E. Tálos: Das austrofaschistische Herrschaftssystem

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Titel
Das austrofaschistische Herrschaftssystem. Österreich 1933–1938


Autor(en)
Tálos, Emmerich
Reihe
Politik und Zeitgeschichte 8
Erschienen
Berlin 2013: LIT Verlag
Anzahl Seiten
621 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ina Markova, Universität Wien

Unzweifelhaft hat Emmerich Tálos recht, wenn er gleich zu Beginn seines Werks „Das austrofaschistische Herrschaftssystem“ darauf verweist, dass es sich bei der Beurteilung der Jahre 1933–1938 nach wie vor um ein „kontroverses Thema“ handelt (S. 1). Dieses Unbehagen an der österreichischen Geschichte vor dem „Anschluss“ von 1938 zeigt sich eindrücklich in der Suche nach der kategorialen Verortung des Regimes: Ständestaat, autoritärer Staat, Regierungsdiktatur, Kanzlerdiktatur, Beamtendiktatur, Halbfaschismus, Imitationsfaschismus oder eben Austrofaschismus spannen ein breites Feld möglicher Interpretationen (S. 2). Auch das im Jänner 2012 vom österreichischen Parlament beschlossene Gesetz zur Rehabilitierung der Opfer vermied sowohl die Frage nach dem Charakter des Herrschaftssystems als auch die nach der passenden Bezeichnung.

Auf wissenschaftlicher Ebene macht sich im Gegensatz dazu aber eine Renaissance der Forschung zum Dollfuß/Schuschnigg-Regime bemerkbar. Während lange Zeit der Sammelband von Tálos und Wolfgang Neugebauer von 1984 (!) das Standardwerk war, so zeigten schon die rundum überarbeiteten Neuauflagen, die letzte etwa aus 2012, ein wachsendes Interesse an der Zeit vor dem Nationalsozialismus in Österreich an.1 Eine Vielzahl junger Forscher/innen arbeitet momentan an Dissertationen und Projekten zu Teilaspekten des Regimes, zwei voluminöse Sammelbände, die 2012 und 2013 erschienen sind, geben Einblick in den Stand der Forschung oder versammeln interdisziplinäre Zugänge.2 Emmerich Tálos unternimmt in seiner Monografie den Versuch, diese Ergebnisse zusammenzufassen und darüber hinaus eine Bestimmung des Gesamtbildes des Herrschaftssystems zu erstellen (S. 2). Vor allem der Transfer des Archivbestands der Vaterländischen Front aus Moskau ins Österreichische Staatsarchiv in Wien ermöglichte neue Einblicke in Teilaspekte der österreichischen Geschichte vor 1938 (S. 3).

Tálos umfangreiche Studie ist in acht große Kapitel unterteilt. Chronologisch fortschreitend beschreibt der Politikwissenschaftler die Voraussetzung für den Systemumbruch und die politischen Veränderungen vor 1933 (Kapitel 1, S. 5–68). Zwei Ereignisse markieren dabei wesentliche Zäsuren in der österreichischen Geschichte: Tálos nennt hier den 4. März 1933, den Rücktritt der österreichischen Nationalratspräsidenten und den anschließenden „interessengeleiteten Bruch mit dem rechtsstaatlich-parlamentarischen System der Ersten Republik“ (S. 31). Die Proklamation der neuen Verfassung vom 1. Mai 1934 schloss hingegen, so Tálos, „bei aller Vorläufigkeit“ (S. 60), den Konstituierungsprozess des Austrofaschismus ab. Kapitel 2 (S. 69–146) beschreibt das Selbstverständnis und die politischen Strukturen. Als Kernaspekte des Selbstbildes benennt Tálos „Volkstumsideologie, antidemokratische, antiparlamentarische, antimarxistische, autoritäre und ständische Vorstellungen“ (S. 70). Als „Kompendium der dominierenden Ideologieelemente“ und „groben inhaltlichen Rahmen“ macht Tálos die Trabrennplatzrede Bundeskanzler Dollfuß’ vom September 1933 aus (S. 69).

