C. Bareither u.a. (Hrsg.): Unterhaltung und Vergnügung

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Titel
Unterhaltung und Vergnügung. Beiträge der Europäischen Ethnologie zur Populärkulturforschung


Herausgeber
Bareither, Christoph; Maase, Kaspar; Nast, Mirjam
Erschienen
Anzahl Seiten
212 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus Nathaus, Bielefeld Graduate School in History and Sociology, Bielefeld Universität

Populärkultur ist ein in der Geschichtswissenschaft anerkanntes Forschungsthema. Keine Überblickdarstellung, keine Sozial- und Kulturgeschichte der Periode ab dem späten 19. Jahrhundert kommt ohne die Berücksichtigung der zunehmenden Bedeutung und der vielfältigen Bedeutungen von Freizeit, Populärkultur und Unterhaltungsmedien aus. Darüber hinaus werden Themen wie Kino, Radio- und Fernsehunterhaltung, populäre Musik und der Sport durch Spezialforschung erschlossen.

Zur wissenschaftlichen Akzeptanz des Themas hat in Deutschland die Volkskunde bzw. Europäische Ethnologie erheblich beigetragen. Mit Arbeiten zu Trivialliteratur, Arbeiterkultur, kultureller Amerikanisierung im 20. Jahrhundert und Debatten um „Schmutz und Schund“ im Kaiserreich haben Vertreter dieser Disziplin, nicht zuletzt der Mitherausgeber des vorliegenden Bandes, Kaspar Maase, historische Pionierarbeit geleistet. Mit ihrem Interesse an den Forschungen der britischen „Cultural Studies“ hat die Europäische Ethnologie die deutsche Rezeption dieses einflussreichen Ansatzes in Gang gebracht.

Vor diesem Hintergrund liest der Historiker die im vorliegenden Band veröffentlichten Beiträge zur ersten, im Juni 2011 stattgefundenen Tagung der Kommission „Kulturen populärer Unterhaltung und Vergnügung“ in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde mit hohen Erwartungen. Was gibt es Neues aus der Europäischen Ethnologie in Sachen Populärkulturforschung? Welche Themen werden erschlossen, welche Theorien und Methoden diskutiert, und was kann die Geschichtswissenschaft von ihrer Nachbardisziplin lernen?

Der Sammelband wird, nach einem kurzen Vorwort von Hermann Bausinger und einer knappen Einleitung, von drei Beiträgen eröffnet, die sich „Konzepten und Kontexten“ der europäisch-ethnologischen Populärkulturforschung widmen. Bausinger verfolgt in seinem 1994 erstmals veröffentlichten begriffsgeschichtlichen Beitrag zum „Rufmord“ an der Unterhaltung die Entmischung von „hoher“ und „niedriger“ Literatur um 1800, in deren Verlauf der Terminus „Unterhaltung“ die Bedeutung des Seichten und Trügerischen erhielt und von „tiefer“ und „echter“ Kunst unterschieden wurde. Den gleichen Prozess beleuchtet Jens Wietschorke. Er analysiert die historische Semantik des Begriffs „Vergnügen“, der im 18. Jahrhundert die Konnotationen des „Genügens“ und „Begnügens“ verlor und mit Unersättlichkeit assoziiert wurde. Die Aufklärung stellte dem nunmehr unernsten, nutzlosen Vergnügen eine Form des gehobenen, verfeinerten, intellektuellen Vergnügens gegenüber.

Der von Bausinger und Wietschorke herausgearbeitete „Dualismus von E und U“ trat in der weiteren Geschichte der Populärkultur immer wieder in Erscheinung, wie Beispiele des Wandels von „Pop“ zu „Kunst“ (die späten Beatles) ebenso zeigen wie Fälle der Popularisierung von Hochkultur (das Picasso-Poster aus dem Einrichtungshaus). Populärkultur ist demnach auch nicht, darauf weist Maase in seinem Beitrag hin, als fester Korpus an Werken und Veranstaltungen mit konsistenten ästhetischen Eigenschaften zu definieren, sondern als Zwischenergebnis fortlaufender Positionsverschiebungen im „Kosmos der Künste“ zu begreifen (S. 26).

Dies wirft die für Historikerinnen und Historiker höchst relevant Frage nach der Dynamik des populärkulturellen Wandels auf. Maase schlägt vor, sie durch die Analyse des Zusammenspiels von kreativen Urhebern, professionellen Vermittlern, Technologien und Publikum zu beantworten. Zu diesem Zweck skizziert er ein Modell einer sich ab 1850 durchsetzenden westlich-modernen Populärkultur, deren Angebotsseite von einer „kapitalistischen Logik“, von „ökonomischen Interessen“, Konkurrenz, dem „Ausbau paraindustrieller ästhetischer Herstellungsmethoden“ und einem „‚Wille zum Populären’“ bestimmt sei (S. 31ff.). Erinnert dieser Teil der Definition an die von Max Horkheimer und Theodor Adorno verteufelte „Kulturindustrie“, attestiert Maase kommerzieller Populärkultur im Unterschied zur Kritischen Theorie emanzipatorisches Potenzial, das in der strukturellen Ähnlichkeit von Populärkultur und Demokratie liege. So habe Populärkultur nicht von ungefähr zuerst in den frühen angloamerikanischen Demokratien Fuß gefasst. Sie sei außerdem als „Interaktionssystem“ zu begreifen, denn „Produzenten und Publika kommunizieren über die Entwicklung der Serien, der Künstler, der Genres“ (S. 34), so Maase.

Maases Versuch einer „Systematik eines Forschungsfeldes“ vermag kaum die komplexe Dynamik der Kulturproduktion und des populärkulturellen Wandels zu erschließen. Vielmehr offenbart sie die Defizite einer Perspektive, die in ihren Bemühungen zur Rehabilitation und Ermächtigung des Rezipienten der Kritischen Theorie verhaftet bleibt. Von dort bezieht Maase das Zerrbild einer „Kulturindustrie“, das wenig gemein hat mit der Empirie moderner Kulturproduktion, sich aber als Hintergrund eignet, vor dem die ästhetischen Erfahrungen, die aktiven Aneignungspraktiken und die kreativen Impulse der Rezipienten Profil gewinnen. Zu fragen ist, warum die Europäische Ethnologie ihren akteurszentrierten und empirisch-kleinteiligen Ansatz ausschließlich für die Nachfrageseite reserviert, anstatt beispielsweise die Arbeitsabläufe in Buchverlagen, Fernsehredaktionen oder Plattenfirmen unter die selbe ethnografische Lupe zu nehmen.1 Dazu müsste sie wohl die bewährte Meta-Erzählung von der Selbstbehauptung der „kleinen Leute“ gegen die „Kulturindustrie“ aufgeben, die den Relevanzanspruch dieser Forschung stützt und ihr eine ebenso zugkräftige wie anschlussfähige Pointe bietet. Belohnt würde sie jedoch mit neuen, kontingenten und komplexeren Geschichten, die nicht auf ein vorgeprägtes Narrativ ausgerichtet sind.

Ein Teil der im vorliegenden Band versammelten Beiträge folgt den von Maase, Bausinger und Wietschorke vorgezeichneten Pfaden und kontrastiert an empirischen Beispielen „vernünftige“ E-Kultur mit eigensinnigem Vergnügen, mit Parteinahme für die populäre Kultur „von unten“. Mirjam Nast bricht in ihrem Beitrag zur Rezeption von Perry-Rhodan-Heftromanen eine Lanze für die Leserschaft vermeintlicher Schundliteratur. In Absetzung von einer (mittlerweile überholten) germanistischen Kritik an „leichtem“ Lesestoff zeigt sie, dass die von ihr interviewten Leserinnen und Leser viel Zeit, Geld und intellektuelle Anstrengungen investieren, um die Ausgaben dieser Reihe zu lesen und zu sammeln, sich mit Gleichgesinnten zu vernetzen und als Rezensenten oder Modellbauer selbst produktiv zu werden. Marketa Spiritova präsentiert Beobachtungen öffentlicher Feiern zum 20. Jahrestag der „samtenen“ Revolution in Tschechien, die im November 2009 stattfanden. Sie lenkt den Blick auf die unterhaltenden Elemente, die in den Medien und von den Veranstaltern als störende Ablenkung von den ernsten Aspekten der Feierlichkeiten verurteilt wurden, nach Ansicht von Spiritova jedoch als Manifestationen von „Erinnerungskulturen ‚von unten’“ (S. 129) zu deuten seien. Vermutlich sei populäre Kultur, so Spiritova, noch am ehesten geeignet, in der „spätmodernen Gesellschaft […] verschiedene soziale Milieus zu erreichen und dort ein Wir-Gefühl zu erzeugen“ (S. 129).

Darijana Hahn illustriert am Beispiel des Kinderspielplatzes das von Wietschorke herausgearbeitete „prodesse et delectare“, unter dem Mitte des 18. Jahrhunderts das Spielen kolonisiert, reguliert und für Zwecke wie Bildung und Körperertüchtigung in den Dienst genommen wurde. Sie verweist in dem Zusammenhang auf den zeitlichen Wandel und die ausgeprägten nationalen Unterschiede in der Spielplatzgestaltung und fragt, ob „diese Geschmackspräferenzen […] Rückschlüsse […] auf die Gesellschaft im Ganzen zulassen“ (S. 91). Plausiblere Erklärungen für Wandel und Unterschiede wird man wohl eher im Zusammenspiel der Spielplatzmacher finden. Markus Tauschek interpretiert Fernsehsendungen wie Deutschland sucht den Superstar als „Effekt der Leistungsgesellschaft“ (S. 192), deren „diffundierende Leistungsideologien […] die Genese von Castingshows erst ermöglicht haben“ (S. 193). Dieser kulturanthropologische Direktschluss von Medieninhalten auf allgemein geteilte Normen, Werte und Vorstellungen ist wenig überzeugend. Nicht nur ließen sich Beispiele anführen, die dem vermeintlichen Trend zur „Castinggesellschaft“ widersprechen. Darüber hinaus ist die These konzeptionell fragwürdig, da sie außer Acht lässt, dass TV-Shows nicht vom „Zeitgeist“, sondern von Fernsehmacher/innen konzipiert werden, die mit eigenen Ideen unter den spezifischen Bedingungen ihres professionellen Umfeldes operieren. Diese Hälfte des populärkulturellen Prozesses ist jedoch, wie oben erläutert, nicht Bestandteil des europäisch-ethnologischen Forschungsfeldes.

Überzeugender verknüpfen Magdalena Puchberger und Moritz Ege in ihren Beiträgen Populärkultur und Gesellschaft. Puchberger verfolgt die Auseinandersetzungen um die „korrekte“ Bestimmung und Pflege urbaner Heimatkultur im Wien der 1930er-Jahre und zeigt, wie Akteur/innen aus der Bündischen Jugend und der Jugendbewegung die Definitionsmacht über den Gegenstand gewannen. Vor dem Hintergrund der Verwissenschaftlichung der Volkskunde und mit dem Wohlwollen des austrofaschistischen Regimes trieben sie die Systematisierung, ästhetische Erhöhung und die Ideologisierung von Heimatkultur voran. Dazu zogen sie eine scharfe Trennlinie zwischen „authentischer“ Volkskultur und dem Treiben proletarischer und kleinbürgerlicher Traditionsvereine, das zur „bloß“ volkstümlichen Unterhaltung herabgestuft wurde. Ege reflektiert die Bedeutung antagonistischer Motive im Leben junger Männer, die sich in Verweisen auf Rap-Texte, Kleidung oder Tätowierungen („Fight to Live – Live to Fight“) manifestieren. In seiner analysierenden Beschreibung hält er sich einerseits fern von der einfachen Lesart, die von der populärkulturellen Symbolik auf handlungsleitende Normen, Werte und Vorstellungen schließt, denn ihm entgeht weder die kommerziell-generische Herkunft der Verhaltenslehren der Härte noch die Inkohärenz, mit der die jungen Männer die kämpferischen Lebensweisheiten in Anspruch nehmen. Andererseits bezeichnet Ege die Inanspruchnahme antagonistischer Motive nicht als leere Rhetorik, sondern betont ihre umfassende Relevanz für seine Interviewpartner, die sie auch in Lebensbereichen jenseits der „Straße“ vertreten (S. 157). Ohne sich auf eine Position festzulegen, diskutiert Ege ein Spektrum möglicher Deutungen, wobei er tief in die Kulturtheorie einsteigt und dabei im Unterschied zu den meisten anderen Beiträgern des Sammelbandes US-amerikanische und britische Forschungsliteratur zur Kenntnis nimmt.

