I. Dekel: Mediation at the Holocaust Memorial in Berlin

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Titel
Mediation at the Holocaust Memorial in Berlin.


Autor(en)
Dekel, Irit
Reihe
Palgrave Macmillan Memory Studies
Erschienen
Basingstoke 2013: Palgrave Macmillan
Anzahl Seiten
XII, 196 S., 10 Abb.
Preis
£ 50.00 / $ 80.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Cornelia Siebeck, Berlin / Ruhr-Universität Bochum

Das öffentliche Gedächtnis und seine Institutionen werden meist anhand programmatischer Äußerungen von Akteur/innen und Deutungseliten untersucht: Was soll erinnert werden, warum und auf welche Weise? Jüngst mehren sich jedoch Studien, die sich dem Gegenstand gleichsam ‚von unten’ zu nähern versuchen: Wie gestaltet sich das öffentliche Gedächtnis eigentlich in der Praxis? Mithilfe verschiedenster Methoden aus dem Repertoire der qualitativen Sozialforschung wird dabei nach der (Re-)Produktion von öffentlichem Gedächtnis im Alltag gefragt: nach Strategien historischer Sinnbildung bei der Aneignung und Vermittlung einer jeweiliger Vergangenheit, nach der Interaktion zwischen vorgegebenen Strukturen und eigensinnigen Subjekten, kurz: nach gedächtniskulturellen Aushandlungsprozessen ‚on the ground‘.1

In dieser noch relativ jungen Forschungstradition steht auch Irit Dekels ethnographische Studie „Mediation at the Holocaust Memorial in Berlin“. Die in Israel und den USA ausgebildete Soziologin und Anthropologin hat bei zwei längeren Feldforschungsaufenthalten in den Jahren 2005/06 und 2010/11 Gedächtnispraktiken am ‚Denkmal für die ermordeten Juden Europas’ untersucht. Im Zuge dessen beobachtete sie rund 60 von der Denkmalstiftung veranstaltete Führungen bzw. Workshops und machte zahlreiche Interviews mit Mitarbeiter/innen und Besucher/innen. Zudem sammelte sie Text- und Bildmaterialien zum Thema und untersuchte die mediale Vermittlung vor Ort (vgl. S. 4f., S. 8, S. 24).

Einleitend formuliert Dekel den Anspruch, einen „neuen theoretischen Ansatz“ (S. 1)2 zur Erforschung öffentlicher Gedächtnispraktiken zu entwickeln. Diese will sie als „Phänomen sui generis“ (S. 65) verstanden wissen, das sich wesentlich durch seine Performativität auszeichne. Das öffentliche Gedächtnis sei nicht aus der Wirkmächtigkeit einer jeweiligen Vergangenheit oder eines bloßen Wissens darum zu erklären. Vielmehr müsse es als ein genuin gegenwärtig motiviertes Engagement begriffen werden. So sei etwa das öffentliche Holocaust-Gedächtnis nicht mit den Kategorien einer intergenerationellen Tradierung traumatischer Vergangenheit zu erklären. Vielmehr habe man es mit einem normativen Diskurs in der Gegenwart zu tun, an dem Subjekte auch ohne eingehende kognitive und emotionale Auseinandersetzung mit dem Holocaust aktiv partizipieren könnten (vgl. S. 2).

Da das ‚Denkmal für die ermordeten Juden Europas’ von Beginn an als dezidiert ‚deutscher’ Gedenkort definiert und wahrgenommen wurde, interessiert Dekel sich vor allem für die dortige Performanz deutscher Identität (vgl. S. 5). Das Denkmal versteht sie dabei als eine öffentliche Arena, innerhalb derer Besucher/innen zur aktiven Teilhabe am Holocaust-Gedächtnis eingeladen seien. Daher richtet die Autorin ihre Aufmerksamkeit auf diverse Interaktionsprozesse vor Ort, die sie bei Führungen und Workshops beobachtet hat: unter Besucher/innen, zwischen Besucher/innen und Guides, oder auch zwischen Besucher/innen und den von ihnen vorgefundenen Materialitäten (vgl. S. 6).

In vier Kapiteln bereitet Dekel die von ihr gesammelten Daten aus verschiedenen thematischen Perspektiven auf. Zunächst arbeitet sie gedächtniskulturelle Spezifika des Denkmals heraus (vgl. S. 25ff.). Im Gegensatz zu Gedenkstätten an historischen Orten der NS-Verbrechen repräsentiere das Denkmal nicht das historische Geschehen, sondern vielmehr die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Geschehen. Entsprechend bezögen sich die untersuchten Interaktionen nicht auf den Holocaust, sondern auf den öffentlichen Umgang damit. So würden Besucher/innen in Führungen und Workshops immer wieder dazu animiert, sich diesbezüglich zu positionieren, indem sie ihre Erfahrung mit dem Denkmal artikulieren. Angesichts dessen fragt Dekel nach der „Sprechbarkeit“ („speakability“, S. 65) dieser Erfahrung. Hier identifiziert sie einige diskursive Topoi, an denen sich Sprecher/innen regelmäßig orientierten (S. 65ff.).