Im zentralen dritten Kapitel (S. 147–268) beschreibt Tálos die Akteur/innen des Herrschaftssystems, die Vaterländische Front, die Wehrverbände, die staatliche Exekutive. Vor allem auf organisatorischer Ebene erkennt Tálos eine Besonderheit des Austrofaschismus im Vergleich mit dem deutschen und italienischen Faschismus, da auch die Heimwehren und der Heimatschutz neben der politischen Monopolstellung der Vaterländischen Front durchaus noch politisch relevant gewesen seien (S. 147). Als „zentralen Stützpfeiler des austrofaschistischen Herrschaftssystems“ macht Tálos die katholische Kirche aus, deren damaliges ideologisches Selbstverständnis sich weitestgehend mit dem der herrschenden politischen Kräfte gedeckt hätte (S. 240).

Kapitel 4 fasst unter der Überschrift „Politische Gestaltung – Anpassung – Durchdringung der Gesellschaft“ (S. 269–448) teilweise recht divergente Aspekte des soziopolitischen Systems zusammen. Hier werden Themen wie Repressions-, Wirtschafts-, Sozial- oder Geschlechterpolitik behandelt. Auch wenn kultur- und sozialgeschichtliche Themen angesprochen werden, so liegt der Schwerpunkt eindeutig auf der politikhistorischen Perspektive. Dies ist angesichts des oben angedeuteten umstrittenen Charakters des Regimes durchaus verständlich, eine stärkere Behandlung von gesellschaftspolitischen Fragestellungen wäre aber spannend gewesen. Vor allem die Beschreibung des frauen- und geschlechterpolitischen Grundkonsenses und die von Tálos konstatierte „Redefinition der Geschlechterrollen“ (S. 78) könnten sicherlich Vergleichbarkeiten mit und Unterschiede zu anderen faschistischen Systemen der Periode aufzeigen, ähnliches kann sicherlich auch über Themenfelder wie Bildungswesen oder Hochschulpolitik gesagt werden.

Während sich Kapitel 5 (S. 449–491) der „Stimmung“ sowie der „Verankerung“ in der Gesellschaft widmet, beschreibt Kapitel 6 (S. 491–537) die Außenbeziehungen des Austrofaschismus, vor allem das Verhältnis zum faschistischen Italien und zum Nationalsozialismus. Chronologisch und inhaltlich nahtlos führt diese historische Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Deutschland in Kapitel 7, „Anschluss“ (S. 537–550) über. Das „Bundesverfassungsgesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich“ vom 13. März 1938 stellt das ultimative Ende des Austrofaschismus dar.

Tálos schließt seine Monografie mit einem Exkurs zur begrifflichen Bestimmung des österreichischen Herrschaftssystems 1933–1938, ein Text, der ohne Zweifel in Zukunft sehr oft zitiert werden wird. Kapitel 8, nüchtern „Abschluss“ (S. 551–586) genannt, beschreibt die spezifischen politischen und historischen Konstellationen im Österreich der 1930er-Jahre. Tálos betont die Einzigartigkeit der Existenz eines „Konkurrenzfaschismus“, der die „Bestands- und Machtabsicherungsbemühungen“ der Regierung „substanziell in Frage stellte“. Aufgrund der fehlenden Bedingungen für einen wirtschaftlichen Expansionismus, so Tálos, und als Konsequenz der nach dem Ersten Weltkrieg geschlossenen internationalen Verträge rückten die „inneren Gegner in den Blickpunkt der repressiven Bestandssicherungspolitik der Regierungen Dollfuß und Schuschnigg“ (S. 572).

Große Ähnlichkeiten sieht Tálos beim italienischen Faschismus, vor allem in der Durchsetzungs- und Konstituierungsphase sowie was die autoritär-hierarchische Herrschaftsstruktur betrifft. Aber auch die angestrebte berufsständische Ordnung, das Repressionssystem3, die Stellung der jeweiligen Monopolorganisationen während der Regimephase sowie einzelne Aspekte wie Antisemitismus, Militarismus oder die Glorifizierung der Vergangenheit zeigen Gemeinsamkeiten auf (S. 574f.). Deshalb, so schließt Tálos sein Werk ab, ließe sich „das österreichische Herrschaftssystem der Jahre 1933–1938 mit seinem Selbstverständnis, seinen Gestaltungsabsichten und Strukturen sowie der Gestaltung und Steuerung gesellschaftlicher Bereiche und Beziehungen in die Pluriformität der Ausprägungen faschistischer Herrschaft einordnen“ (S. 586).

Tálos quellengesättigte Studie gibt einen profunden Einblick in innen- und außenpolitische Strukturen des Dollfuß/Schuschnigg-Regimes. Darüber hinaus traut sich der renommierte Forscher an eine klare Begriffsbestimmung. Ob man diese nun teilt oder nicht, so macht Tálos seine Bewertungskriterien transparent und nachvollziehbar und somit zum möglichen Ausgangspunkt für eine breitere wissenschaftliche Debatte. Trotz der Monumentalität des Bandes bleibt auch aufgrund der Regimeprovenienz der Quellen, die Tálos als Basis für seine Studie verwendet, dennoch Platz für weitere, ergänzende Regionalstudien sowie für Forschung hinsichtlich der Repressionsmaßnahmen des Regimes.

Hat es schon Sammelbände über die Zeit des Dollfuß/Schuschnigg-Regimes gegeben, so bringt doch die Monografie aufgrund ihrer Form mehr Stringenz und Klarheit in die historische Abhandlung. „Das austrofaschistische Herrschaftssystem“ füllt eine bisherige Lücke in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den 1930er-Jahren in Österreich und wird mit großer Sicherheit schon bald zum Referenzwerk werden. Sind die Grundpfeiler des Herrschaftssystems abgesteckt, so können nun auch genauere Fragen nach den Brüchen und Kontinuitäten von der Ersten Republik über das Dollfuß/Schuschnigg-Regime über den Nationalsozialismus und letztlich bis hin zur Zweiten Republik untersucht werden.4

Anmerkungen:
1 Emmerich Tálos / Wolfgang Neugebauer (Hrsg.), „Austrofaschismus“. Beiträge über Politik, Ökonomie und Kultur 1934–1938 (Österreichische Texte zur Gesellschaftskritik 18), Wien 1984; Emmerich Tálos / Wolfgang Neugebauer (Hrsg.), Austrofaschismus. Politik – Ökonomie – Kultur. 1933–1938 (Politik und Zeitgeschichte 1), 6. überarb. Aufl., Wien 2012; vgl. auch den 2003 erschienen Sammelband: Günter J. Bischof / Anton Pelinka / Alexander Lassner (Hrsg.), The Dollfuss/Schuschnigg Era in Austria. A Reassessment (Contemporary Austrian Studies 11), New Brunswick, London 2003.
2 Ilse Reiter-Zatloukal / Christiane Rothländer / Pia Schölnberger (Hrsg.), Österreich 1933–1938. Interdisziplinäre Annäherungen an das Dollfuß-/Schuschnigg-Regime, Wien 2012; Florian Wenninger / Lucile Dreidemy (Hrsg.), Das Dollfuß/Schuschnigg-Regime 1933–1938. Vermessung eines Forschungsfeldes, Wien, Köln, Weimar 2013.
3 Wobei Tálos hier was die politischen Gegner/innen betrifft ausführlicher „nur“ auf die NSDAP und die Sozialdemokratie eingeht; die KPÖ und deren Repression durch das Regime werden nur vereinzelt genannt. Vgl. hierfür: Manfred Mugrauer, Die KPÖ im Kampf gegen die austrofaschistische Diktatur, in: Florian Wenninger / Lucile Dreidemy (Hrsg.), Das Dollfuß/Schuschnigg-Regime 1933–1938. Vermessung eines Forschungsfeldes, Wien, Köln, Weimar 2013, S. 41–68.
4 Mit besten Dank für Kommentare und Anmerkungen an Linda Erker und Florian Wenninger.

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