Integration von Infrastrukturen in Europa

: Integration von Infrastrukturen in Europa im historischen Vergleich. Band 1: Synopse. Baden-Baden 2013 : Nomos Verlag, ISBN 978-3-8487-0079-0 238 S. € 39,00

: Integration von Infrastrukturen in Europa im historischen Vergleich. Band 2: Telekommunikation (Telefonie). Baden-Baden 2013 : Nomos Verlag, ISBN 978-3-8487-0088-2 428 S. € 79,00

: Integration von Infrastrukturen in Europa im historischen Vergleich. Band 3: Post. Baden-Baden 2013 : Nomos Verlag, ISBN 978-3-8487-0221-3 426 S. € 79,00

: Trains across borders. Comparative studies on international cooperation in railway development / Integration von Infrastrukturen in Europa im historischen Vergleich. Band 4: Eisenbahn. Baden-Baden 2013 : Nomos Verlag, ISBN 978-3-8487-0855-0 303 S. € 54,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jens Ivo Engels, Institut für Geschichte, Technische Universität Darmstadt

Zur Besprechung gelangen vier Bücher, die sämtlich aus dem maßgeblich von Gerold Ambrosius in Siegen durchgeführten DFG-Projekt „Integration von Infrastrukturen in Europa vor dem Ersten und nach dem Zweiten Weltkrieg im Vergleich“ hervorgegangen sind. Vorgelegt sind damit drei empirische Studien zu wichtigen Infrastruktursystemen, nämlich zur Eisenbahn (Schiefelbusch), zur Post (Benz) und zur Telekommunikation (Ahr), sowie die „Synopse“ genannte Zusammenfassung der Projektergebnisse in einem eigenen Band (Ambrosius/Henrich-Franke). Die Arbeiten von Benz und Ahr sind zugleich Dissertationen, während der von Schiefelbusch vorgelegte Band drei Fallstudien in lockerer Folge enthält (davon eine in Ko-Autorschaft mit Sonja Ziener, zusätzlich ein kurzer Kommentar von Christian Henrich-Franke).

Drei weitere Studien aus dem Projekt zur Binnenschifffahrt, zu Pipelines und zum Funk stehen noch aus. In dem noch jungen, doch durchaus boomenden Feld der historischen Infrastrukturforschung sind diese Arbeiten durchaus mit Spannung erwartet worden. Und sie markieren gemeinsam eine wichtige wissenschaftliche Leistung in diesem Feld, die in dieser Dichte und empirischen Fundierung vermutlich auf längere Zeit ihres gleichen sucht.

Infrastrukturen und Integration sind ein Begriffspaar, das in der Infrastrukturforschung über die Siegener Gruppe hinaus in den vergangenen Jahren viel Beachtung gefunden hat. Denn technischen Infrastrukturen wird seit den technikbegeisterten Saint-Simonisten des frühen 19. Jahrhunderts die Fähigkeit zugeschrieben, Gesellschaften und ganze Nationen zu integrieren. In der seit den 1990er-Jahren aufgekommenen Debatte über den sogenannten „splintering urbanism“ beklagen Stadt- und Urbanisierungsforscher einen Verlust der sozialintegrativen Funktion von städtischen Infrastrukturen, seitdem viele Dienste privatisiert wurden und damit in zunehmenden Maße nur solventen Bevölkerungsteilen zugänglich seien. In der von der EU geförderten Verbundforschung „Tensions of Europe“ untersuchten in den Jahren seit der Jahrtausendwende Historikerinnen und Historiker Projekte grenzüberschreitender technischer Infrastrukturen in Europa als Vorgänger der politischen Integration in E(W)G und EU. Dies ist wichtig, um das Profil des Siegener Projekts zu verstehen: Hier standen nicht politische oder soziale Integration im Fokus, sondern die Integration von technischen Infrastrukturen selbst. Mithin geht es nicht um eine ‚hinter‘ dem Infrastrukturbetrieb gelegene oder durch Infrastrukturmaßnahmen angepeilte Politik, sondern um die Regulierung der technischen Artefakte selbst.

