J. E. Schulte: Zwangsarbeit und Vernichtung

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Titel
Zwangsarbeit und Vernichtung: Das Wirtschaftsimperium der SS. Oswald Pohl und das SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt 1933-1945


Autor(en)
Schulte, Jan Erik
Erschienen
Paderborn 2001: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
550 S.
Preis
€ 41,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Angela Schwarz, Fach Geschichte, Universität Duisburg-Essen, Standort Duisburg

Man ist immer wieder erstaunt, wenn eine neue Studie vor Augen führt, welche Forschungslücken trotz der ungeheuren Menge an Untersuchungen über die Zeit des Nationalsozialismus noch immer existieren. Würde man nicht annehmen, es gebe sie längst – und zwar unter Berücksichtigung der inzwischen zugänglichen Quellen und auf dem neuesten Stand der Forschung –, die alle Phasen berücksichtigende politische Biografie Heinrich Himmlers, die umfassende Geschichte des frühen Konzentrationslagers, „das bis zum schrecklichen Ende bestand“ 1, oder die Gesamtdarstellung jener Organisation der SS, die das „Exekutivorgan von Himmlers Weltanschauung“ (S. 449) darstellte, also der SS-Verwaltung? Während die ersten beiden Themen weiterhin ein Desiderat bleiben werden, liegt nun mit der beeindruckenden Studie von Jan Erik Schulte die fehlende Geschichte des SS-Verwaltungsapparates und des Mannes an ihrer Spitze vor. Die wechselvolle Entwicklung der SS-Verwaltung und die enorm vielfältige Quellen- und Literaturgrundlage, die hier souverän aufgearbeitet sind, lassen erahnen, warum das Thema bislang nicht in der vorliegenden Weise angegangen wurde. So ist es als besondere Leistung der Studie hervorzuheben, dass sie einen Pfad durch den Dschungel der SS-Bürokratie zu schlagen vermag, der sowohl die Wucherungen eines zeitweise allein in Berlin 1.500 Mitarbeiter umfassenden Apparates durchdringen hilft und zugleich die führenden Akteure und ihre Verantwortlichkeit aus dem Dickicht der Strukturen hervortreten lässt.

Über eine Verwaltung verfügte die Schutzstaffel der NSDAP seit ihrer Gründung, obschon die Anfänge 1925 sehr bescheiden waren. Als es dem Reichsführer SS Heinrich Himmler gelang, mit dem Schutzhaftlager Dachau einen Raum für ungeahnte Machtentfaltung unter seine Kontrolle zu bringen, begann der einzigartige Aufstieg der SS innerhalb des Regimes und damit der Aufstieg des SS-Verwaltungsapparates. Mit Wirkung vom 1. Februar 1934 ernannte Himmler Oswald Pohl zum Verwaltungsleiter. Der gebürtige Duisburger (Jahrgang 1892), ein überzeugter Nationalsozialist, der mit den Karrieremöglichkeiten eines Marinezahlmeisters nicht zufrieden war, verstand sich mehr als seine Vorgänger darauf, seine neu erworbene Position nicht nur zu halten, sondern konsequent auszubauen. Er trieb den Ausbau voran, der in der Gründung des Wirtschafts-Verwaltungshauptamtes (WVHA) mit seinen fünf Amtsgruppen im Januar 1942 gipfelte, führte also die Verwaltungs- und Wirtschaftsämter an die Spitze der SS-Organisationen. Dabei kamen ihm seine – beschränkten – Kenntnisse in Verwaltungs- und Wirtschaftsfragen mindestens ebenso zugute wie die Tatsache, dass er, wie Rudolf Höß es in der Haft nach Kriegsende formulierte, bis zum Untergang des Regimes als „der willigste und folgsamste Volltrecker aller Wünsche und Pläne des RF-SS Heinrich Himmler“ (S. 41) agierte.

Im Mittelpunkt der Darstellung steht die Frage nach der Geschichte der Pohlschen Behörde und ihrer Stellung innerhalb des Regimes. Um sie strukturieren zu können, werden drei zentrale Aufgabenbereiche der Organisation eingehend untersucht. Den ersten bilden die Konzentrationslager, auf die sich ein wesentlicher Teil von Himmlers Macht gründete. Der Mann an der Spitze der SS wies den Verwaltungsdienststellen eine wichtige Rolle in dem Bestreben zu, diese Machtbasis zu erhalten und zu vergrößern. Das WVHA war somit maßgeblich an der Ausdehnung und Ausrichtung des Konzentrationslagersystems beteiligt.

