E. Pezo: Zwangsmigration in Friedenszeiten

Titel
Zwangsmigration in Friedenszeiten?. Jugoslawische Migrationspolitik und die Auswanderung von Muslimen in die Türkei (1918 bis 1966)


Autor(en)
Pezo, Edvin
Reihe
Südosteuropäische Arbeiten 146
Erschienen
München 2013: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
374 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Zoran Janjetović, Institut za noviju istoriju Srbije, Belgrad

Die Aussiedlung von Albanern in die Türkei gehört zu einem der heikelsten Themen in dem so konfliktreichen serbisch-albanischen Beziehungsgeflecht. Während die serbische Seite hauptsächlich den mehr oder minder erzwungenen Exodus der Serben aus dem Kosovo und Metochien ins Feld führt, stellt die albanische Seite die Aussiedlung von Muslimen aus dem jugoslawischen Raum als Pendant dem gegenüber, wobei sie den Großteil der Ausgesiedelten automatisch zu Albanern erklärt. Diese Einseitigkeit beider historiographischen Lager versucht der Regensburger Historiker (mit Wurzeln auf dem Balkan) Edvin Pezo, in seiner Dissertation zu überwinden, indem er unter anderem die Türken und die Türkei, sowie die Mazedonier, Bosniaken und Torbeschen mit einbezieht. Damit ist er nicht der erste, jedoch ist diese Arbeit in ihrer Fülle an Quellen und relevanter Literatur, sowie im spürbaren Bestreben nach Objektivität und kritischer Analyse sowohl der historiografischen Vorlagen, als auch deren Quellengrundlagen, erfolgreicher als andere.

Pezos Arbeit besteht aus acht Teilen mit je einem Fazit, wobei sie zwei einzelne, ganz unterschiedliche Perioden der muslimischen Emigration in Richtung Türkei abdeckt – einmal die Zwischenkriegszeit, dann die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Er beschäftigt sich mit den Muslimen des Kosovo, Metochiens und Mazedoniens, also hauptsächlich Albanern, Türken und Torbeschen (mazedonischsprachigen Muslimen), während er die Bosniaken des Sandžaks und Bosnien-Herzegowinas nur als Kontext behandelt. Dieser Unterschied ist nicht willkürlich gewählt, sondern beruht direkt auf dem Verständnis der jugoslawischen Eliten, dass im “Staat der Südslawen” (Jugoslawien) Türken und Albaner ein fremdes Element darstellen, slawische Muslime jedoch nicht – obwohl auch diese Gruppe in Mazedonien zum Teil vom Abwanderungsprozess erfasst wurde. Diese Auffassungen, wie auch das Idealraumbild Serbiens seitens der serbischen intellektuellen Elite Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts werden in der Einleitung dargestellt, in welcher vom Autor auch Phasen für eine Migrationsgeschichte der Muslime in die Türkei vorgeschlagen werden. Daneben findet sich eine kritische Einschätzung der bestehenden Literatur und der zugänglichen Quellen.

Der zweite Teil trägt den zur Vorsicht im Umgang mit unvollständigem und unzuverlässigem Zahlenmaterial mahnenden Titel „Statistische Annäherung“. Indem Pezo eine Vielzahl von Quellen benutzt und die bisherige Literatur kritisch bewertet, unternimmt er den Versuch die Frage nach der Anzahl der muslimischen Aussiedler zu beantworten. Dabei relativiert er überzeugend die übertriebenen Zahlen, welche die albanische bzw. pro-albanische Geschichtsschreibung anführt. Seine fundierte Schlussfolgerung ergibt daher für die Zwischenkriegszeit 60.000 bis 70.000 muslimische Aussiedler aus Jugoslawien. Unter diesen befanden sich zwischen 24.000 und 35.000 Albaner – also um ein Vielfaches weniger, als in den Werken albanischer Autoren zu finden ist. Ebenso hat Pezo auf Grundlage aussagekräftiger Dokumente für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg eine weit geringere Anzahl an Aussiedlern festgestellt. So hat er für den Zeitraum von 1951–56 nach offiziellen Angaben 92.564 Aussiedler angeführt, wovon Pezo aber annimmt, dass darunter höchstens 25.500 bis 34.000 Albaner waren.

Anschließend behandelt er die staatliche Migrationspolitik – also Ziele, Vorstellungen und Wünsche, mit denen staatliche Stellen die Aussiedlungspolitik in der Zwischenkriegszeit und nach dem Zweiten Weltkrieg gestalteten. Der Autor weist auf die Faktoren hin, die sowohl im Land selbst, als auch im Ausland (vor allem in der Türkei) den Anstieg bzw. den Rückgang der Aussiedlerzahlen, sowie die Haltung der Machthaber gegenüber den Muslimen beeinflusst haben. Die jugoslawischen Behörden erleichterten in den 1920er-Jahren die Aussiedlung von jenen Minderheiten, die als schwer zu assimilieren galten. Für die Nachkriegszeit führt Pezo einige push- und pull-Faktoren an, die sich in den ersten zwei Jahrzehnten im sozialistischen Jugoslawien auf die Intensität der Abwanderung in die Türkei ausgewirkt haben. Besonderes Augenmerk gilt der Vergabe bzw. dem Verlust der Staatsbürgerschaft, wie auch praktischen und rechtlichen Fragen, die mit der Rückwanderung im Kontext der Migrationspolitik verbunden sind.

Der vierte Teil des Buchs widmet sich den verschiedenen außen- und innenpolitischen, ökonomischen, religiösen, familiären und ideologischen Faktoren, welche Muslime dazu bewog auszuwandern. Darin findet sich eine Zusammenfassung zur jugoslawischen und türkischen Emigrations- bzw. Immigrationspolitik, sowie zu den albanischen Versuchen darauf Einfluss zu nehmen. Darauf folgt eine Darstellung der juristischen Ergebnisse der politischen Bemühungen in Gestalt der jugoslawisch-türkischen Konvention zur Aussiedlung nichtslawischer Muslime von 1938 sowie das „Gentlemen’s Agreement“ zum selben Zweck von 1953. Bei letzterem stehen weitaus weniger direkte Quellen zur Verfügung, weshalb Pezo diese Frage hauptsächlich indirekt beantworten muss, indem er sie in Zusammenhang sowohl mit den inneren jugoslawischen Entwicklungen, als auch den Beziehungen zur Türkei und der allgemeinen internationalen Situation stellt.

Agrarreformen und Kolonisierungsprojekte analysiert Pezo als Migrationsbewegungen induzierende Politikelemente. Diese Verbindung war in der Zwischenkriegszeit besonders wichtig, obwohl die jugoslawische Politik gegenüber dem ländlichen Raum auch nach dem Zweiten Weltkrieg die Aussiedlung von Muslimen beeinflusst hat. Während in der Zwischenkriegsperiode die Enteignung muslimischen Grund und Bodens und die Ansiedlung serbischer Kolonisten agrarpolitische Hauptfaktoren der Emigration darstellten, waren dies nach dem Zweiten Weltkrieg insbesondere Maßnahmen wie die landwirtschaftliche Kollektivierung und die Begrenzung privaten Besitzes.

In einem weiteren Kapitel wird auf Gewaltfragen und den Vertreibungsdiskurs eingegangen, welche die entscheidenden Faktoren dafür bildeten, dass sich ein Teil der Muslime zur Auswanderung entschied. Pezo zeigt auf, dass Gewalt aufgrund der außenpolitischen Situation bzw. der Lage in der Türkei, sich nicht in dem Maße auf die Auswanderung niederschlug, wie man denken könnte. Er verweist klar auf die Radikalisierung der Meinungen bei einem Teil der serbischen Eliten Mitte der 1930er-Jahre (z.B. Vasa Čubrilović und Đorđe Krstić) wie auch auf den verstärkten Auswanderungsruck auf die Albaner in dieser Zeit. Pezo konstatiert zu Recht, dass die Repressionspolitik tiefe Spuren bei den betroffenen Albanern und ihrem Verhalten während des Zweiten Weltkriegs (und auch danach) hinterlassen hatte. Seiner Meinung nach war auch ihre zwangsweise Entwaffnung 1955/56, die von vielfältigen Gewaltakten begleitet wurde, von großer Bedeutung im albanischen kollektiven Gedächtnis. Pezo betont allerdings, dass es keine Beweise dafür gibt, dass die Gewalt im sozialistischen Jugoslawien spezifisch gegen Muslime mit dem Ziel ihrer Auswanderung angewendet wurde, da auch Serben und Montenegriner solcher Gewalt ausgesetzt waren, wenn auch in kleinerem Umfang.

Im abschließenden Kapitel widmet sich der Autor der Auswanderung in die Türkei in den 1950er-Jahren, die von Widersprüchlichkeiten geprägt war: von der Negierung einer türkischen Minderheit im Kosovo hin zu ihrer Anerkennung und der (freiwilligen) Registrierung von Albanern als Türken; von einer restriktiven zu einer liberalen Migrationspolitik mit unterschiedlichen Perspektiven auf die Emigration in Serbien und Makedonien usw. In Ermangelung einiger Schlüsseldokumente konnte der Autor diese Widersprüchlichkeiten im Großen und Ganzen bloß feststellen und versuchen sie anhand der zugänglichen Quellen im weiteren gesellschaftlichen Rahmen zu interpretieren. In jedem Fall gab es genug Belege um aufzuzeigen, dass nie eine „Verschwörung gegen die Albaner“ bestanden hat, und dass ihre Emigration (wie auch die Auswanderung der übrigen Muslime im Süden des Landes) in jener Zeit ein vielschichtiges Phänomen darstellte.

Die Arbeit Edvin Pezos zur Auswanderung der Muslime in die Türkei stellt nicht nur eine sehr wertvolle Ergänzung der bisherigen Forschungen dazu dar, sondern in vieler Hinsicht deren fundierte und argumentierte Korrektur. Das Buch beinhaltet eine große Fülle an statistischen Daten und Einschätzungen, die aus außergewöhnlich umfangreichem und vielfältigem Archivmaterial und relevanter Literatur zusammengestellt wurden. Obwohl es der Untersuchung aufgrund objektiver Umstände (vor allem weil viele Quellen nicht verfügbar waren) nicht gelungen ist, die Erzählung zur muslimischen Emigration aus den südlichen Teilen Jugoslawiens abzurunden, so hat sie diese doch bedeutend bereichert. Sowohl quellenbezogen, als auch thematisch hat Pezo die Aufmerksamkeit auf einige bisher vernachlässigte Faktoren gelenkt, die auf das Phänomen und den Umfang der Auswanderung Einfluss hatten. Einer der größten Leistungen der Arbeit besteht in der überzeugend dokumentierten Korrektur einer Reihe von Mythen, die mit diesem brisanten Thema zusammen hängen und prominent in der albanischen, zum Teil auch in der serbischen und sonstigen Historiographie zu finden sind. Pezos Arbeit wird lange unumgängliche Lektüre für den jugoslawisch-albanisch-türkischen Themenkomplex, und ebenfalls für die Sozialgeschichte beider Jugoslawien bleiben.

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