M. Friedrich: Die Geburt des Archivs

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Titel
Die Geburt des Archivs. Eine Wissensgeschichte


Autor(en)
Friedrich, Markus
Erschienen
München 2013: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 39,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rainer Hering, Landesarchiv Schleswig-Holstein

Archive archivieren Unterlagen, in erster Linie Schriftgut, aber auch andere Informationsträger wie Karteien, Dateien, Karten, Pläne, Bild-, Film-, Ton- und maschinenlesbare Datenträger sowie Siegelstempel. Dabei kommt der dauerhaften, geordneten Aufbewahrung für den modernen Archivbegriff in der Archivwissenschaft zentrale Bedeutung zu – gerade in Abgrenzung zu Registraturen und Sammlungen bzw. Dokumentationen. Der Zugang ist heute in der Bundesrepublik Deutschland gesetzlich geregelt – für den Bund und jedes Bundesland gibt es ein Archivgesetz – und läuft quasi organisch ab: Entsprechend dem Zuständigkeitsbereich des jeweiligen Archivs müssen die betroffenen Stellen alle nicht mehr zur Erfüllung ihrer Aufgaben benötigten Unterlagen dem Archiv anbieten, das dann über die Archivwürdigkeit der zumeist einmaligen Unterlagen entscheidet.

Archive hatten ursprünglich ausschließlich eine rechtliche Funktion, indem sie der Aufbewahrung wichtiger Urkunden und Verträge dienten. Erst seit dem 19. Jahrhundert gewannen Archive als Orte historisch und kulturell wertvoller und aussagekräftiger Quellen nachhaltig an Bedeutung. In den Kulturwissenschaften gibt es seit etlichen Jahren anknüpfend an Michel Foucault und Jacques Derrida einen Diskurs über den Archivbegriff, der die Verbindung zur „Macht“ hervorhebt, von archivischer Seite aber erst spät aufgegriffen worden ist.1

Markus Friedrich, Professor für Europäische Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Hamburg, hat einen anregenden Beitrag zur Geschichte der Archive in Europa sowie zur Geschichte des Wissens und seiner Überlieferung in der Frühen Neuzeit verfasst. Der bisher überwiegenden Sichtweise der Archivgeschichte setzt er eine andere Akzentuierung entgegen. Er geht von einem kulturwissenschaftlich geprägten Archivbegriff aus, der umfassender ist, als der der Archivwissenschaft: „Ein Archiv ist, was Menschen sich als Archiv denken: eine Schachtel mit der Aufschrift ‚Archiv‘, eine Schatzkammer mit goldenen Kladden“ – heißt es auf dem Buchumschlag. Archive sind für ihn feste Orte der Aufbewahrung von Dokumenten. „Archive werden üblichen Redewendungen zufolge als Arsenale oder Speicher, als Bedingungen oder Strukturgeber von Wissen bezeichnet“ (S. 15). Friedrich orientiert sich eher am zeitgenössischen, vormodernen Begriff von „Archiv“. Das fachlich so wichtige Kriterium der Dauerhaftigkeit eines Archives greift Friedrich in seiner quellennahen und dicht belegten Studie nicht auf. Daher erfasst er ein größeres Spektrum von Aufbewahrungsinstitutionen, von denen etliche in der Archivwissenschaft eher als Registratur oder Altregistratur zu bezeichnen sind.

Dennoch vermeidet Markus Friedrich in seiner gut lesbaren Darstellung den wenig zielführenden Jargon von Teilen der Kulturwissenschaft, sondern geht verantwortungsvoll mit seinem Archivbegriff um. Er plädiert überzeugend für die Verbindung von Archiv- und Wissensgeschichte. Friedrich betont, dass die Benutzung eines Archivs als Wissensort nicht trivial ist, und will alternative Zugänge zum Archiv herausstellen (S. 15). Er fragt nach der tatsächlichen Bedeutung des in den Archiven befindlichen Wissens im Alltag, nach dem „Sitz der Archive im Leben der Menschen“ (S. 17). Die Nutzerinnen und Nutzer der Archive „aktivieren“ sie jeweils neu (S. 18). Sein Anliegen ist es, „Archive als zentrale Orte einer europäischen Wissensgeschichte bekannt zu machen und den anderen Institutionen an die Seite zu stellen“ (S. 19). Er will die „bisherige Isolation“ der Archivgeschichte überwinden und sie an die aktuellen Fragestellungen der Geschichtswissenschaft anschließen (S. 21).

