Titel
Topographies of Faith. Religion in Urban Spaces


Herausgeber
Becci, Irene; Burchardt, Marian; Casanova, José
Reihe
International Studies in Religion and Society
Erschienen
Anzahl Seiten
235 S.
Preis
€ 101,00
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Victoria Hegner, Göttingen

Es besteht mittlerweile wissenschaftlicher Konsens darin, dass Städte zentrale Orte für religiöse Praxen und Vorstellungen sind. Der Wechselbeziehung von Religion und Stadt wurde bisher in der Forschung jedoch nur sporadisch nachgegangen. Von den wenigen Veröffentlichungen kann der vorliegende Sammelband zu den überzeugendsten zählen. Er resultiert aus mehreren Diskussionsrunden internationaler Wissenschaftler/innen am Berliner Wissenschaftszentrum und in Göttingen.

In der Einleitung entwickeln die Herausgeber/innen Irene Becci, Marian Burchardt und José Casanova die Forschungsperspektiven für den Band. Sie stellen heraus, dass urbaner Raum und religiöse Praxen vor allem im Spannungsfeld von Globalisierung und wachsender Bedeutsamkeit des Lokalen zu begreifen sind. Wie sehr, so wird zentral gefragt, formt das Lokale – die Stadt mit ihren je kulturellen, sozialen und räumlichen Strukturen – die Organisation religiöser Gemeinschaften und wo wird Religion trans-lokal und globalisiert? Und inwiefern modellieren religiöse Praktiken die Vorstellung von Urbanität bzw. tragen zum globalisierten Charakter von Stadt bei?

Entscheidend für den Band ist des Weiteren die Problematisierung und Öffnung des Religionsbegriffes. Wie die Herausgeber/innen erhellend anmerken, muss die Idee von Religion verstärkt kontextgebunden und dabei in Relation zum Verständnis des Säkularen betrachtet werden, das oftmals die gesetzlichen Rahmenbedingungen von religiösen Gemeinschaften vorgibt.

Diese ambitionierte Forschungsprogrammatik wird in diesem Buch entlang von drei thematischen Abschnitten umgesetzt. Zuerst kommen die „religiösen Innovationen im urbanen Kontext“ in den Blick. Murat eröffnet den Abschnitt mit einer Untersuchung zu den Alevitischen Gemeinschaften in türkischen Städten und ihrem Streben nach gesellschaftlicher Anerkennung. Er zeigt, dass sich Alevitisches Selbstverständnis, welches im ländlichen Raum kulturell konnotiert war, dabei zu einer religiös definierten Identität wandelt. Samadia Sadouni widmet sich somalisch-muslimischen Flüchtlingen in Johannesburg, Südafrika. Sie fragt, wie sich die Identität somalischer Muslim/innen an der Schnittstelle von historisch-kulturellen Charakteristika der Stadt, nationaler Politik und transnationalen Netzwerken formt. Dabei stellt sie in überzeugender Weise vor allem die Bedeutsamkeit von Muslim/innen aus Indien für die städtische Integration der Somalis heraus. Peter van der Veer schließt mit einem Städtevergleich – Mumbai/Singapore – an. Ihn interessiert, wie über Religion Zugehörigkeit zum Stadtkontext hergestellt wird. In diesem Zusammenhang führt er sein Konzept der „urban aspirations“ ein. Er thematisiert damit vor allem ideelle, also geistige Grundhaltungen, wie sie in der Stadt produziert bzw. für die Stadt entscheidend werden. Mumbai stellt sich für ihn dabei als eine Stadt dar, in der der religiöse Nationalismus Indiens verhandelt wird. Singapore hingegen avanciert zu einer Stadt, wo sich der Konfuzianismus Chinas als Zivilreligion realisiert. Der Beitrag von Leilah Vevaina schließlich beschäftigt sich mit der Zoroastrischen Gemeinschaft in Mumbai und der Debatte um den „Luftbestattungs“-Ritus, bei dem die Verstorbenen in einem offenen „Turm des Schweigens“ abgelegt werden. Sie zeigt analytisch scharf, dass nicht allein soziokulturelle und historische Bedingungen, sondern auch die gebaute Umwelt Konzepte von Tradition in der jeweiligen Stadt(-gesellschaft) prägen.

Der zweite Teil des Buches untersucht die „urbanen Dynamiken von Migration, religiöser Diversität und transnationaler Religion“. Synnøve Bendixsen stellt hier den Berliner Verein der „Muslimischen Jugend in Deutschland“ vor. Sie arbeitet heraus, dass die Hinwendung zum Islam zwar global zu finden ist und transnationale Netzwerke hervorbringt, aber ein städtisches Phänomen bleibt, weil Städte die dafür notwendige Infrastruktur sowie soziokulturelle Liberalität bieten. José Casanova entwickelt in seinem Artikel eine globale Perspektive auf die Entwicklung von Religion. Er postuliert, dass Säkularisierung und religiöse Diversifizierung Hand in Hand gehen und sich religiöse Autoritäten demokratisieren und individualisieren. Dreh- und Angelpunkt dieser Entwicklung ist die Stadt. Er illustriert seine Thesen anhand der (neuen) Religion Umbanda. Die Autorin Weishan Huang gibt in dem abschließenden Aufsatz dieses Abschnitts Einblick in die spirituell-räumliche Praxis von Falun Gong in New York. Die Metropole wirkt hier konstituierend für die Gemeinschaft weltweit.

