B. Tromly: Making the Soviet Intelligentsia

Cover
Titel
Making the Soviet Intelligentsia. Universities and Intellectual Life under Stalin and Khrushchev


Autor(en)
Tromly, Benjamin
Reihe
New Studies in European History
Erschienen
Anzahl Seiten
XIII, 295 S.
Preis
£ 65.00 / $ 99.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Manuela Putz, Forschungsstelle Osteuropa, Universität Bremen

Die Staatliche Lomonossow-Universität in Moskau übte nicht nur auf die Gäste der Hauptstadt der UdSSR eine besondere Anziehungskraft aus. Das monumentale, im Stalinschen Zuckerbäckerstil erbaute Hauptgebäude der auf den Leninbergen thronenden Universität galt Generationen von sowjetischen Studierenden als unionsweit prestigeträchtigste Hochburg der Wissenschaft, die es auf dem Bildungs- und Karriereweg zu erklimmen galt. Wie keine andere Einrichtung repräsentierte der 1953 fertig gestellte Wissenspalast den außerordentlich hohen Stellenwert der Hochschulbildung im sowjetischen Gesellschafts- und Erziehungsprojekt.

In seiner acht Kapitel umfassenden Untersuchung analysiert Benjamin Tromly am Beispiel der Universitäten Moskau, Kiew und Saratow die dynamischen Beziehungen zwischen Hochschulbildung und gesellschaftlicher Identität in der Nachkriegszeit und im frühen Poststalinismus. Denn in einer Welt, in der Wissenschaft den höchsten Wert im Ringen um die kommunistische Zukunft hatte, waren Universitäten gesellschaftliche Vorzeigeprojekte und diejenigen Orte, an denen Bildungseliten in den Spannungsfeldern zwischen offizieller Politik, Kulturauftrag und akademischer Freiheit geformt wurden. Auf der Quellenbasis von Dokumenten aus russischen und ukrainischen Archiven sowie vier Dutzend von ihm geführter Zeitzeugeninterviews nimmt er insbesondere die Studierendenschaft in den Blick, fragt nach staatlichen Bildungskonzepten und Vorstellungen über die Bildungselite, aber auch nach der Eigenwahrnehmung der so genannten Intelligenzija. Diese definiert er in Anlehnung an soziologische Konzepte als „imagined community“, die durch kulturelle Praktiken verbunden war, untersucht ihre Erfahrungsräume, kulturellen Zeichensysteme und Praktiken.

In den ersten zwei Kapiteln zeigt Tromly, dass sich mit der staatlichen Wissenschaftsförderung und dem damit einhergehenden sprunghaften Anstieg der Studierendenzahlen an den Universitäten in der unmittelbaren Nachkriegszeit eine Studierendenschaft entwickelte, die sich einerseits an Traditionen der vorrevolutionären „studentschestwo“ orientierte, aber auch sowjetische Vorstellungen von „kulturnost’“ bereitwillig aufgriff. Nicht das in der Forschung lange vorherrschende Narrativ der „von oben“ gelenkten und disziplinierten Wissenschaft dominierte unter den Studierenden, sondern der Diskurs von der Universität als Ort sozialer Integration, des sozialen Aufstiegs und räumlicher Mobilität. Während die Universitäten in der Nachkriegszeit im Rahmen der staatlichen Bildungspolitik mit immer mehr Einfluss und Bedeutung versehen wurden, überwogen in der staatlichen Rezeption der Studierendenschaft dennoch die Unsicherheiten und das Misstrauen gegenüber der zukünftigen gesellschaftlichen Elite.

Im dritten und vierten Kapitel widmet sich Tromly den Auswirkungen der antisemitischen Kampagne gegen den Kosmopolitismus sowie der Lyssenko-Affäre auf die wissenschaftlichen Eliten. Die antisemitische Kampagne schürte Befürchtungen vor einem staatlichen Vorgehen gegen die Intelligenzija und eröffnete verdeckte Räume für die Austragung inneruniversitärer Konflikte, die vielfach genutzt wurden. Ähnliche Mechanismen charakterisierten auch die Debatten um die pseudowissenschaftlichen Lehren Lyssenkos, die Tromly nicht mehr als Paradebeispiel für die politischen Interventionen in wissenschaftliche Forschung verstanden wissen will, sondern vielmehr als ein Ringen um die Deutungshoheit darüber, welche Werte die sowjetische Intelligenzija repräsentieren solle. Wenn dieser Exkurs bisherigen Forschungsergebnissen lediglich neue Aspekte hinzufügt, so kommt in den folgenden Abschnitten seiner Monografie, die auf die Untersuchung der Intelligenzija unter der Herrschaft Nikita Chruschtschows abzielen, die eigentliche Bedeutung von Tromlys Arbeit zur Geltung.

Eindrucksvoll gelingt es ihm im fünften und sechsten Kapitel darzustellen, dass die bisherige Historiographie sowohl das oppositionelle Potential der Studierendenschaft maßlos überzeichnet, als auch die Bedeutung des sowjetischen Projekts für die Jugend im Tauwetter unterschätzt hat. Denn selbst die politischen Aktivisten unter den Studierenden hatten sich in ihrer Selbstkonstruktion und kulturellen Praktiken auf das staatlich sanktionierte Kulturprojekt gestützt. Die Ergebnisse des XX. Parteitags verstärkten innerhalb der Bildungseliten den Glauben an das sowjetische Projekt und führten gleichzeitig zu Verunsicherungen, die durch die weit reichenden Bildungsreformen verstärkt wurden. Vor allem die Vorstellung von einer größeren Volksnähe der Intelligenzija brachte Konflikte innerhalb des Wissenschaftsbetriebs mit sich. Denn sie stand im Widerspruch zu den Selbstbildern von Teilen der Intelligenzija, die sich nicht nur als moralische Instanz der Gesellschaft, sondern auch als deren führende Elite sah. Chruschtschows Projekt einer „Zweiten Kulturrevolution“, wie Tromly es bezeichnete, schlug fehl. Weder gelang es, Studierende mit Berufshintergrund in der Wissenschaft zu etablieren, noch fruchtete die staatliche Distributionspolitik, die den Einsatz zukünftiger Eliten an den Rändern des Imperiums vorsah, da sich viele Absolventen dieser zu entziehen versuchten.

Die Suche der Studierendenschaft nach einer neuen Sprache und Ausdrucksformen ist Gegenstand des siebten Kapitels. Überzeugend und spannungsvoll beschreibt Tromly wie sich über die Umdeutung offizieller Kulturinitiativen eine studentische Subkultur ausgeprägte. Wer zur Intelligenzija gehörte – und wer nicht – wurde durch Sprech- und Lesepraktiken, durch einen literarischen und ästhetischen Kanon und die damit zusammenhängende Symbolwelt definiert. Zweifelsohne erzeugten die Öffnung zum Westen und die sich zunehmend dorthin orientierende Jugend viele Widersprüche. Doch auch wenn radikalere studentische Akteure oder Gruppierungen eine Ausnahmeerscheinung blieben und die westliche Popkultur sowjetische Werte nicht zwangsläufig in Frage stellte, ist Tromlys Einschätzung, dass eine Vorliebe für Jazz oder westliche Belletristik keine direkte und klare Verbindung zu oppositionellen Gesinnungen hatten, für einen Teil der Intelligenzija anzuzweifeln. Zwar waren die Einstellungen gegenüber dem Westen vielschichtig, doch spielte der Konsum westlicher Literatur oder Musik für einige Akteure, die sich selbst als oppositionell begriffen, oftmals eine tragende Rolle in ihrer Hinwendung zum Dissens.

Im abschließenden Kapitel untersucht Tromly das Wiederbeleben nationaler Ideen unter Chruschtschow. Die Destalinisierungspolitik hatte zusätzliche Deutungsräume für nationale Vergangenheitsrekonstruktionen eröffnet. Viele kulturfördernde Initiativen wie der spätere Kult um den ukrainischen Nationaldichter Taras Schewtschenko gingen von der staatlichen Kulturpolitik aus und wurden erst unter Breschnjew von Regimekritikern für ihre eigenen Zwecke umgedeutet. Das Revival des ukrainischen Nationalismus unter Studierenden lässt sich nicht auf den Einfluss der westlichen Ukraine zurückführen, sondern auf die Tatsache, dass für nichtrussische Akteure der Fokus auf die ukrainische Sprache und Kultur die Möglichkeit eröffnete, sich innerhalb des von der urbanen und russischen Kultur dominierten Intelligenzija-Diskurses als gleichrangige und eigenständige Elite zu inszenieren.

Benjamin Tromlys Analyse bricht mit den bislang etablierten, in der neueren Kulturgeschichte jedoch bereits in Auflösung begriffenen Periodisierungsvorstellungen von Stalinscher Nachkriegszeit und Chruschtschowschem Tauwetter. Obwohl sich ein großer Teil seiner Interviewpartner aus tatsächlich oppositionell eingestellten Milieus rekrutierte und mindestens ein Viertel der Personen über Repressionserfahrung verfügt, gelingt es ihm den erst unlängst in Vladislav Zuboks „Zhivago’s Children“ wiederbelebten Diskurs über die liberale Intelligenzija und die Tauwettergeneration zu widerlegen.1 Bewusst nimmt er von einem biographischen Zugang Abstand und wertet die einzelnen Erfahrungen seiner Zeitzeugen als Erfahrungen von einzelnen Vertretern einer sozialen Gruppe. Diese Herangehensweise birgt den Nachteil, dass Aspekte ihres Lebens sowie generell Fragen nach Subjekthaftigkeit, wie sie beispielsweise Sergey Oushakine für die sowjetische Intelligenzija aufgeworfen hat, bewusst ausgeblendet werden.2 Dennoch überzeugt und bereichert sein Buch vor allem an jenen Stellen, an denen er sich auf einzelne Akteure der Studierendenschaft und ihre kulturellen Prägungen, Ideen und Überzeugungen fokussiert. Wenngleich die Annahme, dass das Verhältnis zwischen staatlichem Bildungsauftrag und der Rezeption durch Bildungsträger spannungsvoll war, nicht überraschend ist, besticht Tromlys exzellente und sehr gut lesbare Analyse dadurch, die Vielschichtigkeit dieser Beziehungen und die Komplexität der damit verbundenen Identifikationsprozesse aufzuzeigen sowie diejenigen Teile der Intelligenzija, die vom Staat als anti-sowjetisch definiert wurden und sich bis zu einem bestimmten Grad auch selbst in diesem Licht wahrgenommen haben, in den Diskurs des Sowjetischen zu reintegrieren.

Anmerkungen:
1 Tromly verbindet die Forschungsergebnisse, die Juliane Fürst für die Jugend der Nachkriegszeit vorgelegt hat, mit einer neuen Sichtweise auf die Ära Chruschtschow und grenzt sich in Teilen von Zuboks Sichtweise ab. Siehe Juliane Fürst, Stalin’s Last Generation. Soviet Post-War Youth and the Emergence of Mature Socialism, Oxford 2010 sowie Vladislav Zubok, Zhivago’s Children. The Last Russian Intelligentsia, Cambridge 2009.
2 Serguei Oushakine, The Terrifying Mimicry of Samizdat, in: Public Culture 13 (2001), S. 191–214.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension