Z. Gasimov u.a. (Hrsg.): Oswald Spengler als europäisches Phänomen

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Titel
Oswald Spengler als europäisches Phänomen. Der Transfer der Kultur- und Geschichtsmorphologie im Europa der Zwischenkriegszeit 1919–1939


Herausgeber
Gasimov, Zaur; Lemke Duque, Carl Antonius
Reihe
Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung für Universalgeschichte, Beiheft 99
Erschienen
Göttingen 2013: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
328 S.
Preis
€ 49,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Klüners, Justus-Liebig-Universität Gießen

Weltgeschichtlichen Zäsuren geht häufig ein gesteigertes Interesse an weltgeschichtlichen Fragestellungen parallel. Die nach dem Ende des Kalten Krieges zu beobachtende Konjunktur von im weitesten Sinne geschichtsphilosophischen Bestsellern eines Francis Fukuyama oder Samuel P. Huntington ist sicher ebenso Teil dieses Phänomens wie der sich seit circa einem Vierteljahrhundert abzeichnende Aufstieg globalgeschichtlicher Ansätze innerhalb der Geschichtswissenschaft. Es folgt dabei einer inneren Logik, wenn auch vergangene Weltgeschichtskonjunkturen zunehmend ins Zentrum zumindest der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit rücken.

Noch weit mehr Furore als in den 1990er-Jahren die Bücher von Huntington oder Fukuyama machte nach dem Ersten Weltkrieg, zumindest in Deutschland, das Werk von Oswald Spengler, in erster Linie sein 1918 und 1922 in zwei Bänden erschienenes geschichtsmorphologisches Hauptwerk „Der Untergang des Abendlandes“. Als „geschlossenste und einflußreichste Alternative zu den Fortschrittsmodellen rechts- und linkshegelianischer Prägung“, so Alexander Demandt, bildete es nicht nur die passende erzählerische Ausgestaltung eines allgemein verbreiteten und insbesondere durch die Kriegsniederlage verstärkten Krisenbewusstseins.1 Vereinzelt finden sich sogar in heutiger Zeit noch Adepten, die Spenglers Kulturkritik allen Einwendungen zum Trotz für gerechtfertigt halten. Das bildete bereits zu Beginn der 1990er-Jahre einen Anlass, dem „Fall Spengler“ eine Tagung sowie einen daraus hervorgegangenen Sammelband zu widmen.2

Der ehedem unvergleichliche Erfolg der Spenglerschen Thesen ist freilich ein Ereignis, das weitgehend auf die Zwischenkriegszeit beschränkt blieb. Ob er in jener Epoche auch ein national begrenztes Ereignis war oder sich in ähnlicher Form ebenso für das europäische Ausland bestätigen lässt, war die (wenigstens implizite) Leitfrage einer internationalen Tagung, die im Juni 2012 an einem für die transnationale Geschichtsforschung geradezu prädestinierten Ort, nämlich dem Mainzer Leibniz-Institut für Europäische Geschichte, stattfand und deren Beiträge nun, ergänzt um zwei Aufsätze zur Spengler-Rezeption in Griechenland und den Niederlanden, bei Vandenhoeck & Ruprecht erschienen sind. Die systematische Untersuchung der europäischen Rezeptionsgeschichte von Spenglers Œuvre ist auch innerhalb der Spengler-Forschung ein Novum, das als solches schon Beachtung verdient.

Um Spengler als „europäisches Phänomen“ in den Blick zu nehmen, haben Herausgeber und Autoren es sich zur Aufgabe gesetzt, im Sinne der von Michel Espagne und Michael Werner entwickelten Kulturtransfermethode die jeweiligen Vermittler des transnationalen Kulturaustausches sowie die sich an den Transfer anschließenden Resemantisierungsprozesse zu analysieren.3 Entsprechend findet sich am Ende eines jeden Aufsatzes eine in den meisten Fällen tabellarisch gestaltete Auflistung der für den Transfer relevanten Quellen und Personen, wozu in erster Linie Übersetzungen, Rezensionen und Monographien sowie ihre jeweiligen Urheber gehören. Zu den exemplarisch untersuchten Ländern zählen (in dieser Reihenfolge) Österreich, Polen, Russland, die Niederlande, Frankreich, Großbritannien, Spanien, Italien, Griechenland und die Türkei. Der letzte Artikel des Bandes schließlich beschäftigt sich mit der zionistischen Sichtweise auf Spengler. So beeindruckend die Vielfalt dieser Auswahl ist, vermisst man doch wenigstens ein Fallbeispiel, das stellvertretend die skandinavische Spengler-Rezeption illustrieren könnte; auch die schweizerische Perspektive und damit die eines in Teilen deutschsprachigen Landes, das für die Aufnahme von Spenglers Werk ergo nicht erst auf eine Übersetzung warten musste, wäre theoretisch sicher von hohem Interesse gewesen. Die ebenfalls ausgeklammerten Länder des Balkans könnten in diesem Rahmen insofern ein aufschlussreiches Untersuchungsobjekt darstellen, als politische Zäsuren und gesellschaftliche Umwälzungen, wie sie nach dem Ersten Weltkrieg insbesondere diese Region erlebte, eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Art und Weise des Transfers Spenglerscher Theoreme spielen, wie das Beispiel anderer hier untersuchter Länder demonstriert.

Ferner können die Einzelbeiträge des Sammelbandes in Anbetracht der gebotenen Beschränkung natürlich in den meisten Fällen keine lückenlose Darstellung der Spengler-Rezeption in dem jeweils behandelten Land liefern; bestimmte Wege der Rezeption werden daher bewusst nicht berücksichtigt, sondern statt dessen ein thematischer Schwerpunkt gewählt: Der Aufsatz von Regine Hömig beispielsweise befasst sich aus den genannten Gründen ausschließlich mit der katholisch-konservativen Rezeption Spenglers in Österreich und betontermaßen weder mit derjenigen durch die linken Mitglieder des Wiener Kreises noch derjenigen durch deutschnationale Akteure. Der Beitrag von David Engels konzentriert sich dagegen hauptsächlich auf den französischen Germanisten und Philosophen André Fauconnet und erschließt hier neue Briefquellen, die im Anschluss an den Text abgedruckt sind. Der Artikel von Carl Antonius Lemke Duque behandelt seinerseits die Madrider Presse und ist unter den Aufsätzen des Sammelbandes sicher derjenige, in welchem die Kulturtransfermethode ihre konsequenteste Anwendung findet. Michael Thöndl hingegen beschränkt sich auf die Aufnahme von Spenglers „Jahre der Entscheidung“ in Italien.

Trotzdem werfen alle Aufsätze ein bezeichnendes Licht auf nationale Besonderheiten im Umgang mit Spenglers Geschichtsphilosophie. Da im Prinzip nur die spanische und italienische Spengler-Rezeption bisher ein Gegenstand der Forschung waren, betreten darüber hinaus fast alle Beiträge wissenschaftliches Neuland. Am Ende des Bandes findet sich ein Ortsregister, ein sicher ebenso sinnvolles Personenverzeichnis fehlt allerdings. Einen weiteren Wermutstropfen stellen gewisse Aspekte der sprachlichen und formalen Gestaltung dar: Ohne beckmesserisch erscheinen zu wollen, soll hier umgekehrt nicht verschwiegen werden, dass es für eine in einem renommierten Verlag erschienene wissenschaftliche Publikation nicht in allen, aber doch vielen ihrer Beiträge der vermeidbaren orthographischen und grammatikalischen Fehler schlechterdings zu viele sind. Hier wäre ein gründlicheres Lektorat vonnöten gewesen. Am durchaus hohen inhaltlichen Mehrwert der Publikation ändert dies freilich nichts.

Auffällig ist, dass nicht nur Quantität und Tenor der Spengler-Diskussionen von Land zu Land sehr verschieden sind, sondern auch der thematische Fokus, ja sogar die Vorliebe für bestimmte Texte Spenglers national stark variieren – rezipiert wurde durchaus nicht immer nur „Der Untergang des Abendlandes“, sondern ebenso „Preußentum und Sozialismus“ oder „Jahre der Entscheidung“. Die dabei erfolgende Resemantisierung in einem anderen nationalen Kontext wirft weitergehende Fragen nach den Gründen für die jeweils spezifische Aufnahme und Aneignung seiner Ideen auf, denen sich ausgehend von der vorliegenden Untersuchung dereinst vielleicht einmal ein eigenes Forschungsprojekt widmen mag. Die Beiträge des Sammelbands liefern jedenfalls potentiell reiches Material für eine vergleichende Zusammenfassung der nationalen Rezeptionen und umgestaltenden Appropriationen einer über ihr Ursprungsland Deutschland weit hinausstrahlenden geschichtsphilosophischen Erzählung der Zwischenkriegszeit.

Die Kulturtransferforschung, die ihrem eigenen Selbstverständnis zufolge eine Alternative zur herkömmlichen Komparatistik darstellt, könnte somit umgekehrt den Ausgangspunkt für die soeben beschriebene vergleichende Analyse national unterschiedlicher Rezeptionsformen und Resemantisierungsprozesse bilden. In einem weiteren Schritt könnte sie auch Ergebnisse der Komparatistik berücksichtigen, wenn es beispielsweise um die Klärung der Frage geht, weshalb der deutsche Kulturmorphologe außer in seinem Herkunftsland ausgerechnet in Russland, Spanien, Italien und Griechenland auf ein vergleichsweise breites Echo gestoßen ist. In all diesen Ländern haben sich nach politischen Krisen von unterschiedlicher Dauer und Ausprägung autoritäre Regime etabliert, deren Führer sich allesamt mit Spengler auseinandergesetzt haben. Das gilt in dieser neutralen Formulierung selbst für das bolschewistische Russland, wo Trotzki und Lenin höchstselbst, wenngleich ablehnend, in Reden auf Spengler Bezug nahmen. In Italien, Spanien und Griechenland besaß Spengler sogar die Bedeutung einer das moderne ,Cäsarentum‘ legitimierenden Referenzpersönlichkeit.

Eher von nationalen denn genuin konfessionellen Faktoren scheint darüber hinaus sogar die dezidiert christliche Spengler-Kritik abzuhängen, wenn man bedenkt, dass die niederländisch-protestantische Wahrnehmung der österreichisch-katholischen sehr viel mehr ähnelt als umgekehrt die spanisch-nationalkatholische. Nationale Phänomene scheinen auch die in den beiden hier untersuchten ,germanischen‘ Ländern Großbritannien und Niederlande verbreiteten Einschätzungen Spenglers als spezifisch „deutsches“ Ereignis zu sein. Übernational hingegen waren die Suggestivwirkungen, die von Spenglers Begrifflichkeit nicht nur in Großbritannien und den Niederlanden, sondern auch in Polen ausgingen, sowie außerdem die sich in ihren Grundzügen durchaus ähnelnden kritischen Einwände, die von prominenten Intellektuellen wie Johan Huizinga, Benedetto Croce, Leonard Woolf und anderen gegen Spengler erhoben wurden. Wenngleich Spenglers Werk eine der deutschen vergleichbare Breitenwirkung in der Mehrzahl der untersuchten Länder versagt blieb, so lässt sich mit gewissen Einschränkungen durchaus, wie im Titel des Sammelbands angeklungen und durch die Aufsätze bestätigt, vom deutschen Kulturmorphologen als einem europäischen Phänomen sprechen.

Zur transnationalen Spengler-Forschung leistet der von Gasimov und Lemke Duque herausgegebene Aufsatzband einen eminent wichtigen Beitrag. Darüber hinaus kann von seinen Ergebnissen auch die Erforschung eines europäischen kulturellen Gedächtnisses insofern profitieren, als die Wirkungsgeschichte eines der bedeutendsten Stichwortgeber der Zeitdiagnose in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht zuletzt Aufschluss auch über den geistigen Zustand der europäischen Gesellschaften der Zwischenkriegszeit zu geben vermag. Ob allerdings, wie David Engels am Ende seines Beitrags bemerkt, die „wissenschaftliche [...] Weiterentwicklung von Spenglers Grundannahmen“ (S. 141) ein dankbares Unterfangen wäre, sei dahingestellt. Möglicherweise fehlt es dem Verfasser der Rezension schlichtweg an Phantasie, wenn er freimütig bekennt, dass er selbst in Spenglers Œuvre eher eine Form apokalyptischer Belletristik denn eine weiterzuentwickelnde wissenschaftliche Theorie zu sehen geneigt ist.4 Größeres Potential hätte unter diesem Gesichtspunkt meines Erachtens das Werk Arnold J. Toynbees, der aber von Engels – ebenso befremdlich – als „Epigone“ Spenglers bezeichnet wird, welcher „die Originalität und Eigenartigkeit der Spengler’schen Vorhersagen verdunkelt“ (S. 140) und somit zu dessen Bedeutungsverlust nach dem Zweiten Weltkrieg beigetragen habe. Quod sit demonstrandum.

Anmerkungen:
1 Alexander Demandt, Vorwort, in: ders./John Farrenkopf (Hrsg.), Der Fall Spengler. Eine kritische Bilanz, Köln 1994, S. VII.
2 Ebd. Schon in den 1980er-Jahren näherten sich zwei Monographien Spengler vermittels seiner Biographie: Jürgen Naeher, Oswald Spengler, Reinbek 1984, sowie Detlef Felken, Oswald Spengler. Konservativer Denker zwischen Kaiserreich und Diktatur, München 1988.
3 Zur Kulturtransfermethode vgl. u.a. Michel Espagne, Die Rolle der Mittler im Kulturtransfer, in: Hans-Jürgen Lüsebrink / Rolf Reichardt (Hrsg.), Kulturtransfer im Epochenumbruch. Frankreich–Deutschland 1770 bis 1815, Leipzig 1997, S. 309–329.
4 Alexander Demandt hat sich der Frage „Was bleibt von Spengler?“ eigens in einem gleichnamigen Aufsatz gewidmet: ders., Was bleibt von Spengler?, in: Manfred Gangl / Gilbert Merlio / Markus Ophälders (Hrsg.), Spengler – Ein Denker der Zeitenwende, Frankfurt am Main 2009, S. 273–285. David Engels wandelt in einer jüngst erschienenen Publikation offenbar selbst auf den Spuren Oswald Spenglers, vgl. ders., Le déclin. La crise de l'Union européenne et la chute de la République romaine. Analogies historiques, Paris 2013.

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