Eges Referat unterstreicht die Wichtigkeit situativer Rahmungen, in denen Akteure Populärkultur in ihr Leben einweben. Dazu zählen beispielsweise Orte wie Tanzsäle, die Birgit Speckle in ihrem Beitrag behandelt. Sie gibt Einblick in ein laufendes Projekt zur Dokumentation von Sälen in Unterfranken, das die Architektur, Gestaltung und Nutzung dieser Lokalitäten erforscht und der historischen Forschung reiches Material verspricht.2 Dies lenkt den Blick auch auf die situations- oder genrespezifischen Konventionen der Kulturrezeption, die Ethnografen durch die teilnehmende Beobachtung erschließen können. Im vorliegenden Band tun dies Jochen Bonz, der dem Phänomen der Fußballbegeisterung auf die Spur geht und dazu als „Kiebitz“ ein Training der Profimannschaft von Werder Bremen besucht, und Christoph Bareither, der von seinen Erfahrungen beim Spielen von Online-Multiplayer-Shootern berichtet und oberflächlichen Killerspiel-Debatten eine nuancierte Innenansicht entgegenstellt.

Unter dem Strich enthält der vorliegende Band auch für Historikerinnen und Historiker anregende Überlegungen zur Erforschung der Erfahrungsdimension und der konkreten Bezugnahme auf populärkulturelle Repertoires. Diese Überlegungen führen weg von pauschalen Schlussfolgerungen von Symbolen auf vermeintliche gesamtgesellschaftliche Großtrends, aber auch vom vertrauten Narrativ der subkulturellen Widerständigkeit hin zu lokalen Analysen von Orten und Situationen, in denen sich Akteure aus dem populärkulturellen Werkzeugkasten bedienen.3

Weniger überzeugend sind die Beiträge, die Populärkultur als Spiegel „der Gesellschaft“ betrachten oder den Eigensinn der Rezipienten gegen eine „Kulturindustrie“ feiern. Die Schwachstelle des Bandes ist die Vernachlässigung der Angebotsseite von Populärkultur, die zu verstehen für die Kontextualisierung von Rezeptionspraktiken und Erfahrungen wichtig wäre. Deren Erforschung steht in der Europäischen Ethnografie aber ebenso aus wie in der Geschichtswissenschaft.

Anmerkungen:
1 Für diese Aufgabe kann man aus akteurszentrierter, empirisch-kleinteiliger soziologischer Forschung Anregungen beziehen. Vgl. etwa C. Clayton Childress, Decision-making, market logic and the rating mindset. Negotiating BookScan in the field of US trade publishing, in: European Journal of Cultural Studies 15 (2012), S. 604–620; Todd Gitlin, Inside Prime Time, New York 1983; Keith Negus, Producing Pop. Culture and Conflict in the Popular Music Industry, London 1992.
2 Teil des Projekts ist der Aufbau einer Datenbank. Siehe <http://www.historisches-unterfranken.uni-wuerzburg.de/db/tanzsaal/tanzsaal/show.php?id=2> (24.01.2014).
3 Zur Definition von Kultur als „tool kit“ vgl. Ann Swidler, Talk of Love. How Culture Matters, Chicago 2001.

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