A. Michaelis: Erzählräume nach Auschwitz

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Titel
Erzählräume nach Auschwitz. Literarische und videographierte Zeugnisse von Überlebenden der Shoah


Autor(en)
Michaelis, Andree
Reihe
WeltLiteraturen / World Literatures 2
Erschienen
Berlin 2013: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
396 S.
Preis
€ 99,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alina Bothe, Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg, Berlin

Mehrere zehntausend videographierte Interviews und lebensgeschichtliche Erzählungen Überlebender der nationalsozialistischen Vernichtungspolitiken liegen weltweit in verschiedenen Archiven vor.1 Einen zentralen Bestand hierunter bilden die knapp 52.000 Zeugnisse, die die von Steven Spielberg begründete „Survivors of the Shoah Visual History Foundation“, die – seit 2006 angebunden an die University of Southern California – in der Regel kurz „USC Shoah Foundation“ genannt wird, gesammelt hat.2 Dieser Quellenkorpus liegt als „Visual History Archive“ (VHA) digitalisiert vor und kann unter anderem an der Freien Universität Berlin eingesehen werden.3 Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, Teilsammlungen des Archivs beispielsweise über die Webangebote „Visual History Archive Online“ und „Zeugen der Shoah“ nach vorheriger Registrierung einzusehen.4

Tony Kushner hat bereits vor einigen Jahren festgestellt, dass bisher kaum diskutiert wird, inwieweit dieser Quellenkorpus zukünftig genutzt werden kann. „While enormous progress has been made in recent years in both the collecting and the respect paid to survivor testimony, the use that is to be made of this material has hardly been subject to debate.“5 Selbstverständlich liegen aus dem Umfeld des Yaler „Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies“ wichtige Studien zum Genre Videozeugnisse selbst vor, diese lassen sich aber nicht gänzlich auf die Zeugnisse aus dem VHA übertragen, da sie hinsichtlich der Interviewführung, der Archivierungspraxis und der Gesamtkonzeption deutlich different sind. Zudem sind die Zeugnisse des Archivs als Oral-history-Quellen verstanden in einigen Forschungsarbeiten rezipiert worden. Auch hat die geschichtsdidaktische Forschung in den letzten Jahren überzeugende Beiträge zum Einsatz dieser Quellen im Geschichtsunterricht geleistet.6 Dennoch ist die von Kushner angerissene Frage nach dem Nutzen und der angemessenen Verwendung dieser Zeugnisse weiter zu diskutieren.

Andree Michaelis hat nun mit seiner zu Beginn 2013 veröffentlichten literaturwissenschaftlichen Dissertationsschrift „Erzählräume nach Auschwitz. Literarische und videographierte Zeugnisse von Überlebenden der Shoah“ einen Versuch – verstanden als wissenschaftliches Denkexperiment – über Nutzen und Verwendung der Zeugnisse aus dem Visual History Archive vorgelegt. Er verweist zu Recht darauf, dass das VHA trotz seiner paradigmatischen Bedeutung in der Forschungslandschaft eklatant unterrepräsentiert ist – im Gegensatz zum nicht minder relevanten, wenngleich im Umfang wesentlich kleineren Fortunoff Archive. In seiner Pionierarbeit zu den Zeugnissen aus dem VHA arbeitet der Verfasser zum einen den diskursiven „Raum des Zeugen“ heraus und zum anderen unterzieht er vier schriftliche und vier videographierte Zeugnisse von Auschwitz-Überlebenden einer kontrastierenden diskurs- und dispositivanalytischen Untersuchung. Seine Ausgangsannahme ist dabei, dass beide Genres (Literatur und Video) „einen erzählerischen Gestaltungsraum zur Verfügung“ stellen, der „immer einer Gestaltung bedarf“ (S. 27, Hervorhebung im Original). Von dieser Annahme ausgehend wird der erzählerische Raum im foucaultschen Sinne als Ausweitung des Sagbaren über die Shoah durch literarische Zeugnisse interpretiert, der zugleich als Schutz der Zeuginnen und Zeugen fungiere. Anhand dieses diskursiven Verständnisses analysiert Michaelis zunächst die Zeugnisse, bevor er seine Arbeit mit der Forderung nach einer neuen Ethik der Zeugenschaft abschließt.

Die Zusammenstellung des Textkorpus für diese Arbeit mutet aufgrund der verschiedenen Genres, die miteinander verglichen werden, ungewöhnlich an, ist aber aus den Fragestellungen an das Material begründet. Andree Michaelis hat sich zum einen für vier der bekanntesten literarischen Zeugnisse Überlebender des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz und zum anderen für vier videographierte Zeugnisse relativ unbekannter Überlebender entschieden. Die Texte von Imre Kertesz („Roman eines Schicksallosen“, 1975), Primo Levi („Ist das ein Mensch?“, 1947), Jean Améry („Jenseits von Schuld und Sühne“, 1966) und Ruth Klüger („weiter leben. Eine Jugend“, 1992) kontrastiert er mit den Zeugnisse von Irmgard Konrad, Ivan Jungwirth, Helga Kinsky und László Steiner. Die vier Interviews aus dem VHA hat er nach einem komplexen Verfahren ausgewählt, das auf die Herausforderungen durch das VHA und ähnliche Sammlungen hindeutet: Nach welchen Prinzipien werden Quellen in einem solchen Archiv, das eher Datenbank denn Geheimes Staatsarchiv ist, für die Forschung ausgewählt? Diese Herausforderung ist überzeugend gelöst, indem die Auswahlkriterien (Erzählertypen, S. 49) offengelegt werden. Bewusst hat er sich dagegen entschieden, schriftliche und gesprochene Zeugnisse ein- und derselben Person miteinander zu vergleichen. Jedoch verspräche genau dieser Vergleich weitere Einsichten in die Beschaffenheit der videographierten Zeugnisse. Sein theoretischer Begriff des Zeugen und seines Zeugnisses ist literaturgesättigt, wobei er sich insbesondere intensiv mit der Yaler Schule im Umfeld des Fortunoff-Archives auseinandersetzt und sich hinsichtlich der Rezipientinnen und Rezipienten beider Genres an Geoffrey Hartmans Begriff des intellektuellen Zeugen anlehnt.7

Wenngleich die Zeugnisse aus dem VHA in digitaler Form vorliegen, hat sich der Autor entschieden, sie in ihrem medialen Ursprungszustand als Videos zu betrachten. Aspekte und mögliche Folgen der Digitalisierung deutet er nur an. Sein Medienbegriff, der das VHA als Mediendispositiv begreift, ist dabei von den Arbeiten Sybille Krämers angeleitet, insbesondere fokussiert er berechtigt auf die Bedeutung der Stimme in den Zeugnissen (S. 211). Leider kann er diese Analyse, dies ist eine logische Konsequenz eines rein schriftlichen Narrativs über audiovisuelle Quellen, nicht in Gänze in der Einzelanalyse der vier Zeugnisse umsetzen. Dies ist aber nicht als Unstimmigkeit der Arbeit selbst, sondern als Herausforderung der Form der literatur- oder auch geschichtswissenschaftlichen Erzählung durch audiovisuelle Medien zu werten.

Seine Analyse der textuellen Komposition der bekannten literarischen Zeugnisse ermöglicht es ihm, Differenzen und Divergenzen des videographierten Zeugnisses herauszustellen. Hierbei berücksichtigt er in besonderem Maße die Produktion der Zeugnisse, arbeitet die Zielsetzungen der USC Shoah Foundation heraus, analysiert die Interviewsituation selbst und fokussiert auf die Interaktion der InterviewerInnen und der ZeugInnen mit- und gegeneinander. In der Analyse der Vorgaben der USC Shoah Foundation und ihrer Umsetzungen finden sich dabei einige Generalisierungen, die das von den InterviewerInnen und ZeugInnen genutzte subversive Potenzial unterschätzen. Gleichwohl ist es ebenso berechtigt wie notwendig, die Vorgaben der Stiftung und ihre Umsetzung einer kritischen Reflexion zu unterziehen. Allerdings hätten die beiden Genreanalysen intensiver miteinander verknüpft werden können.