Der letzte Bereich des Buches beschäftigt sich mit dem Verhältnis von „Religion, ökonomischer Ungleichheit und sozialer Exklusion“. Mit Irene Beccis Beitrag tritt eine baptistische Gemeinschaft im säkularisierten Ostteil Berlins in den Fokus. Becci legt dar, wie sich die Gemeinschaft dem urbanen, heterotopen Charakter der Gegend in ihren Aktivitäten anpasst, wodurch eine Form der Zugehörigkeit entsteht. Marian Burchardt untersucht in seinem Artikel ebenfalls christliche Gemeinschaften. Er blickt nach Cape Town, Südafrika, und analysiert, wie sich die soziopolitischen wie historischen Dynamiken der Stadt und damit die Stadt als Ganzes in den religiösen Praxen spiegeln. Es wird deutlich, dass Religion in Cape Town zunehmend säkulare Aufgaben übernimmt und hierdurch wiederum eine erstaunliche religiöse Vitalität entsteht. Nach Cape Town richtet sich der Fokus auf Old Delhi. Ajay Gandhi geht der Aushandlung religiöser Unterschiede zwischen Muslim/innen und Hindus in der Altstadt nach. Ihn interessieren die „nicht-diskursiven“ Praxen, wie Körper, Essen und Geruch. Es wird offenbar, dass bei aller Grenzziehung, Demarkationslinien nie konsistent sind und sich in Delhis Altstadt sinnlich wahrnehmbar überkreuzen und situativ auflösen. Abschließend geht es in die Städte Nigerias. Godwin Onuoha analysiert, wie der urbane öffentliche Raum pentekostale Praktiken formt und wie Letztere wiederum öffentlichen Raum in Nigerias Städten gestalten. Hierdurch werden soziopolitische Alternativen im nationalen Kontext formuliert.

Das Fazit: Die Bandbreite diskutierter Religionen, vorgestellter urbaner Kontexte und konzeptioneller Bezugnahmen ist gewaltig und beeindruckend! Bei aller wissenschaftlichen Brillanz erstaunt jedoch, wie wenig in den Analysen wegweisende Debatten aus der Stadtsoziologie rezipiert wurden. So ist beispielsweise die Idee der „urban aspirations“ sehr interessant, doch sie klingt bereits bei den – in diesem Band eher gescholtenen – Vertretern der Chicago School an, nämlich in der Überlegung, die Stadt auch als „a state of mind“ zu begreifen – einen Ort also, an dem bestimmte ideelle Haltungen zum Tragen kommen und produziert werden. Ähnliches wird auch schon mit Anthony Leeds Plädoyer für eine „anthropology of“ anstelle einer „in cities“ thematisiert. Er illustrierte seine Idee – ganz wie van der Veer – anhand eines Städtevergleichs.1 Wenn im Band dafür plädiert wird, die Stadt als Ganzes zu begreifen, ist das für die Forschung zu Religion inspirierend, aber es wäre sicherlich noch produktiver, wenn die entsprechenden Ansätze der Stadtsoziologie und -ethnologie damit zusammengebunden würden.2

Die in dem Band propagierte Öffnung des Religionsbegriffes ist jedoch auf jeden Fall produktiv und unbedingt weiter zu verfolgen. Damit können auch neue religiöse Bewegungen thematisiert werden, also religiöse Praktiken, wie sie sich, vermehrt seit dem 20. Jahrhundert, jenseits institutionalisierter Glaubenssysteme finden und die sich durch Fluidität und Dogmenfeindlichkeit auszeichnen. Deren topografisch-kulturelles Zentrum ist die Stadt. Im vorliegenden Band ist man in dieser Hinsicht noch etwas zaghaft und es werden in überwältigender Mehrheit etablierte Religionen – oder Abspaltungen innerhalb dieser – thematisiert. Diese Anmerkung ist keine Kritik, sondern ein Vorschlag zur Fortschreibung der im Buch gebotenen Überlegungen.

Anmerkungen:
1 Robert Park / Ernest W. Burgess / Roderick D. MacKenzie / Louis Wirth, The City, Chicago 1925, S. 1; Anthony Leeds, Anthropology of Cities. Some Methodological Issues, in: Elisabeth Eddy (Hrsg.), Urban Anthropology. Research Perspektives and Strategies, Athens, Georgia 1968, S. 31–47; siehe auch: Martyn Lee, Relocating Location. Cultural Geography, the Specificity of Place and the City Habitus, in: Jim McGuigan (Hrsg.), Cultural Methodologies, London 1997, S. 126–141; Jude Bloomfield, Researching the Urban Imaginary. Resisting the Erasure of Place, in: Godela Weiss-Sussex / Franco Bianchini (Hrsg.), Urban Mindscapes of Europe, New York 2006, S.43–61; Rolf Lindner, The Gestalt of the Urban Imaginary, in: ebenda, S. 35–42.
2 Frühe Beispiele: Urban Anthropology 4(1) (1975): „The City as Context: A Symposium” (gesamte Ausgabe); Ulf Hannerz, Exploring the City. Inquiries toward an Urban Anthropology, New York 1980.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/