Titel
Risk. Negotiating Safety in American Society


Autor(en)
Mohun, Arwen
Erschienen
Anzahl Seiten
344 S.
Preis
€ 44,34
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Itzen, Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS), Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Kann man auf knapp 260 Seiten eine Geschichte des Risikos der vergangenen 300 Jahre schreiben, ohne dabei in allzu generelle Betrachtungen abzugleiten? Diese Frage stellt sich, wenn man das neue kompakte Buch der amerikanischen Sozialhistorikerin Arwen Mohun aus Delaware über „Risk. Negotiating Safety in American Society“ zur Hand nimmt. Dieses Wagnis gelingt Mohun in formidabler Weise. Das Buch ist kompakt, geht dabei differenziert mit seinem Gegenstand um und ist darüber hinaus zum Teil sogar spannend zu lesen. Mohuns Buch beruht auf zahlreichen eigenen und fremden Vorarbeiten, zugleich ist die Studie jedoch in weiten Teilen quellenbasiert und arbeitet oft mit Fallbeispielen, die konkret fassbar machen, wie Menschen zu unterschiedlichen Zeiten mit Gefahren umzugehen versuchten.

Worum geht es, und was lässt sich aus dem Buch von Mohun lernen? Zunächst ist da die Vielzahl der Themen, bei denen Risiken seit dem frühen 18. Jahrhundert eine Rolle gespielt haben. Lebensrisiken zu bewältigen, ist eine der großen Herausforderungen für einzelne Menschen und Gesellschaften, und welche Lösungen dabei gesucht und ausgehandelt wurden, war nicht nur bezeichnend für das Maß an Sicherheit und Schutz, das als gesellschaftlich notwendig betrachtet wurde, sondern hatte vor allem Einfluss darauf, wie sich die Gesellschaft organisierte und bestimmte (sehr oft staatliche) Institutionen herausbildete. Die Vielfalt der Alltagsrisiken – Mohun beschäftigt sich mit so unterschiedlichen Themen wie Krankheiten, Unbilden des Wetters, Verkehrsunfällen, Schusswaffenbesitz und Achterbahnen – ist aus der Risikoforschung der Sozialwissenschaften gut bekannt. Die Stärke dieses Buches besteht darin, die Ergebnisse eigener oder fremder Spezialstudien zu bündeln und zu erweitern und zugleich allgemeine sozialwissenschaftliche Überlegungen zur Natur von Risiken in modernen Gesellschaften mit einer wohltuenden historischen Tiefenschärfe zu versehen. Es überrascht wenig, dass sie dabei überzeugend mit (nicht zuletzt in Deutschland) immer noch recht verbreiteten Vorstellungen aufräumt. Die seit den 1980er-Jahren einflussreiche Lesart eines grundlegenden Paradigmenwechsels mit dem Anbruch der Moderne hält ihrer Ansicht nach geschichtswissenschaftlichen Befunden nicht stand. Diese zeigen vielmehr, dass schon in der Frühen Neuzeit systematisch über Risiken nachgedacht wurde und diese keinesfalls stets oder sogar ausschließlich in religiösen Kontexten gedeutet wurden. Allerdings standen Menschen des frühen 18. Jahrhunderts nicht die gleichen Mechanismen und Strukturen zum Umgang mit Risiken zur Verfügung, wie dies im 19. und 20. Jahrhundert der Fall war. Unter diesen Bedingungen bildete sich eine Populärkultur im Umgang mit Risiken heraus (Mohun bezeichnet sie als „venacular risk culture“), die sehr oft auf Erfahrungswissen und Verhaltensregeln setzte. Das änderte aber nichts daran, dass ein großes, geradezu wissenschaftliches Bedürfnis bestand, sich mit Risiken und ihrer Vermeidung zu befassen, wie sich etwa bei den vielfältigen und für die Frühe Neuzeit sehr wichtigen Bemühungen zeigte, das Wetter vorherzusagen.

Vor allem aber zeigt Arwen Mohun die starke Beharrungskraft dieser Populärkultur. Viele der Konflikte und Debatten um Risiken im 19. und 20. Jahrhundert erklären sich aus dieser Tradition im Umgang mit Risiken. Eine neue, moderne Risikokultur setzte sich nur langsam durch – und oft in einem interessanten Mischungsverhältnis zwischen alten und neuen Lösungsansätzen. Selbst Verfechter neuer Verfahren wie der Pockenimpfung – ein Ansatz, der überkommenden Regeln im Umgang mit Infektionskrankheiten fundamental widersprach – setzten auf die Kombination alter und neuer Praktiken, und auch der im 19. Jahrhundert neu entstehende Stand der Experten, die im Zeitalter der Industrialisierung Gefahren beim Eisenbahnfahren und auf der Arbeit so weit wie möglich zu bannen versuchten, waren mit dieser Populärkultur konfrontiert, ja vertraten diese Ansichten zum Teil sogar selbst.

Der Umgang mit Risiken veränderte sich trotzdem – und Prozesse der Verwissenschaftlichung, der Industrialisierung und der Kommerzialisierung spielten dabei eine zentrale Rolle: Experten schufen die begründete (oft statistische) Grundlage für ein anderes Risikomanagement, wirtschaftliche und technische Veränderungen führten zu einem Wandel und einer Erweiterung von Risiken, und Konsumgesellschaft und Kommerzialisierung erlaubten einen zunehmend kalkulatorischen Umgang mit ihnen: Versicherungen schufen aus Risiken einen neuen Markt, und Versicherungsnehmer konnten sich gegen die finanziellen Gefahren von Risiken absichern.

Oft waren es jedoch die Risiken selbst, deren großes und für die amerikanische Gesellschaft nicht mehr akzeptables Ausmaß zu drastischen Veränderungen führte. Dies galt zum Beispiel für den Umgang mit Verkehrsunfällen. Sie stellten in den Anfangsjahrzehnten des 20. Jahrhunderts nicht nur das größte Alltagsrisiko in der amerikanischen Gesellschaft dar. Der Versuch, sie einzudämmen und das Risiko des Straßenverkehrs beherrschbarer zu machen, ließ auch die Rolle des Staates dramatisch ansteigen. In fast keinem anderen Teilbereich des Alltagslebens haben US-Amerikaner so viel mit dem Staat zu tun wie bei der Regulierung des Straßenverkehrs. Dieser Befund steht in einem interessanten Gegensatz zur Bedeutung von Schusswaffen in den Vereinigten Staaten, und in der Tat ist es ein Rätsel, wieso eine Gesellschaft mit guten Gründen zwar engmaschige Regulierungen des fraglos gefährlichen Straßenverkehrs schafft, jedoch höchstens laxe Bestimmungen zum Waffenbesitz. Arwen Mohun vermutet, der Besitz von Schusswaffen werde in den Vereinigten Staaten weniger stark als Element einer Risikogesellschaft gesehen, so dass die schrittweisen Anpassungen an moderne Gefahren hier kaum greifen konnten.

Mohuns Resümee nach dem Parforceritt über 300 Jahre amerikanische Risikogeschichte ist ambivalent. Die Assoziationen, die sich an bestimmte Risiken binden, haben sich im Verlauf der vergangenen Jahrhunderte gewandelt, und das erklärt die unterschiedliche Heftigkeit, mit der über bestimmte Risiken debattiert wurde. Der Wunsch nach Sicherheit und die Diskussionen über Gefahren prägten den modernen amerikanischen Staat und die amerikanische Rechtsprechung wesentlich mit, und die neu entstandene Expertenkultur setzte im Umgang mit Risiken auf Akkumulation von Wissen anstatt auf Erfahrungen. Zugleich erzählt Mohun jedoch auch eine Geschichte, in der sich manches überraschend wenig ändert. Menschen scheinen es, argumentiert Mohun, in bestimmten Situationen immer noch sehr zu genießen, Risiken einzugehen, und sie scheinen oft immer noch stark von der Annahme auszugehen, dass es die individuelle Leistungsfähigkeit eines Menschen ist, die Risiken am besten zu beeinflussen vermag. Tatsächlich gewinnt man an manchen Stellen von Mohuns Buch den Eindruck, dass es wichtige kulturelle Faktoren in der Risikogeschichte gibt, die sich nur schwierig in analytische Kategorien fassen lassen. ‚Spaß‘ ist einer dieser Faktoren, die verständlich machen, wieso Menschen immer noch Risiken eingehen und zum Teil sogar bereit sind, dafür zu zahlen, wobei sie oft der Illusion anhängen, der kommerzielle Anbieter dieser Risikoerfahrung sorge für die Sicherheit. Damit bietet sich, wie Mohun argumentiert, die Möglichkeit, „thrills“ und „safety“ zugleich zu erleben – eine grundlegend neue Erfahrung gegenüber frühmodernen Lebenswelten.

Mohuns Studie bietet einen exzellenten Überblick über die amerikanische Geschichte des Risikos. Es ist die erste geschichtswissenschaftliche Arbeit, die die Geschichte von Risiken und Gefahren in den Vereinigten Staaten aus der Vogelperspektive zu erzählen versucht. Damit leistet sie nicht nur einen Beitrag dazu, differenzierter über Themen der Risikogeschichte nachzudenken, sondern bietet für europäische Sozialhistoriker eine interessante Vergleichsperspektive an.

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