Wenn im literarischen Zeugnis zunächst ein Dialogangebot zu erkennen ist, das bei den vier betrachteten Schriftstellerinnen und Schriftstellern sehr unterschiedlich ausfällt, so unterliegen die Interviews einem Dialogzwang. Dies hat sehr unterschiedliche Erzähltypen zur Folge. Irmgard Konrad als erprobte Zeitzeugin in DDR-Zeiten erzählt erfahren. Ivan Jungwirth ist in seiner Erzählung abhängig von dem Interviewenden. Im Zeugnis von Helga Kinsky wird die Erzählung verhindert, wohingegen es László Steiner gelingt, unabhängig zu erzählen. Diese Erzähltypen sind Ergebnis der direkten Interaktion zwischen InterviewerIn und ZeugIn, Vorgaben der Shoah Foundation und des jeweiligen Erzählraumes. Aus der Analyse der Zeugnisse entwickelt Andree Michaelis die Frage, ob das Zeugnis der Überlebenden nicht ein Akt der Selbstentblößung ist, dem wir retrospektiv zuschauen (S. 207). Um dies zu verhindern, fordert er eine aktive Rezeption der Zeugnisse (S. 349), um sie vor Entfremdung und Vereinnahmung zu schützen (S. 355). Genau dies kann aber – wie auch die Rezeption der Zeugnisse selbst – nur bis zu einem gewissen Punkt gelingen, denn der Zuschauer kommt „zu spät“ (S. 355). An der ursprünglichen, freien Gesprächssituation nimmt er nicht teil, er sieht nur die fixierte Form. Ihm bleibt nur, aus „freier Verantwortung“ (S. 358) zum intellektuellen Zeugen zu werden.

Die vorliegende Studie ist ausgesprochen literaturreich und solide im aktuellen Forschungsdiskurs verortet. Insbesondere die intensiven Beobachtungen des Materials aus dem VHA im Kontext der diskursiv präformierten Kommunikationssituation überzeugen. Diese Analysen der spezifischen Kommunikationssituation und des Raumes des Sagbaren im Zeugnis gelingen ausgesprochen gut. Von Interesse wäre es gewesen, weitere Detailanalysen einzelner Zeugnisse aus dem Bestand des VHA zu lesen. Die benannten kleineren Unstimmigkeiten sind dem herausfordernden Charakter des Materials geschuldet, das größere Forschungsanstrengungen notwendig macht, denn zumindest für das VHA ist die „Rezeption videographierter Zeugnisse bislang kaum kodiert“ (S. 350). Insgesamt hat Andree Michaelis einen sehr lesenswerten, gelungenen Versuch der Lektüre und Interpretation der Zeugnisse aus dem Visual History Archive vorgelegt.

Anmerkungen:
1 Stefanie Schüler-Springorum, Welche Quellen für welches Wissen? Zum Umgang mit jüdischen Selbstzeugnissen und Täterdokumenten, in: Dorothee Gelhard / Irmela von der Lühe (Hrsg.), Wer zeugt für den Zeugen? Positionen jüdischen Erinnerns im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2012, S. 175–192.
2 Verena Lucia Nägel, Das Visual History Archive des Shoah Foundation Institute in Forschung, Lehre und Schulunterricht, in: Daniel Baranowski (Hrsg.), Ich bin die Stimme der sechs Millionen. Das Videoarchiv im Ort der Information, Berlin 2009, S. 185–191.
3 Die Freie Universität (FU) Berlin hat 2006 als erste europäische Institution einen Vollzugang zum VHA erhalten. Über die FU haben weitere Einrichtungen in Deutschland und Österreich einen Zugang erhalten, zudem sind in Europa weitere Institutionen mit Vollzugang ausgestattet worden. Einzelne Zeugnisse aus dem Gesamtkorpus sind auch in verschiedenen Museen und Gedenkstätten einsehbar.
4 Das „Visual History Archive Online“ ist unter <http://vhaonline.usc.edu/login.aspx> einsehbar, die Plattform „Zeugen der Shoah“ unter <http://www.zeugendershoah.de> (20.12.2013).
5 Tony Kushner, Holocaust Testimony, Ethics, and the Problem of Representation, in: Poetics Today 27 (2006), S. 275–295, S. 275.
6 Siehe u.a. Juliane Brauer / Aleida Assmann, Bilder, Gefühle, Erwartungen. Über die emotionale Dimension von Gedenkstätten und den Umgang von Jugendlichen mit dem Holocaust, in: Geschichte und Gesellschaft 37 (2011), H. 1, S. 72–103; Michele Barricelli / Juliane Brauer / Dorothee Wein, Zeugen der Shoah: Historisches Lernen mit lebensgeschichtlichen Videointerviews. Das Visual History Archive des Shoah Foundation Institute in der schulischen Bildung, in: Medaon. Magazin für jüdisches Leben in Forschung und Bildung 5 (2009), online unter: <http://www.medaon.de/archiv-5-2009-bildung.html#artikel102> (22.11.2013).
7 Geoffrey Hartman, Intellektuelle Zeugenschaft und die Shoah, in: Ulrich Baer (Hrsg.), ‚Niemand zeugt für den Zeugen‘. Erinnerungskultur nach der Shoah, Frankfurt am Main 2000, S. 35–52.