M. Rauchensteiner: Der Erste Weltkrieg

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Titel
Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–1918.


Autor(en)
Rauchensteiner, Manfried
Erschienen
Anzahl Seiten
1222 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Günther Kronenbitter, Philologisch-Historische Fakultät, Universität Augsburg

Rechtzeitig vor dem 80. Jahrestag des Kriegsausbruches erschien im Jahr 1993 aus der Feder von Manfried Rauchensteiner, einem der führenden Militärhistoriker Österreichs und von 1992 bis 2005 Direktor des Heeresgeschichtlichen Museums in Wien, eine umfassende Darstellung über Österreich-Ungarn im Ersten Weltkrieg. Auf 719 Seiten entfaltete Rauchensteiner ein Panorama der Kriegsgeschichte der Habsburgermonarchie unter dem Titel „Tod des Doppeladlers“.1 Das Werk Rauchensteiners war ein Meilenstein, denn erstmals lag damit eine Monographie vor, die Österreich-Ungarns Part im Weltkrieg wissenschaftlich fundiert und zugleich einem breiten Publikum zugänglich, in den verschiedensten Facetten abhandelte, von der Diplomatie über die militärischen Operationen und die Wirtschaft bis hin zur gesellschaftlichen Entwicklung und zur Innenpolitik. Es ist seither das Standardwerk zur Geschichte Österreich-Ungarns im Ersten Weltkrieg geblieben und so ist es sehr zu begrüßen, dass sich Rauchensteiner entschlossen hat, sein Opus magnum zum 100. Jahrestag in einer ergänzten und gründlich überarbeiteten Fassung neu auflegen zu lassen. Der Titel der neuen Version ist wesentlich prosaischer, was sicher kein Verlust ist. Schmerzlich vermissen werden die Leser allerdings die Kartenbeigaben der Originalfassung, die zum Verständnis der geschilderten Militäroperationen sehr nützlich waren. Dafür hat der Text noch deutlich an Umfang zugelegt, was allerdings auch dem veränderten Satzspiegel zuzuschreiben ist. Der Anmerkungsteil ist übersichtlicher gestaltet und die Auswahlbibliographie aktualisiert, um die Entwicklung des Forschungsstandes in den letzten zwei Jahrzehnten abzubilden.

Dennoch wird den Lesern des „Todes des Doppeladlers“ der Text im Wesentlichen vertraut vorkommen. Weil die Absätze teilweise an neuer Stelle gesetzt und zusätzliche Zwischenüberschriften eingefügt wurden, fällt die Ähnlichkeit nicht immer gleich ins Auge, aber über weite Strecken ist der Text kaum verändert – durchaus mit Recht, denn die 1993 vorgelegte Darstellung war schlüssig strukturiert und trotz des Umfangs keine schwere Lektüre. Die zentrale Rolle Österreich-Ungarns beim Kriegsausbruch; die vielen Rückschläge an den Fronten; das schwierige, zwischen Selbstbehauptungswillen und Ressentiment einerseits, Abhängigkeit und Bewunderung andererseits oszillierende Verhältnis zum übermächtigen Bündnispartner Deutschland; die Schwierigkeiten und schließlich der Kollaps der Kriegswirtschaft; die zunehmenden sozialen und nationalen Gegensätze; die Brutalität der Kriegführung, an den Gefechtsfronten und gegenüber Kriegsgefangenen, aber auch die Gewalt gegen Zivilisten in Besatzungsgebieten wie im Hinterland; das Scheitern der Lösungsversuche für die inneren Probleme; die Kriegszieldebatten, die Siegfriedensschlüsse und die erfolglosen Anläufe für eine Kriegsbeendigung durch Diplomatie – alle diese Aspekte der Geschichte Österreich-Ungarns im Ersten Weltkrieg hatte Rauchensteiner schon 1993 in einer schlüssigen, weitgehend chronologisch strukturierten Erzählung anschaulich vermittelt. Ein zwingender Grund, dieses immer noch einleuchtende Grundmuster der Darstellung zu ändern, fehlte also und so sind es vor allem die Ergänzungen, in denen sichtbar wird, wo Rauchensteiner mit dem Abstand von zwanzig Jahren neue Akzente setzen wollte.

Ein Beispiel dafür ist die Schilderung der Folgen der ersten Kriegswochen auf die psychische Verfassung hoher Offiziere, die Verantwortung für das Scheitern der Einleitungsfeldzüge zu tragen hatten. Vom Selbstmord eines Generals ausgehend, erläutert Rauchensteiner die Reaktionen von Armeeführung und betroffenen Offizieren auf die Rückschläge, bringt die Suche nach den Schuldigen zur Sprache und verdeutlicht dabei auf wenigen Seiten (S. 232–244) sehr eindrücklich, wie schwer sich die Armee Österreich-Ungarns damit tat, Führungsfehler zu analysieren und angemessen mit Rückschlägen umzugehen. In einem ganzen Kapitel behandelt Rauchensteiner, der neueren Forschung Rechnung tragend, die Frage nach der Bedeutung nationaler Gegensätze für die Armee des Vielvölkerreiches (S. 329–365). Das Misstrauen der Militärführung gegenüber den Angehörigen bestimmter ethnisch-nationaler Gruppen, insbesondere gegenüber den Tschechen, führte jene Ethnisierung der Loyalitätsmuster eigentlich erst herbei, die von der Spitze der Armee befürchtet worden war. Auch hier geriet die Suche nach Erklärungen für militärische Misserfolge schnell zur Jagd auf einen Sündenbock, allerdings mit gefährlichen Rückwirkungen auf die innere Geschlossenheit der Armee. Dem Schicksal von internierten Zivilisten, vor allem Ruthenen und Italienern, geht Rauchensteiner in einem neu eingefügten Abschnitt nach, der unter dem Titel „Lager“ auch die Situation und die Erfahrungen von Kriegsgefangenen in der Habsburgermonarchie sowie von österreichisch-ungarischen Soldaten und Offizieren in feindlichem Gewahrsam behandelt (S. 835–875). Das ist eine wichtige Ergänzung, die den in den letzten beiden Jahrzehnten gewandelten Forschungsstand spiegelt. Quellenauswertung spielt dagegen eine stärkere Rolle in dem neu hinzugekommenen Kapitel über Kriegsfinanzierung (S. 577–601).

Rauchensteiner ist, bei aller Schwierigkeit, die Konflikte zwischen den Mittelmächten nicht nur durch die schwarz-gelbe Brille zu betrachten, kein Habsburg-Nostalgiker. Repression und Gewalt zählen zu den Kennzeichen der von ihm geschilderten Herrschaftspraxis in Österreich, in Ungarn, in Bosnien-Herzegowina und in den Besatzungsgebieten. Die letztlich erfolglosen Bemühungen Kaiser Karls, der Ende 1916 auf den Thron gelangt war, Niederlage und Zerfall der Habsburgermonarchie abzuwenden, machen den letzten Herrscher Österreich-Ungarns für Rauchensteiner noch nicht zur Lichtgestalt, auch wenn er Respekt für Karls „Humanismus“ und „Achtung vor Menschenleben“ (S. 667) erkennen lässt. Karls Vorgänger Franz Joseph wurde „mit zunehmendem Alter wachsende Gefühlskälte nachgesagt“ (S. 641) und obwohl Rauchensteiner sich wohlweislich einer psychologisierenden Deutung Franz Josephs enthält, so spielt der oft verklärte greise Monarch in der Neufassung der Kriegsgeschichte Österreich-Ungarns von 1914 bis 1916 doch eine keineswegs sympathische Rolle. Wie Franz Joseph durch einen „geriatrischen Zirkel“ (S. 645) von Vertrauten bis zu seinem Tod letztlich die Fäden der Kriegspolitik in der Hand behielt, veranschaulicht einer der neu hinzugekommenen Abschnitte (S. 638–655). Die letzte Verantwortung lag demnach beim Monarchen, nicht nur aus verfassungsrechtlicher Perspektive, sondern auch in der politischen Praxis. Dies galt, wie Rauchensteiner betont, auch für die wichtigste Entscheidung in der Geschichte der späten Habsburgermonarchie, nämlich für den Entschluss zum Krieg gegen Serbien, unter bewusster Inkaufnahme der Gefahr eines Großmachtkrieges. Im Unterschied zur Darstellung von 1993 legt Rauchensteiner in der Neufassung den Part des Kaisers bei der Entfesselung des Krieges nun explizit als eine Hauptrolle an (S. 123ff., 641–644). Grundsätzlich ist an der Bereitschaft Franz Josephs, einen Krieg – und zwar gegebenenfalls auch einen europäischen Großmachtkrieg – zu riskieren, kaum zu zweifeln. Es waren die von ihm berufenen Ratgeber in der Diplomatie, im Militär und in den Regierungen, die den Krieg als Lösungsstrategie empfahlen und der Monarch hatte grundsätzlich freie Hand, sich andere Ratgeber zu suchen. Inwiefern der Kaiser aber selbst inhaltlich die Weichen stellte, kann auch Rauchensteiner nicht klären.

In einer Gesamtdarstellung der Geschichte Österreich-Ungarns im Ersten Weltkrieg wird jede Leserin und jeder Leser die eine oder andere Dimension vernachlässigt finden und auch nicht jede Einschätzung teilen. Als Überblick über ein so großes und lange vernachlässigtes Thema wie die Geschichte der Habsburgermonarchie im Ersten Weltkrieg ist Manfried Rauchensteiners Buch in der Neufassung bis auf Weiteres das Standardwerk – selbst ohne Karten.

Anmerkung:
1 Manfried Rauchensteiner, Der Tod des Doppeladlers. Österreich-Ungarn und der Erste Weltkrieg, Graz 1993.

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