie bedient sich Wolfgang Schmale immer wieder des Konzeptes der „mental map“ der Europäer, das innerhalb der Jahrhunderte einem stetigen Wandel unterzogen war. So war das mittelalterliche Armenien dank seiner Christianisierung in den europäischen Kernregionen im Bewusstsein der Europäer verankerter als etwa zu Zeiten des Osmanischen Reiches. Diese Veränderungen schildert Wolfgang Schmale anschaulich, indem er stets historische Reiseberichte aus den verschiedenen Jahrhunderten in seine eigenen Berichte einbaut oder Veränderungen bei der „mental map“ anhand dieser aufzuzeigen vermag. Die historischen Reiseberichte sind bei der Struktur der Kapitel positiv hervorzuheben, da sie dem Leser in Form eines historischen Längsschnittes die Geschichte der bereisten Region näherbringen und dadurch aufzeigen, wann und warum die jeweiligen Regionen aus den verschiedensten Gründen mal stärker mal schwächer mit Europa verbunden waren. Weitere Stärken des Buches ergeben sich aus der Tatsache, dass Wolfgang Schmale seine Forschungsschwerpunkte thematisiert und diese mit persönlichen Erfahrungen vor Ort verknüpft. Ganz besonders gelungen ist hierbei das Kapitel über Serbien, in welchem Wolfgang Schmale von Diskussionen auf wissenschaftlichen Tagungen berichtet, auf denen kontrovers über die Rolle der Männlichkeit in der jüngeren serbischen Geschichte diskutiert wird und ein Zusammenhang zwischen „hegemonialer Männlichkeit“ (S. 122f.) und einer bestimmten Ausprägung des serbischen Nationalstaates hergestellt wird.

Dass die Männlichkeit auch Einfluss auf architektonische und städtebauliche Konzepte genommen hat, kommt besonders in den Kapitel über die Toskana, Paris, Athen und Jerusalem verstärkt zur Sprache. Zwar haben bauliche Aspekte sicherlich eine führende Rolle in den Reiseberichten verdient, da vor allem in der Architektur kulturelle Transfers anschaulich dargestellt werden können. So ist es möglich, das Gemeinsame beziehungsweise Trennende der europäischen Geschichte deutlich sichtbar zu machen und kontrovers zu diskutieren, etwa ob die Gotik ihren Ursprung in Armenien hat, inwiefern die Architektur Berlins das 20. Jahrhundert widerspiegelt oder wie die Rolle der Männlichkeit die Architektur von Paris oder Athen beherrscht. Bisweilen haben aber die Kapitel, vor allem wenn sie wie jene über die Toskana oder Jerusalem eher kurz gehalten sind, eher den Charakter eines architektonischen beziehungsweise kunstgeschichtlichen Reiseführers. Einem ortsunkundigen Leser, der vielleicht nicht über ein ausgeprägtes räumliches Denkvermögen verfügt, wird dadurch die Lektüre etwas erschwert. Eine großzügigere Bebilderung, die über das Foto zu Beginn eines jeden Kapitels hinausginge, hätte diesem sicherlich Abhilfe verschaffen können. Ebenso versprühen diese zwar interessanten Ausführungen nicht den Charme der Kapitel, in denen Wolfgang Schmale das Burgund zu seiner Lieblingsregion in Europa erklärt, von seiner Studienzeit in Paris erzählt oder auf seine kulinarischen Erlebnisse eingeht, die ebenso die europäische Vielfalt symbolisieren und auch immer wieder Produkte kultureller Transfers sind. Diese Erlebnisse verleihen den Reiseberichten eine eigene persönliche Note, die auch immer wieder dann zu verspüren ist, wenn Wolfgang Schmale sich bei Unterhaltungen mit armenischen Bergführern, usbekischen Kunsthandwerkerinnen oder marokkanischen Kindern in verschiedenen, manchmal auch während des Gespräches wechselnden Sprachen zu europäischen Begebenheiten oder ganz alltäglichen Dingen austauscht.

In diesen Gesprächen klingen stets auch die Antworten auf die offenen, gegenwartsgebundenen Fragen durch, die Wolfgang Schmale sich und uns im Epilog stellt: Hat dieses Europa noch einen Kompass wie zu Zeiten der EWG, soll es sich erweitern und ist es im Sinne eines gemeinsamen Projektes noch belastbar (S. 258f.)? Es ist Wolfgang Schmale zuzustimmen, dass wir innehalten sollten, um uns auf unsere Stärken in diesem „Europa der Gegensätzlichkeiten“ (S. 260f.) zu besinnen. Reiseberichte wie diese von Wolfgang Schmale liefern zumindest Indizien zur Beantwortung dieser Fragen. Obendrein rufen sie uns ins Gedächtnis zurück, was wir an diesem Europa haben, und machen Lust darauf mittels eigener Reisen herauszufinden und zu entdecken, ob wir jeder für sich dieses Europa als Heimat betrachten können.

Anmerkungen:
1 Jacques Le Goff, Jacques Le Goff erzählt die Geschichte Europas, Frankfurt am Main 1997.
2 Hans Magnus Enzensberger, Ach Europa! Wahrnehmungen aus sieben Ländern, Frankfurt am Main 1987.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension