B. Dietz u.a. (Hrsg.): Gab es den Wertewandel?

Cover
Titel
Gab es den Wertewandel?. Neue Forschungen zum gesellschaftlich-kulturellen Wandel seit den 1960er Jahren


Herausgeber
Dietz, Bernhard; Neumaier, Christoph; Rödder, Andreas
Reihe
Wertewandel im 20. Jahrhundert 1
Erschienen
München 2014: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
391 S.
Preis
€ 49,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lutz Raphael, Universität Trier

Die Kontroversen um den angemessenen Umgang der Zeitgeschichte mit dem sogenannten „Wertewandel“ gehen in eine neue Runde.1 Der hier zu rezensierende Sammelband trägt in ganz erheblichem Maße dazu bei, die Debatte auf sicherere empirische und schärfer konturierte theoretische Grundlagen zu stellen. Die Zeitgeschichte beschäftigt sich seit einigen Jahren mit dem Phänomen des „Wertewandels“, der die Zeitgenossen in den 1970er- und 1980er-Jahren in Atem hielt. Rüdiger Graf / Kim Priemel oder Benjamin Ziemann haben stellvertretend für zahlreiche Historikerkollegen kritisch angemerkt, dass Historiker, die sich für die unter diesem Etikett verhandelten Sachverhalte interessieren, den Forschungsergebnissen der Wertewandelforschung bisher weitgehend passiv folgen, ohne sich in der Regel um die Details der zeitgenössischen sozialwissenschaftliche Diskussion zu kümmern, geschweige denn den methodischen Kritiken nachzugehen und die Beschäftigung mit dem dekonstruierten Artefakt „Wertewandel“ einzustellen. Eine kritische Gegenposition gegen beides: kritiklose Übernahme und bedingungslose Ablehnung des ganzen Ansatzes hat das Mainzer Forschungsprojekt „Historische Wertewandelsforschung“ entwickelt und zur Grundlage der eigenen Untersuchungen gemacht. Der Rezensent, dies sei vorab gesagt, teilt diese grundsätzliche Perspektive, und dies hat natürlich die Lektüre dieses Buches beeinflusst.2

Die Aufsätze des Sammelbandes versammeln die Beiträge zweier Tagungen, die vom Mainzer Forscherteam unter Leitung von Andreas Rödder organisiert worden sind. Der Band enthält sozialwissenschaftliche und zeithistorische Studien, die sich entlang zweier großer Achsen bewegen, die eine grundlegende Unterscheidung aufnehmen, welche Rödder in dem einleitenden Aufsatz konzeptionell entfaltet: Es müsse Aufgabe der Zeitgeschichte sein, die beiden Ebenen der historischen Analyse – die Gegenstände der Wertewandelforschung (1. Ordnung) und die Wertewandelsforschung (2. Ordnung) – sorgfältig auseinanderzuhalten und eine auch methodisch eigenständige und vielfältige historische Forschung zum Themenkomplex des Wertewandels zu entwickeln. Im Zentrum einer solchen zeitgeschichtlichen Forschungspraxis sollen zum einen Studien zu Konflikten über die Benennung und Auslegung normativer Orientierungen, zum andern Studien über die Wirksamkeit und Wandel von Wertorientierungen in der sozialen Praxis stehen. Ein drittes Forschungsfeld bildet die Historisierung der sozialwissenschaftlichen Wertewandelsforschung und ihrer zeitgeschichtlichen Spuren. Als konzeptionellen Rahmen für ein solches offenes Forschungsprogramm schlägt Rödder das „Wertewandelsdreieck“ vor, das aus den drei Polen „diskursiv verhandelte Werte“, „institutionelle Rahmenbedingungen“ und „sozialen Praktiken“ gebildet wird.

Dieses offene Konzept ist bewusst anschlussfähig für ganz unterschiedliche sozialwissenschaftliche bzw. geschichtswissenschaftliche Ansätze, und es wird spannend sein zu beobachten, ob es sich als Plattform für künftige Forschungen zu dem weiten Themenfeld bewährt, das von dem zeitgeschichtlichen Schlagwort „Wertewandel“ abgedeckt wird. Jedenfalls bietet es aus Sicht des Rezensenten genug Spielraum für ganz unterschiedliche Perspektiven und Deutungsansätze und es steckt zugleich auch einen begrifflichen Rahmen für weitere Forschungsdebatten ab.

Angesichts des Methodenstreits, ob und wenn wie sich Zeithistoriker eigentlich auf Ergebnisse und Theorien der zeitgenössischen Sozialforschung einlassen sollen, ist es sehr hilfreich, dass gleich vier Beiträge dieses Bandes der „2. Ordnung“, also der Historisierung der sozialwissenschaftlichen Wertewandelsforschung, gewidmet sind. Mit „Theorie und Methode“ der sozialwissenschaftlichen Wertewandelsforschung beschäftigen sich neben dem bereits genannten Aufsatz von Andreas Rödder die Beiträge von Helmut Thome, Ernest Albert und Norbert Grube. Während Thome und Albert aus der Binnensicht soziologischer und psychologischer Wertewandelsforschung kritisch die Geschichte und den aktuellen Stand ihres Forschungsgebiets reflektieren und damit zumal dem Historiker einen sehr guten Einstieg in die verzweigte und komplexe Methoden- und Theoriedebatte dieses Forschungsfeldes bieten, leuchtet der Beitrag von Grube die politischen und weltanschaulichen Grundlagen der Allensbacher Wertewandelsstudien aus. So kann er zeigen, dass es zu einer eher verspäteten Entdeckung und durch konservative Deutungsmuster eingeengte Wahrnehmung sich langfristig wandelnder normativer Orientierungen in der westdeutschen Bevölkerung seitens des Allensbacher Instituts kam. Die Wertewandelsforschung lief dem stillen sozialen Wandel hinterher und blieb im Fall der Allensbacher Untersuchungen Kind der scharfen politisch-weltanschaulichen Deutungskontroversen der 1970er-Jahre. Grube verdeutlicht auch die Bedeutung der transnationalen Verbindungen konservativ-katholischer Sozialforscher für die Anfänge des zunächst europäischen und inzwischen internationalen Forschungsfeldes zum Wertewandel. Eine genauere Untersuchung zur Etablierung dieses Feldes und dessen Folgen für die sozialwissenschaftliche, aber auch unmittelbar politisch-moralische Zeitdiagnose weltweit steht noch aus.

Die drei anschließenden Teile behandeln zwei Themenbereiche, die von der Wertewandelsforschung mit besonderer Aufmerksamkeit bedacht und vor allem in den öffentlichen Debatten um die praktischen Folgen dieser Trends kontrovers bewertet worden sind: Arbeit und Familie. Auch in diesen Beiträgen ist die sozialwissenschaftliche Wertewandelsforschung als Meinungsfaktor und Spiegel der öffentlichen Debatten immer wieder im Hintergrund sichtbar. So zeigen Bernhard Dietz, Isabel Heinemann, Christopher Neumaier und Jörg Neuheiser in ihren Beiträgen, wie die politischen Auseinandersetzungen in der zeitgenössischen Öffentlichkeit der BRD und der USA um Arbeitsmoral, Familienbilder, Eheprobleme in den 1960er- und 1970er-Jahren an Heftigkeit zunahmen, aber nur selten direkte Verbindungen zur sozialwissenschaftlichen Wertewandelsforschung zu beobachten sind. Bei den Konflikten ging es um die Infragestellung bis dahin fraglos akzeptierter Regelungen der Beziehungen zwischen den Geschlechtern, innerhalb der Familien, in Unternehmen, von Bürgern und staatlichen Institutionen. Die empirischen Befunde der einzelnen Aufsätze sind durchaus unterschiedlich. Neuheiser entdeckt in der betrieblichen Praxis links-alternativer Betriebsräte bei Daimler-Benz keineswegs jene Abkehr von den Arbeitswerten, die von den konservativen Demoskopie-Propheten als Zukunftsschreckbild an die Medienwand gemalt wurde. Dietz' Blick auf die zeitgenössischen Kontroversen um Selbst- und Fremdbilder der sogenannten „leitenden Angestellten“ entdeckt ebenfalls eine soziale Welt des mittleren Managements jenseits eindeutiger Wertewandeltrends.

Während also die Studien, die man dem Pol der „sozialen Praxis“ zuordnen könnte, vor allem die Janusköpfigkeit der 1960er- und 1970er-Jahre und die Ambivalenzen normativer Orientierungen betonen, zeichnen die Studien, die sich mit politischen bzw. medialen Kontroversen im Umfeld des „Wertewandels“ beschäftigen, ein scharfkantigeres Bild der Epoche: Sie entdecken das Thema „Wertewandel“ als Kind bereits laufender „culture wars“, wie die gängig Bezeichnung der US-amerikanischen Zeitgeschichtsforschung lautet, wenn es um die vielen Konfrontationen um das gesellschaftlich Sag- und medial Zeigbare in den westlichen Demokratien dieser Jahrzehnte ging. Neumaier und Heinemann beleuchten die harten Konflikte zwischen Konservativen und Liberalen um Familienleitbilder und die rechtlichen Regulierungen von Ehe, Scheidung oder Abtreibung. Christina von Hodenbergs Untersuchung zur Rolle der in den USA, Großbritannien und der Bundesrepublik erfolgreichen Serie „All in the Family“ (deutsche Version: Ein Herz und eine Seele) legt offen, welch hohe Bedeutung der gezielten medialen Verstärkung neuer moralisch-politischer Orientierungen auf dem Feld der Familien- und Geschlechterrollen in einer Situation zukam, in der eine breite Mehrheit der Zuschauer schwankend in ihren Präferenzen und Urteilen war.

Diese genannten neun Aufsätze können alle zusammen als wichtige Beiträge zur laufenden empirischen Forschung über den sogenannten „Wertewandelschub“ zwischen den 1960er- und 1970er-Jahren gelesen werden. Sie stecken in der Tat das eingangs als Konzept genannte „Dreieck“ ab und diskutieren durchaus kontrovers die Schlüssigkeit der sozialwissenschaftlichen These vom „Wertewandelschub“.

Sie werden ergänzt durch weitere Beiträge, die nur in lockerer Form mit dem zentralen Thema verknüpft sind. Hier ist es schwieriger, den roten Faden einer methodisch und konzeptionell neuen historischen Wertewandelsforschung zu entdecken. Vielfach sind es herkömmliche ideen-, diskurs- oder begriffsgeschichtliche Beiträge zu „Werten“ im weiteren Sinne. Ob es sich nun um die Veränderungen in der Bewertung der Humangenetik, des Schwangerschaftsabbruchs, des altsprachlichen Gymnasialunterrichts, der „bürgerlichen Werte“ in der historischen Bürgertumsforschung oder des katholischen Familienideals handelt, immer greift der Untersuchungshorizont weit über die 1960er-Jahre zurück. Doch die daraus sich ergebenden Chancen zur vergleichenden Einordnung des „Wertewandels“ werden eigentlich nicht genutzt. Denn leider bleiben die Bezüge zum übergreifenden Thema eher vage. Eher vereint diese Beiträge das Interesse daran, konservativ-bürgerlichen bzw. christlich geprägten Wertorientierungen und deren „Erosion“ bzw. Wandel im 20. Jahrhundert nachzuspüren. Sie leuchten also Wirklichkeitsausschnitte aus, die alle für die Debatte um den „Verlust bürgerlicher Werte“ im 20. Jahrhundert wichtig sind. Aus konservativer bzw. konservativ-katholischer Sicht sind diese „bürgerlichen Werte“ immer wieder als wichtiges Element jener „haltenden Kräfte“ (Hans Freyer) evoziert worden, denen man angesichts sich beschleunigender Prozesse sozialen Wandels fundamentale Ordnungs- und Sinnstiftungsfunktionen zuschrieb. Die Beiträge sind aber insgesamt thematisch zu breit gestreut und in den gewählten Fragestellungen zu heterogen angelegt, um so etwas wie das Feld künftiger Wertewandelsforschung überzeugend abstecken zu können. Fairerweise muss aber hinzugefügt werden, dass damit auch zu viel verlangt würde. Stattdessen schlägt der Band wichtige Schneisen in noch unerschlossenes Forschungsterrain und bringt eine wichtige zeitgeschichtliche Debatte auf den neuesten Stand!

Anmerkungen:
1 Rüdiger Graf / Kim Priemel, Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaften, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VfZ) 59 (2011), S. 479–508, insbesondere S. 486ff.; Benjamin Ziemann, Sozialgeschichte und empirische Sozialforschung, in: Pascal Maeder / Babara Lüthi / Thomas Mergel (Hrsg.), Wozu noch Sozialgeschichte? Eine Disziplin im Umbruch, Göttingen 2012, S. 131–149, hier S. 138; Bernhard Dietz / Christopher Neumaier, Vom Nutzen der Sozialwissenschaften für die Zeitgeschichte. Werte und Wertewandel als Gegenstand historischer Forschung, in: VfZ 60 (2012), S. 293–304.
2 Jenny Pleinen / Lutz Raphael, Zeithistoriker in den Archiven der Sozialwissenschaften. Erkenntnispotenziale und Relevanzgewinne für die Disziplin, in: VfZ 62 (2014), S. 173–196, insb. S. 176–184.

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