Nach einleitenden Archivgeschichten setzt er sich mit dem Füllen und dem Gründen von Archiven auseinander, analysiert deren Bedeutung im Denken der Frühen Neuzeit, fragt nach Personen und Räumen und stellt Archive als Ressourcen, Symbole und Gegenstände von Herrschaft sowie ihre Rolle in der Historiographie und Genealogie dar. Ein Epilog über das vormoderne und das moderne Archiv rundet die Untersuchung ab.

Friedrich sieht im ausgehenden 16. Jahrhundert eine Zäsur in der europäischen Archivgeschichte, weil nun erstmals gedruckte Ausführungen zum Archivieren und seinen Herausforderungen verfasst wurden. Diese Reflexion setze erst in der Frühen Neuzeit ein – zudem erlangten Archive nun eine flächendeckende Verbreitung und wirkten sich auf den Alltag der Menschen aus (S. 24f.). Dabei ist der Autor davon überzeugt, dass „die europäische Archivkultur nationale oder regionale Differenzierungen überwölbte“ (S. 26). Zudem: In der Frühen Neuzeit – und damit deutlich vor Leopold von Ranke im 19. Jahrhundert – setzte bereits eine intensive Nutzung der Archive für historische Arbeiten ein, weil man hoffte, so die ‚tatsächliche‘ politische Ereignisgeschichte schreiben zu können (S. 232–238). Friedrich sieht eine direkte Verbindung zwischen der Neupositionierung der Archive in der Gesellschaft und der Professionalisierung der Quellenkritik und Archivkunde – 1821 wurde in Paris die École des Chartres und 1854 in Wien das Institut für Österreichische Geschichtsforschung gegründet (S. 278).

Der Autor stützt sich für seine Darstellung der „Geburt des Archivs“ auf umfangreiche Archivalienauswertungen im deutschen und französischen Sprachraum. Ob das Ergebnis, zu dem er gelangt, auch für andere europäische Länder gilt, sollten weitere länder- und regionsspezifische Untersuchungen prüfen. Leider fehlt ein Verzeichnis der von ihm benutzten archivischen Quellen im Buch – jedoch lässt das umfangreiche Literaturverzeichnis nur wenig vermissen, zum Beispiel die klugen Arbeiten des archivwissenschaftlichen Denkers Dietmar Schenk.2

Markus Friedrich hat gezeigt, wie anregend die Beschäftigung mit Archivgeschichte ist und wie bereichernd ein seriöser kulturwissenschaftlicher Ansatz sein kann. Diesen für das 19. und 20. Jahrhundert fortzuschreiben, ist eine reizvolle Aufgabe. Die Archivwissenschaft kann von derart qualifizierten Beiträgen nur profitieren – und die Geschichtswissenschaft gewinnt an analytischer Schärfe, wenn sie die Rahmenbedingungen der Überlieferung ihrer Quellen in den Blick nimmt. Grundsätzlich sollte der Dialog zwischen beiden Disziplinen intensiver geführt werden.3

Anmerkungen:
1 Vgl. dazu aus archivwissenschaftlicher Sicht: Rainer Hering / Dietmar Schenk (Hrsg.), Wie mächtig sind Archive? Perspektiven der Archivwissenschaft, Hamburg 2013. Vor allem in dem Beitrag von Dietmar Schenk: „Archivmacht“ und geschichtliche Wahrheit (S. 23–47) wird ausführlich auf die Debatte in den Kulturwissenschaften eingegangen.
2 Dietmar Schenk, Kleine Theorie des Archivs (2008), 2. überarb. Aufl., Stuttgart 2014; ders., „Aufheben, was nicht vergessen werden darf“. Archive vom alten Europa bis zur digitalen Welt, Stuttgart 2013.
3 Dazu ausführlicher Rainer Hering, Bewertung und Auswertung. Auswirkungen archivischer Arbeit auf die historische Überlieferungsbildung, in: Scrinium. Zeitschrift des Verbandes Österreichischer Archivarinnen und Archivare 57 (2003), S. 76–87.

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