Cover
Titel
Antisemitismus von Links. Kommunistische Ideologie, Nationalismus und Antizionismus in der frühen DDR


Autor(en)
Haury, Thomas
Erschienen
Anzahl Seiten
527 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Franka Maubach, Fachbereich für Neuere und Neueste Geschichte, Friedrich-Schiller-Universität Jena

1952/53 wurde der SED-Funktionär Paul Merker zur persona non grata. Der Westremigrant, der die Zeit des Nationalsozialismus im mexikanischen Exil verbracht hatte, wurde als „Agent“ des Zionismus und der „US-Finanzoligarchie“ ‚entlarvt‘, ihm wurde zum Vorwurf gemacht, dass er sich unermüdlich für die Wiedergutmachung an den Juden eingesetzt hatte, was von Seiten der SED als „Verschiebung deutschen Volksvermögens“ interpretiert wurde. Die antizionistische Säuberungswelle, die in diesen Jahren die spätstalinistischen Ostblockstaaten überrollte, fand Ende 1952 im Prager Slánský-Prozess ihren Höhepunkt. Die Angeklagten waren überwiegend Juden; elf Todesurteile wurden vollstreckt. In der DDR wurden jüdische Gemeinden überprüft, jüdische Genossen verhört und nicht selten verhaftet. Zu einem Schauprozess gegen Merker kam es durch den Tod Stalins und die sich dadurch ergebenden politischen Veränderungen nicht mehr.

In der DDR-Forschung besteht weitgehender Konsens darüber, dass die Säuberungen als antisemitisch zu klassifizieren seien; der diagnostizierte Antisemitismus wird allerdings zumeist gleichsam als ‚mittelbarer‘ beschrieben, als Moskauimport und politisch-taktischer Schachzug, um die (häufig jüdischen) Westremigranten außer Gefecht zu setzen und der Moskau-Gruppe um Ulbricht freie Bahn zu schaffen 1. Nun hat es der Freiburger Soziologe Thomas Haury in einer breiten Studie unternommen, dem spätstalinistischen Antizionismus in der DDR schärfere Konturen zu verleihen, dessen spezifische Ausprägung in den Landesfarben herauszuarbeiten und ihn – jenseits machttaktischer Entscheidungen – ernst zu nehmen. Mittels einer ideologietheoretischen und -kritischen Analyse erst der Genese des modernen Antisemitismus, dann des Marxismus-Leninismus will Haury zeigen, dass Letzterer in seinen Strukturen eine Affinität zum Antisemitismus aufweise. Dieser „strukturelle Antisemitismus“ muss nicht zum Tragen kommen, kann es aber. Die Ideologie ins Zentrum stellend, setzt Haury voraus, dass der Marxismus-Leninismus „keineswegs als bloße propagandistische Tarnung eines repressiven Systems gesehen und damit in seiner Bedeutung verkannt werden“ dürfe (S. 18). Indem er sie mit scharf-kritischem Blick analysiert, operiert er selbst am Herzen der Linken, ist der Kommunismus doch eine stark textbasierte „politische Religion“. Spätestens hier könnte man vermuten (Honi soit, qui mal y pense), dass der Autor den gelebten Antifaschismus der Kommunisten denunzieren, dass er den Nationalsozialismus durch einen Vergleich relativieren und – ausgehend von Marx‘ „Zur Judenfrage“ – den Versuch unternehmen könnte, die antisemitische Wurzel selbst der kommunistischen Urtexte auszugraben. All dies liegt Haury fern. Es ist eine der Stärken der Untersuchung, dass er gegenüber seinen Quellen “gleichschwebend“ aufmerksam bleibt und seine These verfolgt, ohne vorschnell zu urteilen.

Haury weist darauf hin, dass bislang kaum eine produktive Verknüpfung von Antisemitismus- und Nationalismusforschung stattgefunden habe; der Zusammenhang werde zwar herausgestellt, für die Entwicklung des Antisemitismus aber nicht als konstitutiv begriffen. Die grundlegende Verknüpfung beider ‚Ismen’ arbeitet er im breit angelegten ersten Teil heraus und legt damit in vorsichtig-sorgfältiger und kleinschrittiger ideologietheoretischer Begriffssicherung die Strukturprinzipien des modernen Antisemitismus bloß. Die von ihm an einschlägigen antisemitischen Texten von Arndt über Dühring, Treitschke und Chamberlain entwickelten Strukturmerkmale sollen dabei nicht nur als „heuristisches Instrument zum Verständnis des Antizionismus von links“ (S. 157), sondern auch als allgemeines Klassifikationsschema dienen, anhand dessen sich ein einheitlich strukturiertes antisemitisches Weltbild von der Äußerung antisemitischer Stereotype scheiden lässt.

Haury versteht „Nation“ als „antimoderne Gemeinschaftsutopie in der verunsichernden Moderne“, als stabilisierende „imagined community“ (Anderson) inmitten der modernen Sinn- und Identitätskrise. (Die durchgängige Anführungszeichnung der Begriffe „Nation“ und „Volk“ wie des assoziierten Wortfeldes ist bisweilen dem Lesefluss hinderlich; hier geht aber der Gewinn einer stetigen Erinnerung an den Konstruktionscharakter vor den – ansonsten im Übrigen bestechend klaren – Stil.) Juden stellten – mit ihrer Geschichte von Diaspora und Assimilation – den ‚idealen‘ Feind, die Antiidentität der „Nation“ überhaupt, dar und galten im Innern als maskierte Verräter und Zersetzer alles „Nationalen“. In antisemitischen Texten personifizieren sie die Abstraktheit und das Ephemere der Moderne und machen damit gerade das Unerklärliche und Verunsichernde greif- und angreifbar. Die „Nation“ wurde zur „positive[n] Utopie des Antisemitismus“ (S. 158). Die Juden galten aber auch als „vorbildlich untereinander verschworenes ‚Volk‘“ (S. 102), das selbst in der jahrhundertelangen Diaspora den Zusammenhalt nicht verloren hatte. Nur in dieser Spannung projektiver Vorstellungen von Ablehnung und Begehrlichkeit sind der moderne Antisemitismus und dessen Dynamik zu begreifen. Die Juden wurden als allmächtige Strippenzieher einer Weltverschwörung imaginiert (und waren gleichzeitig realiter eine gefahrlos angreifbare Gruppe). Im manichäischen Weltbild des Antisemitismus repräsentierten sie das Böse. Durch diese Strukturprinzipien treibt der Antisemitismus aus seiner eigenen Logik heraus auf die diesseitig eschatologischen Erlösungsvorstellungen zu, der an allem Übel schuldige „Feind“ müsse vertrieben und vernichtet werden.

Die Ablehnung des Antisemitismus markiert einen linken Grundsatz. Die kommunistische Ideologie ist vor ihr durch die Propagierung von Gleichheits- und Gerechtigkeitsvorstellungen und den traditionellen Internationalismus gefeit. Ebenso als Reaktion auf die Moderne entstanden (allerdings, wie Haury betont, in einer deutlich komplexeren Haltung zu ihr), ist die Feinddiagnose zunächst einmal nationenübergreifend: Den Klassenfeind als bourgeoisen Ausbeuterkapitalisten gibt es überall. Ein Einfallstor ergibt sich traditionell durch die stereotype Gleichsetzung von Juden und Ökonomie. Erst wenn die Ideologie – vor allem durch die Einziehung der Ebene des Nationalismus – auf einem dem Antisemitismus strukturähnlichen Bauplan beruht, lässt sie sich nach Haury als „strukturell antisemitisch“ klassifizieren. Der zweite Teil der Studie ist so ein Durchgang durch die kommunistischen Klassiker und die Parteikonzepte von der SPD des Kaiserreichs bis zur Weimarer KPD.

Wie oben bereits vermerkt, lässt sich Haury durch die Äußerung antisemitischer Stereotype nicht zum vorschnellen Antisemitismus-Vorwurf hinreißen; weder Marx noch Lenin argumentieren seiner Ansicht nach antisemitisch. In Marx Jugendschrift „Zur Judenfrage“ von 1843/44, von der Forschung nicht selten und am pronounciertesten von Edmund Silberner als antisemitisch klassifiziert 2, tauchen Juden als „Chiffre“ für die moderne Entfremdung auf, womit antisemitische Stereotype reproduziert und perpetuiert werden. Dem Text – wie der Marxschen Theorie insgesamt – mangelt es aber an allen anderen Strukturmerkmalen. Bei Lenin zeige sich demgegenüber „ein gewissermaßen spiegelverkehrtes Bild“ (S. 458): Antijüdische Stereotype kommen überhaupt nicht vor, stattdessen sind, nach Haury, die Theoriestrukturen aber so angelegt, dass antisemitische Inhalte eingehen können: Die Theorie ist gekennzeichnet durch ein manichäisches Gut/Böse-Weltbild, auf dessen „guter“ Seite das Proletariat kollektiviert und in der Partei objektiviert wird. Die Feindkonstruktion ist, besonders nach der Zuspitzung des Leninschen Weltbildes im Verlaufe des Ersten Weltkriegs, personifizierend und reicht ins Verschwörungstheoretische.