Das zweite Aufgabenfeld, die wirtschaftlichen Aktivitäten der SS-Verwaltung, hängen eng mit dem Lagersystem zusammen. Die KZ-Häftlinge gerieten sehr schnell als Arbeitskräftereservoir in den Blick, das sich für die verschiedenen ökonomischen und ideologischen Ziele der SS systematisch ausbeuten ließ. Dies geschah lange vor der Gründung von SS-Unternehmen wie etwa der Deutsche Erd- und Steinwerke 1938. Im Krieg dienten die SS-Betriebe ebenso wie der geplante aber nie verwirklichte SS-Rüstungskonzern dazu, der SS eine noch größere Machtposition zu verschaffen. Wenn auch in einer kurzen Phase 1940/41 betriebswirtschaftliche Überlegungen vorübergehend die Oberhand gewannen, blieb doch die weltanschaulich-politische Funktion der Häftlingsarbeit für Himmler und die SS insgesamt vorrangig. Deshalb kann das Scheitern hochfliegender ökonomischer Pläne, wie sie SS-Bürokraten entwickelten – übrigens in der zweiten Kriegshälfte unabhängig von der militärischen und wirtschaftlichen Lage des Reiches weiter verfolgt –, letztlich nicht verwundern.

In einen dritten Tätigkeitsbereich fielen die Planungen für die Besiedlung des „Ostens“. Zwar waren viele Personen und Institutionen des NS-Regimes an den Entwürfen für ein künftig von Nationalsozialisten beherrschtes Osteuropa beteiligt, doch Pohls Initiativen führten dazu, dass schließlich das WVHA die Vorreiterrolle einnahm. Seine Behörde plante und initiierte die ersten Schritte in der Umsetzung des – zweimal überarbeiteten – „Generalplans Ost“, etwa die Errichtung von SS- und Polizeistützpunkten auf dem Gebiet der Sowjetunion. Die Stützpunkte sollten, wie es Himmler vorschwebte, als „Wehr- und Germanisierungszentren“ die ersten Siedlungen von Reichsdeutschen im Land der „Untermenschen“ absichern (S. 307).

Ob in eigenen Betrieben, in privatwirtschaftlichen Rüstungsfirmen oder zur Vorbereitung der „Ostsiedlung“: Für all diese Aktivitäten benötigte die SS Arbeitskräfte. Während sich der Mangel auf dem freien Arbeitsmarkt im Reich zuspitzte, blickte die SS auf das KZ-System. Zur Deckung des ins Unendliche steigenden Bedarfes musste es stetig ausgeweitet werden. Als die bis zum Krieg gegen die Sowjetunion in die Lager Verschleppten nicht mehr genügten, verfiel die SS-Verwaltung darauf, die Arbeitskraft eines Teils der sowjetischen Kriegsgefangenen in den Konzentrationslagern ausbeuten zu wollen. Angesichts der ungeheuer brutalen Behandlung durch die SS überlebten aber etwa 60% der 3,35 Millionen Rotarmisten, d.h. rund 2 Millionen, nicht einmal den ersten Winter ihrer Gefangenschaft. Als dieses Reservoir ausfiel, kamen die SS-Beamten darauf, jüdische Gefangene für ihre Ostpläne arbeiten zu lassen. Somit entstand die Notwendigkeit, die Zahl der Lagerinsassen noch einmal drastisch zu erhöhen. Auschwitz wurde in diesem Kontext als ein Lager geplant, das die neuen Opfer aufnehmen sollte. Die Lager-SS wurde vom WVHA angewiesen, bei der Ankunft neuer Gefangenentransporte die Arbeitsfähigen von den Arbeitsunfähigen zu trennen, also eine „Selektion“ durchzuführen. Also war es Himmlers und Pohls Engagement für die Ostsiedlung, wie Schulte dezidiert und schlüssig herausarbeitet, das die Masseneinweisungen von Menschen in die nationalsozialistischen Konzentrationslager vorbereitete (vgl. S. 378 und 444).

Schulte schätzt, dass etwa die Hälfte des mittleren und führenden Personals im WVHA – in einem Exkurs und biografischen Skizzen wird dafür gesorgt, dass sie Gestalt annehmen – nicht aus ideologischer Überzeugung der SS beigetreten war. Dennoch setzten diese Männer die ideologischen Vorgaben um und trugen entscheidend dazu bei, aus megalomanen Plänen schreckliche Realität zu machen. Wie sich dies unter den Bedingungen des Verwaltungsapparates der mächtigsten Terrororganisation des NS-Regimes vollzog, macht diese erkenntnisreiche Institutionengeschichte deutlich.

Anmerkung:
1 Barbara Distel: Das KZ Dachau – ein „frühes“ Lager, das bis zum schrecklichen Ende bestand, in: Karl Giebeler; Thomas Lutz; Silvester Lechner (Hgg.): Die frühen Konzentrationslager in Deutschland, Bad Boll 1996, S. 185-189. Die dem aktuellen Wissensstand entsprechende Gesamtdarstellung Dachaus von 1933 bis 1945, 1991 von Johannes Tuchel angemahnt, fehlt bis heute. Vgl. Johannes Tuchel: Konzentrationslager. Organisationsgeschichte und Funktion der „Inspektion der Konzentrationslager“ 1934-1938 (= Schriften des Bundesarchivs, Bd. 39), Boppard am Rhein 1991, S. 123.

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