Cover
Titel
Morality and Masculinity in the Carolingian Empire.


Autor(en)
Stone, Rachel
Reihe
Cambridge Studies in Medieval Life and Thought. Fourth Series 81
Erschienen
Anzahl Seiten
V, 399 S.
Preis
€ 78,32
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Clara Harder, Historisches Institut, Universität zu Köln

Die sozialgeschichtliche Forschung zu Vorstellungen von Männlichkeit hat bislang die frühmittelalterliche Epoche größtenteils gemieden. In der Spätantike angesiedelte Arbeiten enden meist im fünften oder früheren sechsten Jahrhundert, während Untersuchungen zum Mittelalter in der Regel mit den gregorianischen Reformen beginnen.1 Die am Fitzwilliam Museum in Cambridge tätige Historikerin und Bibliothekarin Rachel Stone zeigt mit ihrer Arbeit zu Moral und Maskulinität im karolingischen Reich, dass sich spätantike oder hochmittelalterliche Befunde jedoch nicht auf die karolingische Epoche übertragen lassen.

Die Untersuchung ist eine überarbeitete Fassung von Stones Dissertation („Masculinity, Nobility and the Moral Instruction of the Carolingian Lay Elite“), mit der sie 2005 am King’s College in London promoviert wurde. Die Autorin untersucht darin das Selbstbild der männlichen (weltlichen) Elite im Karolingerreich des späten achten und neunten Jahrhunderts. Dieses Vorhaben ist nicht ohne Tücken: So stützt sich die Verfasserin bei der mentalitätsgeschichtlichen Konstruktion des idealtypischen adligen Mannes weitgehend auf die Zeugnisse derjenigen, die nicht diesem Personenkreis zuzurechnen sind. Geistliche sind nämlich explizit nicht Teil ihrer Untersuchung, da Stone sich auf Laien, die „lay noblemen“, konzentriert. Deren Ehestand und ihre Fähigkeit zur Kriegsführung unterscheidet sie wesentlich von den geistlichen Autoren. Stone argumentiert jedoch, dass, obgleich den Urhebern der meisten von ihr konsultierten Quellen diese zentralen Attribute fränkischer Nobilität fehlen, diese dennoch genug Einsichten in die tatsächlichen Lebensverhältnisse der Eliten hatten, um als vertrauenswürdige Zeugen für ihre Studie zu dienen. Die Ergebnisse der Untersuchung stützen diese These.

Stone bleibt dabei nah an den Quellen und verzichtet auf eine überspitzte Interpretation des Materials. Im Wesentlichen konzentriert sich die Autorin auf solche Texte, die explizit zum Zweck der moralischen Belehrung der adligen Laien verfasst wurden: Alkuins De virtutibus et vitiis (entstanden um 800), den Liber exhortationis des Paulinus von Aquileia (ca. 796), Jonas‘ von Orléans De institutione laicali (820–830), den Liber manualis (841) der Dhuoda, der Ehefrau Bernhards von Septimanien, sowie Hinkmars von Reims De cavendis vitiis et virtutibus exercendis (ca. 860–875). Außerdem dienen Gedichte, einige wenige historiographische und hagiographische Texte, Rechtsquellen und Briefe als Basis für die Studie. Stone kann dabei zeigen, dass die karolingischen Reformen Auswirkungen auf den moralischen Diskurs und das Zusammenwirken von weltlicher und geistlicher Elite hatten, die so von der Forschung bislang nicht wahrgenommen wurden.

Anhand ihres Quellenmaterials arbeitet Stone sich systematisch durch die Themenkomplexe Kriegsführung (beziehungsweise Kampf), Macht, Reichtum, Ehe und Sexualität. Diese Teiluntersuchungen stehen weitgehend für sich und sind mit einem gesonderten Fazit versehen. Wo es ihr notwendig erscheint, beginnt die Autorin ihre Analyse mit einigen methodischen Vorüberlegungen. Das betrifft vor allem das achte und neunte Kapitel zu den Themen Ehe („Marriage“) und Sexualität („Sex“). Auch im siebten Kapitel über den Zusammenhang von Macht und Reichtum („Power and Wealth“) wären ähnliche Erläuterungen ihres grundsätzlichen Begriffsverständnisses von Reichtum wünschenswert gewesen. Sehr differenziert fallen ihre Betrachtungen zu dem zentralen Aspekt der Macht aus, den Stone in drei Kapitel zergliedert. Zunächst rekonstruiert sie aus den Quellen die wesentlichen Vorstellungen von Macht. Sie konzentriert sich dabei hauptsächlich auf die Frage, welche Eigenschaften der karolingischen Elite zugeschrieben wurden, um deren soziale und moralische Machtstellung zu erklären. Anschließend analysiert Stone in zwei getrennten Kapiteln die Machtausübung durch Höflinge, Grafen und Gerichte als Aspekte der Zentralgewalt („Central Power“) sowie die Machtdemonstration im Privaten („Personal Power“), innerhalb der karolingischen Haushalte, der Haltung gegenüber unfreien Personen, im Bereich der Herrschaftsausübung und in Bezug auf die Beziehungen innerhalb eines Verwandtschaftsverbandes.

Im letzten Kapitel („Men and Morality“) fasst die Autorin die Ergebnisse der vorangegangenen Einzelstudien zusammen, um ein Bild frühmittelalterlicher Vorstellungen von Maskulinität zu zeichnen. Stone kann hier deutlich zeigen, wie sich der moralische Diskurs über die weltlichen Eliten und die Vorstellungen von Männlichkeit in der karolingischen Zeit von denen der Spätantike und des hohen Mittelalters unterscheiden. Sie vertritt die Ansicht, dass die von den Geistlichen propagierten Normen einer christlichen Lebensführung vergleichsweise liberal und an den Realitäten der adligen Lebenswelt orientiert waren. So wurde das Kriegswesen in einer Welt, in der der bewaffnete Konflikt zur Tagespolitik gehörte, nicht in Frage gestellt. Die Aussagen der karolingischen Autoren zu Fragen der Macht blieben sehr allgemein und vor allem auf bestimmte Personenkonstellationen ausgerichtet (z. B. zwischen Vater und Sohn), während auf grundsätzliche Auseinandersetzungen über die Beziehungen zwischen Freien und Unfreien, über eine unabhängige Gerichtsbarkeit oder die moralische Gefährdung durch Reichtum verzichtet wurde. Stone sieht die Ursache für die vagen Aussagen zu Fragen der Macht in der Bedeutung, die diese Themen für den Klerus und die Kirche selbst haben konnten. Sie geht auch davon aus, dass es keinen übergreifenden Konsens über die zentralen moralischen Vorstellungen gegeben und das Ziel der Einigkeit der Gesellschaft im Vordergrund gestanden habe, so dass potentiell konfliktbeladene Bereiche im moralischen Diskurs bewusst vage gehalten wurden.2

Als bemerkenswert erachtet Stone, dass die karolingischen Autoren der Lebenswirklichkeit der Laien zu entsprechen versuchten und realitätsnahe Vorschläge für eine gottgefällige Lebensführung entwarfen, anstatt dem Adel ein unerreichbares Ideal klerikal oder monastisch geprägter Lebensführung vorzuhalten, wie dies die Autoren des Hochmittelalters zu tun pflegten, indem sie z. B. Enthaltsamkeit oder Verzicht auf den Waffengang predigten. Auch kann die Autorin in den Quellen keine Hinweise auf eine ausgeprägte Mysogynie erkennen. Stone betont, dass die karolingischen Schriftsteller Vorstellungen von Männlichkeit (virilitas) nicht nur auf Verhalten und Erfolg im Kampf, sondern auch auf die richtige Lebensführung und Stärke im Glauben bezogen, also auf Lebensbereiche, die nicht ausschließlich Männern vorbehalten waren. Folgerichtig kann sie auch vereinzelte Nachweise für eine Anwendung des Begriffs auf Frauen finden. Gleichzeitig betont Stone, dass unerwünschtes Verhalten der adligen Laien und eine im christlich-moralischen Sinn schlechte Lebensführung nicht mit weiblichen Begriffen abqualifiziert wurde. Eine Kontrastierung eines männlichen Ideals mit Begriffen wie muliebriter oder effeminatus findet sich in karolingischer Zeit scheinbar vorrangig in religiösen Texten.

Die karolingische Elite war nach Stones Ausführungen in ihrer Vorstellung von Moral und Männlichkeit recht pragmatisch. Die Autorin ist jedenfalls nicht der Meinung, dass die Krisenrhetorik des achten und neunten Jahrhunderts auch Ausdruck einer Krise der Männlichkeit gewesen sei, wie zuweilen angenommen wurde.3 Stattdessen hätten die karolingischen Reformbemühungen eine ständige Kooperation der geistlichen und weltlichen Eliten notwendig gemacht, die dazu geführt hätten, dass übermäßige Kritik der Geistlichen an der Führungsschicht des Reiches ausgeblieben sei. Doch dieser Zustand scheint nur von kurzer Dauer gewesen zu sein. Parallel zum fortschreitenden politischen Niedergang des karolingischen Reiches im Verlauf des neunten Jahrhunderts sieht Stone das Ende dieses gesellschaftlichen Konsenses gekommen. Der Verlust der politischen Stabilität sei mit einer Erosion der Bindung zwischen weltlichen und geistlichen Größen einhergegangen, der dazu geführt habe, dass bereits im zehnten Jahrhundert die spätantiken moralischen Erzählstrategien wieder gegriffen hätten.

Anmerkungen:
1 Ausnahmen sind z. B. die Arbeiten von Julia M. H. Smith, Gender and Ideology in the Early Middle Ages, in: Robert Norman Swanson (Hrsg.), Gender and Christian Religion: Papers Read at the 1996 Summer Meeting and 1997 Winter Meeting of the Ecclesiastical History Society, Woodbridge 1998, S. 51–73, und Lynda L. Coon, Somatic Styles of the Early Middle Ages, in: Gender and History 20 (2008), S. 463–486.
2 Hier argumentiert Stone vor allem gegen Gerd Althoff, Verwandte, Freunde und Getreue: Zum politischen Stellenwert der Gruppenbindungen im früheren Mittelalter, Darmstadt 1990.
3 Vgl. Janet L. Nelson, Monks, Secular Men and Masculinity, c. 900, in: Dawn M. Hadley (Hrsg.), Masculinity in Medieval Europe, London 1990, S. 122–142; Meg Leja, The making of Men, not Masters: Right Order and Lay Masculinity According to Dhuoda and Nithard, in: Comitatus 39 (2008), S. 1–40.