Dekel deutet diese hochreflexive Gedächtnispraxis als Symptom einer „neuen Ethik“ (S. 118). In deren Rahmen gelte das öffentliche Gedächtnis zumal an den Holocaust per se schon als „gut“ (ebd.). Jenseits dessen sei es besagter Ethik jedoch nicht um die Einübung konsensualer Meistererzählungen zu tun. Angestrebt werde vielmehr ein pluralistischer Diskurs, in dem unterschiedlichste Deutungen und Narrative der Vergangenheit miteinander in Beziehung treten könnten. Die idealtypische „moralische Karriere“ (S. 137) der Besucher/innen bestehe vor diesem Hintergrund darin, ihre subjektive Beziehung zum Denkmal zu klären, um sie anschließend intersubjektiv zu artikulieren und damit gleich wieder zur Disposition zu stellen. So werde kollektiv eine „Nicht-Abgeschlossenheit“ (S. 28) der öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Holocaust performiert. Als Individuen wiederum könnten sich Besucher/innen über ihre Teilhabe als Mitglieder einer „moralisch reifen Gemeinschaft“ (S. 135) erfahren. Dekel resümiert, dass das ‚Denkmal für die ermordeten Juden Europas’ neue Artikulationsmöglichkeiten deutscher Identität im Verhältnis zum Holocaust ermöglicht habe (vgl. S. 137ff.): Die vor Ort interagierenden Subjekte könnten sich hier als Teil einer pluralistischen Öffentlichkeit konstituieren, die Verantwortung für negative nationale Vergangenheit übernimmt. Dieser neue Identitätsdiskurs, so betont die Autorin abschließend, sei in Deutschland mittlerweile zu einem festen Bestandteil des „kulturellen Inventars metaphorischer Kommunikation“ (S. 173) geworden.

Entlang dieses zentralen Argumentationsstrangs stellt Dekel ebenso vielschichtige wie mitunter weit verzweigte Beobachtungen und Überlegungen an. Dabei beruht ihre Studie offensichtlich auf einer intimen Kenntnis der gedächtniskulturellen Praxis am ‚Denkmal für die ermordeten Juden Europas’. Zudem beeindrucken die breit gefächerten sozial- und kulturwissenschaftlichen Lektüren, die sie auf oft kreative Weise in ihre Analysen einfließen lässt. Hier zieht sie immer wieder auch Autor/innen heran, die bisher nicht zum Literaturkanon akademischer Gedächtnisstudien gehören – aus der Soziologie etwa Erving Goffman oder Eva Illouz.

Allerdings gelingt es Dekel nicht durchgängig, ihre theoretischen Ambitionen, den entsprechend anspruchsvoll angelegten Forschungsgegenstand und ihre empirisches Material leser/innenfreundlich aufzubereiten. Mitunter fällt es schwer, der Autorin bei ihren Interpretationen und Reflexionen zu folgen. Passagenweise verliert sich der Text in immer neuen Fragen, thematischen Aspekten und Referenzen. Vieles wird dabei nur kurz angedacht und dann nicht mehr weiter verfolgt. Darunter leidet die inhaltliche Kohärenz der Darstellung ebenso wie ihre theoretische und argumentative Stringenz.

Nichtsdestotrotz finden sich in Dekels Studie wertvolle Anregungen für Forscher/innen, die öffentliches Gedächtnis als gesellschaftspolitisch motivierte Praxis denken und analysieren wollen. Zugleich bietet ihre ethnographische Arbeit originelle Einblicke nicht nur in gedächtniskulturelle Praktiken und Aushandlungsprozesse am ‚Denkmal für die ermordeten Juden Europas’, sondern auch in den zeitgenössischen bundesrepublikanischen Gedächtnis- und Identitätshaushalt.

Anmerkungen:
1 Vgl. mit sehr unterschiedlichen Fragestellungen und Forschungsansätzen u.a.: Christian Gudehus, Dem Gedächtnis zuhören. Erzählungen über NS-Verbrechen und ihre Repräsentation in deutschen Gedenkstätten, Essen 2006; Bert Pampel, „Mit eigenen Augen sehen, wozu der Mensch fähig ist“. Zur Wirkung von Gedenkstätten auf ihre Besucher, Frankfurt am Main 2007; Kyrre Kverndokk, Pilegrim, turist og elev. Norske skoleturer til døds- og konsentrationsleier, phil. Diss. Linköping 2007; Jackie Feldman, Above the Death Pits, Beneath the Flag. Youth Voyages to Poland and the Performance of Israeli National Identity, New York 2008; Marion Klein, Schülerinnen und Schüler am Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Eine empirisch-rekonstruktive Studie, Wiesbaden 2012; Verena Haug, Pädagogische Kommunikation in (KZ-)Gedenkstätten. Strukturprobleme außerschulischer Erziehung am „authentischen“ Ort und ihre kommunikative Bearbeitung. Dissertation am Fachbereich Erziehungswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main 2013 (Buchpublikation ist in Vorbereitung).
2 Für eine bessere Lesbarkeit habe ich Zitate aus Dekels englischsprachigem Text ins Deutsche übersetzt.