Daraus folgt: Integration meint im Siegener Projekt vor allem Standardisierung von technischen und rechtlichen Parametern als Voraussetzung für die eigentliche grenzüberschreitende Integration. Letztere messen die Autorinnen und Autoren vor allem in zwei Kategorien, nämlich der „Interkonnektivität“, womit sie die Herstellung von Verbindungsstücken über Grenzen hinweg meinen, sowie „Interoperationalität“, mithin eine Integration auf höherem Niveau, eine Form der „Verschmelzung“ der nationalen Infrastruktursysteme – gemeint sind hier integrierte Betriebsabläufe wie etwa grenzüberschreitende Fernreisezugverbindungen, die nur möglich sind, wenn diese Interoperationalität gegeben ist (hierzu insbes. Ambrosius/Henrich-Franke, S. 13).

Freilich interessieren sich die Autorinnen und Autoren nicht ausschließlich für Ergebnisse, sondern vor allem für den Weg zur Standardisierung, also für die Entscheidungsprozesse, die Akteure und ihre Motive sowie die politisch-ökonomischen Rahmenbedingungen („Strukturen“), in denen diese Akteure handelten.

Schon diese wenigen Bemerkungen deuten an, in welchem methodischen Umfeld sich die Studien bewegen: Sie sind stark an ökonomischen Herangehensweisen orientiert. Die hohe Präsenz rigoroser und abstrakter Konzepte hat den Vorteil, dass sie über die Einzelstudien hinweg ein gemeinsames Grundgerüst aller Forschungen bilden.

Auf der Grundlage dieses Instrumentariums ist es denn auch möglich, das hervorstechende Merkmal dieser Forschungen zu modellieren, nämlich den diachronen und sektorenübergreifenden Vergleich. Alle Einzelstudien widmen sich zwei Zeiträumen, den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg und den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie kontrastieren damit auf gelungene Weise die Welt des nationalstaatlichen Europa der Hochindustrialisierung mit der zunehmend postnational und von europäischer Integration dominierten Phase in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Während sich die Einzelstudien konsequent an diese Zweiteilung halten, weisen entsprechende Passagen in der Synopse aber auch auf die große Bedeutung der Zwischenkriegsphase hin, in der oftmals unter dem Dach des Völkerbundes Strukturen internationaler Infrastruktur-Koordination entstanden, welche nach dem Zweiten Weltkrieg fort wirkten. Damit bestätigt der Band ähnliche Befunde in anderen Forschungszusammenhängen über die Rolle des Völkerbundes. Für den Bereich des Verkehrs (zur Schifffahrt liegt die entsprechende Einzelstudie noch nicht vor) konstatiert die Synopse sogar eine entscheidende Weichenstellung unter den Auspizien des Völkerbundes, nämlich die Entstehung von zwei Linien internationaler Kooperationsstrukturen, von denen eine intergouvernemental organisiert war und die andere die privatwirtschaftlichen Akteure zusammenbrachte (Ambrosius/Henrich-Franke, S. 41–44).

Generell wird immer wieder die Frage nach dem Verhältnis von „Inhalten“, „Prozessen“ und „Strukturen“ aufgeworfen und beantwortet. Dabei geht es darum zu klären, wie diese Faktoren aufeinander einwirkten (z.B. Ahr, Kap. 4.2; Benz Kap. IV.2). Vor allem Prozesse und Strukturen scheinen mir dabei sehr holzschnittartig gegenübergestellt – die Strukturierungstheorie von Giddens mitsamt der nachfolgenden Debatte ist den Autorinnen und Autoren offenbar nicht bekannt.1

Der sozialwissenschaftlich geprägte Duktus der Untersuchungen bringt es mit sich, dass Definitionen, Begriffsklärungen, Fragestellungen und Ergebnisse gerade im Vergleich mit anderen historischen Arbeiten sehr klar sind. Dazu gehört die Neigung, Ergebnisse nicht selten in Form von Tabellen oder Spiegelstrichlisten zu präsentieren. Das erleichtert es dem eiligen Leser, die wichtigsten Informationen schnell zu erfassen. Zu den Kosten dieses Verfahrens gehört allerdings ein Verlust an darstellerischer Ambition und methodischer Individualität der Einzelstudien. Auch kommt die Reflexion über die Berechtigung des Ansatzes zu kurz, vor allem gilt das natürlich für die drei Einzelstudien, weniger für die Synopse.

Alle vier Studien legen wenig Wert darauf, über die historische Infrastrukturforschung hinaus anschlussfähige Angebote an die aktuellen Debatten in der Geschichtswissenschaft zu machen – was auch die zum Teil (insbesondere für Dissertationen) erstaunlich kurzen Literaturverzeichnisse widerspiegeln. Das ist bedauerlich, weil das zeitlich und geographisch breit angelegte Design und die Ergebnisse durchaus einiges Potenzial bieten – etwa im Kontext der Debatten über die industrielle Hochmoderne, den Zäsurcharakter der 1970er-Jahre, die beiden Globalisierungswellen um 1900 und ab 1970, die Bedeutung von Experten und Expertise in den unterschiedlichen Phasen der Wissensgesellschaft ab ca. 1900. Hierzu positionieren sich die Autoren leider nicht.

Welches sind nun die wichtigsten Ergebnisse? Dazu gehört bei den hier besprochenen Büchern, das sei vorweg gesagt, eine große Bereitschaft, die Unterschiede in den einzelnen Infrastruktursektoren deutlich zu machen und zu benennen. Jeder ‚Fall‘ gehorchte unterschiedlichen Bedürfnissen und Logiken. Dennoch arbeiten die Autorinnen und Autoren sektoren- und epochentypische Merkmale heraus.

Insgesamt ist über den gesamten Zeitraum eine Zunahme von Komplexität festzustellen, und zwar hinsichtlich der technischen wie rechtlichen Erfordernisse, aber auch hinsichtlich der beteiligten Akteure und der politischen Prozesse. Das hat den Koordinationsaufwand in der Summe deutlich ansteigen lassen, wie das Beispiel Postverkehr zeigt: Vor dem Ersten Weltkrieg herrschten hier letztlich staatliche Monopole und Regierungsvertreter dominierten, während die Koordinationsaufgaben nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend auf Fachleute verlagert wurden, bevor schließlich Ende des 20. Jahrhunderts die Liberalisierung bzw. Privatisierung die Zahl der beteiligten Akteure explodieren ließ (Benz).

Bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein, so eine weitere Gemeinsamkeit, waren die nationalen Regierungen letztlich die entscheidenden Akteure, die in bilateralen Prozessen darüber entschieden, ob ein transnationales Infrastrukturprojekt Erfolg hatte oder scheiterte. Ausreichende öffentliche Finanzierung war vor allem im Verkehrssektor die entscheidende Voraussetzung (insbesondere Schiefelbusch). Politische Programme und Visionen, so ein weiteres Ergebnis der Arbeiten, hatten allein nur selten ausreichend Gewicht, um größere Standardisierungen durchzusetzen – entscheidend waren immer die konkrete Nachfragesituation und ob etablierte ‚Autoritäten‘ für ein Projekt gewonnen werden konnten.

Auch für die Telekommunikation hebt die Studie von Ahr hervor, wie wichtig konkrete wirtschaftliche Interessen als Motivation für internationale Standardisierung waren. Mit Blick auf die Epoche vor dem Ersten Weltkrieg, so stellt diese Arbeit weitgehend im Gleichklang mit den anderen fest, hatten nationalistische Ressentiments keinen negativen Einfluss auf Integrationsprozesse, wohl aber waren diese geprägt von dem Bestreben staatlicher Akteure, ihre nationalen Souveränitätsrechte zu bewahren.

Zu den Autoritäten, die für eine erfolgreiche Integration gewonnen werden mussten, so stellen die Studien ebenfalls heraus, gehörten spätestens ab dem zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts zunehmend technische Experten, die in der Regel international und national gut vernetzt waren. Sie bildeten „epistemische Gemeinschaften“ (so die einheitliche Benennung im Projekt), innerhalb derer sie höchst erfolgreich informelle Einflusspolitik treiben konnten. Das Scheitern der frühen gemeinsamen Verkehrspolitik der E(W)G geht zu großen Teilen auf das Konto dieser Expertennetze zurück (Schiefelbusch, Kap. II sowie Ambrosius/Henrich-Franke, S. 185–203). Ambrosius und Henrich-Franke bedienen sich zur Erklärung dieses Scheiterns des Konzepts der „Pfadabhängigkeit“. Dieses ermöglicht es ihnen unter anderem darzustellen, warum die Experten zunächst nicht geneigt waren, die Lösung von Standardisierungsaufgaben in neuen Kategorien zu denken.

Über die Sektoren hinweg betonen die Autorinnen und Autoren, dass die Herausforderung im späten 19. Jahrhundert ganz grundsätzlich darin bestand, miteinander international verbundene technische Systeme überhaupt erst einmal zu entwickeln bzw. zu ‚denken‘. Dagegen präsentierte sich die Situation in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewandelt. Notwendigkeit und Wünschbarkeit transnationaler Kooperation im Infrastrukturbereich waren nun weder neu noch zu bezweifeln – doch der Weg zu gedeihlichen und einvernehmlichen Lösungen blieb lang und steinig.

Zu den Blindstellen des Gesamtprojekts gehört das östliche Europa. Leider wurde nicht die Chance ergriffen, in einem derart groß angelegten Projekt die besondere Situation Europas in der Epoche der Teilung und der Blockkonfrontation einzubeziehen. Dabei hätte unter anderem die Validität der ökonomischen Annahmen unter den Bedingungen des „real existierenden Sozialismus“ geprüft werden können. Freilich sind derartige Forderungen aus der Außenperspektive leicht zu erheben. Mir ist bewusst, dass man dafür auch entsprechende Fachexpertise benötigt. Dennoch wäre es lohnenswert gewesen, die spannenden Einzelbeobachtungen, welche es zur Infrastruktur-Integration Ost-West-Perspektive gibt, einer systematischen Überprüfung zu unterziehen.2

Die zu besprechenden Bücher sind als Band 16 bis 19 der „Schriftenreihe des Instituts für Regionalforschungen“ in Siegen unter Herausgeberschaft von Gerold Ambrosius erschienen. Sie vermitteln damit bereits in äußerer Erscheinung und Aufmachung einen Eindruck, der sich auf inhaltlicher Ebene weitgehend bestätigt: So beziehen sich sämtliche Autoren konsequent auf die gleichen Annahmen, Methoden, Konzepte und Verfahren bis hinein in die Formulierungen (etwa ist stets von „Epoche I“ und „Epoche II“ die Rede) – so wie sie in dem Synopse-Band vorgestellt werden. Das verleiht dieser kleinen Buchreihe eine sehr hohe Kohärenz und den Gesamtergebnissen ein großes Gewicht. Unbestreitbar ist es eine bemerkenswerte Leistung der Projektleiter Ambrosius und Henrich-Franke, Mitarbeiter und Doktoranden konsequent auf das gemeinsame Forschungsdesign ‚einzuschwören‘, ihnen das dafür notwendige Handwerkszeug zu vermitteln und im Ergebnis eine Reihe von Büchern vorlegen zu können, die sich alle auf gleich hohem Niveau bewegen und in vielen Kapiteln miteinander korrespondieren – so kann man die Kapitel durchaus auch quer durch die Bücher lesen, insbesondere bei den beiden Doktorarbeiten.

Bei aller Hochachtung für diese mustergültig durchgeführte und mit den Publikationen öffentlich dokumentierte Verbundforschung befällt den Rezensenten doch ein gewisses Unbehagen. Dies ist sicher dem Umstand geschuldet, dass man bei der ‚geballten‘ Lektüre dieser vier Studien kaum ein Überraschungsmoment erlebt, sofern man mit dem Synopsen-Band beginnt, der die wichtigsten Ergebnisse umfassend präsentiert. Dagegen können und wollen die anderen Studien gar nicht aufbegehren. Selbstverständlich finden sich in den Fallstudien der drei anderen Bände jeweils individuelle Erkenntnisse, aber der Referenzrahmen bleibt identisch. Das ist deswegen bedauerlich, weil es sich zumindest bei den beiden Dissertationen um Qualifikationsarbeiten handelt, die für die Nachwuchsforscherinnen und -forschern im Idealfall die Grundlage für ein eigenständiges wissenschaftliches Profil legen sollten.

Die Mehrzahl der Fachhistorikerinnen und Fachhistoriker in Deutschland dürfte annehmen, dass die Doktorarbeit ein nicht nur eigenständiges, sondern auch höchst individuell geprägtes Werk sein sollte. Diesen Anspruch mit den Anforderungen der Verbundforschung zu versöhnen, bleibt eine große Herausforderung für Projektleiter und -mitarbeiter in ihrer je unterschiedlichen Rolle.

Anmerkungen:
1 Anthony Giddens, The Constitution of Society. Outline of the Theory of Structuration, Cambridge 1984.
2 Etwa einige Beiträge in Ralf Roth / Karl Schlögel (Hrsg.), Neue Wege in ein neues Europa. Geschichte und Verkehr im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2009.

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