Haurys Arbeit legt nahe, dass die Schaltstelle einer dem Antisemitismus affinen Strukturerweiterung des Marxismus-Leninismus dort liegt, wo realpolitisch die „Nation“ zum Problem, beziehungsweise der Kommunismus zur Staatsideologie wird. Erstmalig geschah dies bei der KPD in der Weimarer Republik: Nationalismus und Klassenkampf gehen vor dem Hintergrund von Krieg und Niederlage, Versailler Vertrag und dem politischen Klima eine unheilige Allianz ein. Es entwickelt sich ein „kommunistischer Nationalismus“. Symbolisch steht die „Schlageterrede“ des jüdischen Kommunisten Karl Radek nach der Ruhrbesetzung 1923, in der er den von den Franzosen zum Tode verurteilten Freikorpskämpfer als Märtyrer feierte.

Die marxistisch-leninistische Weltsicht der SED, wie Haury sie im letzten (Haupt-)Kapitel nachzeichnet, schließt direkt an diejenige der Weimarer KPD an, wird aber unter dem Eindruck des Kalten Krieges und der Problematik des geteilten Deutschlands auf eine Weise erweitert, dass die strukturellen Affinitäten zum Antisemitismus weitaus stärker ins Gewicht fallen. Mit der Staatswerdung des Kommunismus hielt die „Nation“ gleichsam automatisch Einzug in die Theorie. In der DDR wurde die Problematik dadurch zusätzlich verschärft, dass das andere Deutschland delegitimiert werden musste: Die Bundesrepublik geriet zum „undeutschen“ Staat, die DDR demgegenüber zum „Vortrupp des deutschen Volkes“.

Gleichzeitig und ebenso wie im anderen Teil Deutschlands ging es – wenige Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus – um den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Bei der Frontstellung gegen Merker, der für die Position einer Wiedergutmachung und eines jüdischen Staates Israel stand, zeigt sich in nuce, dass hier weder bloß antisemitische Stereotype vorliegen noch – wie bei der SPD des Kaiserreichs – Antizionismus als konkrete Nationalismuskritik geäußert wird. Merker wird in verschwörungstheoretischem Duktus zum „zionistischen Agenten“, zum „Subjekt der USA-Finanzoligarchie“ erklärt. Die Wiedergutmachung an den (wie es perfide hieß: ohnehin „monopolkapitalistischen“) enteigneten Juden ermögliche ein Eindringen von „USA-Finanzkapital“ in den Staat, wie in den „Lehren aus dem Prozess gegen das Verschwörerzentrum Slansky“ (Dezember 1952) formuliert wurde. Hier nimmt, in einer Melange aus radikalisierter Ideologie und Vergangenheitspolitik, ein DDR-spezifischer „sekundärer Antisemitismus“ Gestalt an (dessen westdeutsches Pendant Haury im ersten Teil porträtiert).

Damit bindet Thomas Haury den antisemitischen Antizionismus in der DDR sowohl in eine tief sondierende Analyse der Ideologie als auch der historischen Umfeldbedingungen ein und gibt ihm damit ein ganz eigenes Gepräge. Es zeichnet die Studie besonders aus, dass sie den weiten, zeit- und raumübergreifenden Weg in die Geschichte der modernen Großideologien nicht scheut. Dieses archäologische Vorgehen feit vor affektiven und unreflektierten Schlussfolgerungen und sensibilisiert dafür, „Antisemitismus“ auf einen präzisen Begriff zu bringen (Gerade bei der aktuellen Inflation der Diagnose ist ein geschärfter Blick notwendig!). Und so müssen auch diejenigen nicht vor dem schlagworthaften Titel zusammenzucken, für die die Untersuchung linken Antisemitismus immer noch mit dem Ruch des Renegatentums behaftet ist.

Anmerkungen:
1 Vgl. stellvertretend für diese Position Timm, Angelika: Hammer, Zirkel, Davidstern. Das gestörte Verhältnis der DDR zu Zionismus und Staat Israel, Bonn 1997.
2 Vgl. Silberner, Edmund: Kommunisten und Judenfrage. Zur Geschichte von Theorie und Praxis des Kommunismus, Opladen 1983.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension