Ein neuer Streit um die Deutungshoheit?

: Juli 1914. Eine Bilanz. Paderborn 2014 : Ferdinand Schöningh, ISBN 978-3-506-77592-4 362 S. € 39,90

: July 1914. Countdown to War. New York 2013 : Perseus Book Group, ISBN 978-0-46503145-0 $29.99 / € 23,63

: The War That Ended Peace. The Road to 1914. London 2013 : Random House, ISBN 978-1-4000-6855-5 784 S. $35.00 / € 32,32

: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. München 2013 : Deutsche Verlags-Anstalt, ISBN 978-3-421-04359-7 896 S. € 39,99

: July Crisis. The World’s Descent into War, Summer 1914. Cambridge 2014 : Cambridge University Press, ISBN 978-1-10706490-4 555 S. £25.00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Rose, Abteilung Neuzeit, Universität Bonn

Redaktionsnotiz: Sammelbesprechungen zum Thema Erster Weltkrieg

Liebe Leserinnen und Leser von H-Soz-u-Kult,

mit der heute erscheinenden Sammelrezension von Andreas Rose zu aktuellen Publikationen zur Juli-Krise 1914 beginnt H-Soz-u-Kult eine kleine Reihe mit Besprechungen zum Thema Erster Weltkrieg. Folgen werden Sammelrezensionen unter anderem zu neuen Gesamtdarstellungen des Krieges und zur Gewalt im Ersten Weltkrieg. Angesichts der Fülle von Neuerscheinungen zum Centenarium des Kriegsbeginns hat die Redaktion bereits im Frühjahr entschieden, auf viele Einzelrezensionen zur Geschichte des Ersten Weltkriegs im Jubiläumsjahr zu verzichten und auf das große öffentliche Interesse an Büchern zum Thema mit vergleichenden Besprechungen zu reagieren. Wir hoffen, auf diese Weise zu einer sachlichen und ruhigen Diskussion der vielen neuen Publikationen beitragen zu können. Dessen ungeachtet werden in den nächsten Wochen und Monaten auch verschiedene Einzelrezensionen zu Veröffentlichungen aus dem Themenfeld erscheinen.

Allen Autoren der Sammelrezensionen möchten wir unseren herzlichen Dank aussprechen. Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, wünschen wir eine anregende und inspirierende Lektüre.

Im Namen der Redaktion von H-Soz-u-Kult
Jörg Neuheiser – Alexander Korb – Christoph Laucht – Rüdiger Hohls – Claudia Prinz

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Ein neuer Streit um die Deutungshoheit?
Neuere Literatur zu den Kriegsursachen von 1914

Kaum ein Zeitraum in der europäischen Geschichte findet derzeit ein so reges Interesse in Forschung, Medien und Publizistik wie die Großmächtebeziehungen im Vorfeld des Ersten Weltkriegs. Dessen Ursachen haben auch hundert Jahre später offenbar nichts von ihrer Faszination eingebüßt.1 Seit Jahren schon bewegen sich Historiker mit ihren Studien auf das einhundertjährige Jubiläum des Kriegsausbruchs zu. Dabei haben die Forschungen einen deutlichen Wandel vollzogen – teils weil der deutsche Sonderweg und damit der Hauptfokus auf das Kaiserreich an Überzeugungskraft eingebüßt hat, teils weil in unserer Gegenwart der Übergang von der Bipolarität des Kalten Krieges zu einem stärker multipolar ausgerichteten und global dimensionierten Staatensystem den Blickwinkel des Historikers verändert. Nach Jahrzehnten des Streits um die Thesen Fritz Fischers und den deutschen Anteil an den internationalen Entwicklungen vor 1914 hat sich inzwischen herauskristallisiert, dass das lange vorherrschende Muster von der wilhelminischen Außenpolitik als Inbegriff permanenten Versagens, wiederholt vorsätzlich ausgelöster Krisen und eines geradezu verbrecherisch herbeigeführten Krieges im Sommer 1914 korrekturbedürftig ist.

Für das Kaiserreich werden unter anderem dank der verdienstvollen Leistungen von Konrad Canis verstärkt geographische, finanzielle sowie außen- und innenpolitischen Zwänge und mit dem Zeitverlauf immer bescheidenere Wahlchancen bzw. ein im Vergleich zu den übrigen Mächten doch recht enger Möglichkeitsraum ins Blickfeld gerückt.2 Auch der ehemals breite Konsens zum ähnlich fest etablierten Interpretationsschema einer lediglich auf die deutsche Herausforderung reagierenden britischen Gleichgewichtspolitik ist mittlerweile ebenso erschüttert wie die vermeintliche Opferrolle Frankreichs oder Russlands.3

Kennzeichnend für die jüngeren Forschungsentwicklungen ist deren multikausale und mehrdimensionale Ausrichtung. Lang-, mittel- und kurzfristigen Faktoren etwa in Fragen des europäischen und globalen Staatensystems werden mittlerweile ebenso selbstverständlich in die Betrachtung einbezogen wie kulturelle Beziehungen. Der multilaterale Blick schützt dabei vor der Überbetonung der Rolle des Kaiserreiches im Guten wie im Schlechten. Er verweist auf andere Vorgeschichten der historischen Zusammenhänge und ergibt deshalb ein vollständigeres Bild der politischen Entscheidungsfindungen in den europäischen Hauptstädten. Darüber hinaus stößt eine auf Europa konzentrierte Betrachtung in diesem ersten Zeitalter der Globalisierung rasch an ihre Grenzen. Gerade für Großbritannien, aber auch für Russland, Frankreich und selbst für das Deutsche Reich spielte die „weltpolitische“ Dimension eine zentrale Rolle. Europäische und außereuropäische Überlegungen waren immer weniger voneinander zu trennen. Eine weltgeschichtliche Betrachtungsweise, so hat nicht zuletzt Jürgen Osterhammel gefordert, müsse versuchen, „die Geschichte des europäischen, sich gegen Ende des [19.] Jahrhunderts global erweiternden Staatensystems mit der Geschichte der kolonialen und imperialen Expansion in Beziehung zu setzen“ und dabei der Versuchung widerstehen, „die internationale Geschichte des 19. Jahrhunderts teleologisch auf den Kriegsausbruch am 4. August 1914 zulaufen zu lassen“.4

In seiner monumentalen, inzwischen bereits unzählige Male besprochenen Studie „Die Schlafwandler“ bindet Christopher Clark die angeführten Ergebnisse und Tendenzen der internationalen Forschung nicht nur auf brillante Weise zusammen. Er liefert über die Synthese hinaus auch noch eine herausragende neue Gesamtinterpretation der Vorkriegspolitik. Clarks ausdrückliches Ziel ist es, die multilaterale Dimension der Vorkriegsgeschichte hervorzuheben und die Schuldfrage hinter sich zu lassen. Er versteht die Julikrise als modernes und im höchsten Maße komplexes Ereignis, wobei er weniger das „Warum“ als das „Wie“ in den Vordergrund rückt. Was zunächst eher als ein konstruierter Unterschied in der Fragestellung erscheint, stellt sich auf den zweiten Blick als plausible Differenzierung heraus. Clark geht es weniger um die bekannten Kategorien des Imperialismus, der Rüstungen oder des Bündnissystems und des daraus folgenden Kausaldrucks, wie er schreibt, als vielmehr um die kaum zu entwirrende Komplexität der Interaktionen im Sommer 1914. Die Julikrise erscheint so als Höhepunkt einer ganzen Kette von Entscheidungen, die sich allesamt in unterschiedlichem Maße gegenseitig bedingten (S. 17).

Während internationale Kenner und Fachblätter Clarks Arbeit zumeist als eine weitere, bahnbrechende Leistung rühmen5, hat sein Buch gerade in Deutschland auch Kritik hervorgerufen. Obgleich eine europäische Perspektive der Vorkriegsgeschichte lange gefordert worden war, scheint einigen Kritikern nun gerade diese Ausrichtung einer Verharmlosung deutscher Schuld gleichzukommen. So meint Volker Ullrich darin die alte These Lloyd Georges wiederzuerkennen, die von einem unbeabsichtigten „Hineinschlittern“ in den Krieg ausging. Clark, so Ullrich, verkenne beispielsweise vollkommen den maßgeblichen Einfluss des kriegstreiberischen deutschen Generalstabs.6 Auch Hans-Ulrich Wehler, ein großer Kenner der wilhelminischen Sozialgeschichte, der aber nie zu den internationalen Beziehungen, geschweige denn zu den Hintergründen der Außenpolitik Österreich-Ungarns, Englands, Frankreichs oder Russlands gearbeitet hat, will einen geradezu „zielstrebigen Versuch“ Clarks erkannt haben, den deutschen Anteil am Krieg zu „verwischen“ und die deutsche Politik insgesamt „zu beschönigen“.7 Darüber hinaus macht Wehler gefährliche Tendenzen aus, wenn er hinter dem Verkaufserfolg der Schlafwandler auf dem deutschen Buchmarkt „ein tiefsitzendes, jetzt wieder hochgespültes apologetisches Bedürfnis“ der Deutschen erkennt, „sich von den Schuldvorwürfen zu befreien“. Auch dem deutsch-englischen Historiker John Röhl wird es „mulmig bei der Vorstellung“, dass aufgrund der Forschungsergebnisse Clarks und anderer „in vielen Köpfen in Deutschland jetzt wohl der Eindruck […] von der Unschuld der Reichsregierung im Juli 1914“ um sich greifen könne. Röhl, fraglos der beste Kenner Kaiser Wilhelms II., der wie Wehler nie zu den diplomatischen Vorgängen der übrigen Mächte gearbeitet hat, wirft Clark sogar eine „Bagatellisierung“ der Quellen und damit nichts weniger als Geschichtsklitterung vor.8 In eine ähnliche Kerbe schlägt Bernd Sösemann. Der Berliner Historiker, der eher durch Arbeiten zu Kurt Riezlers Tagebüchern und zu Theodor Wolff als durch Studien zur internationalen Vorkriegsdiplomatie bekannt ist, wirft Clark vor, bei seinen Bewertungen der deutschen Politik einem „Lesefehler“ bei Riezlers Aufzeichnungen aufgesessen zu sein.9 Jedoch übersieht dieser berechtigte Einwand zweierlei. Zum einen stützen sich Clarks Ausführungen kaum auf Riezlers Tagebücher, Riezler selbst wird überhaupt nur dreimal erwähnt (S. 541, S. 604, S. 661). Zum anderen konzentriert sich diese Kritik wiederum ausschließlich auf das längst bekannte und überhaupt nicht angezweifelte, katastrophale wilhelminische Krisenmanagement, während sie den Kern der jüngeren Forschung im Allgemeinen wie Clarks Buch im Besonderen, die internationale Betrachtung der Vorkriegsgeschichte, außer Acht lässt. Angesichts der Form und der Stoßrichtung der Kritik drängt sich der Eindruck auf, als ginge es nicht mehr um international verbreitete und gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse als vielmehr um die Bewahrung der traditionellen deutschen Nabelschau.10

Ein genauerer Blick auf die Studie Clarks zeigt, dass von alledem nicht die Rede sein kann. Richtig ist, dass Clark die Ursachen des Krieges, der aktuellen Forschung angemessen, nicht länger allein bei den Mittelmächten sucht und dass er die überkommene Schuldfrage für moralisierend und für eine längst begonnene, aber offenbar noch immer schwierige Historisierung der Vorkriegsgeschichte als nicht förderlich, ja geradezu als müßig empfindet. Richtig ist aber auch, dass er sich wie kaum einer vor ihm die Mühe gemacht hat, nicht einfach von den längst bekannten (und auch seiner Ansicht nach nicht zu wiederlegenden) deutschen Absichten und Fehlern auf die Haltung der übrigen Mächte zu schließen. Aus wissenschaftlicher Sicht ist es nämlich eine Sache, dem Kaiser, den deutschen Militärs oder der Reichsleitung sinistere Motive nachzuweisen. Etwas völlig anderes ist es hingegen, zu belegen, dass die anderen Mächte auch tatsächlich primär auf eben diese deutsche Politik reagierten und nicht etwa eigene Interessen verfolgten.

Zu den Überraschungsmomenten von Clarks großer Studie zählt die Herausarbeitung des sogenannten „Balkan inception scenarios“ – des „Katalysators Balkan“ (genau genommen des Katalysators Serbien) (S. 714). So beginnt er seine Studie nicht mit dem gewohnten Blick auf das Großmächtekonzert, sondern mit Serbien. Die Aktivitäten serbischer Terroristen vor dem Attentat von Sarajewo, die nationalistischen Träume von einem Großserbien und die zunehmende Unterstützung Serbiens durch Russland, die, was oft übersehen wird, erst nach 1903 einsetzte, markieren den Ausgangspunkt von Clarks Überlegungen. Mithilfe eigener Forschungen in serbischen Archiven und einer enormen Literaturkenntnis gelingt ihm gerade in diesem ersten Kapitel ein Meisterwerk, in dem er die komplexen Hintergründe und die Vernetzung serbischer Nationalisten der sogenannten Schwarzen Hand mit dem serbischen Geheimdienst bis in die serbische Regierung hinein nachweist. Wiederholt garniert er seine Erzählung mit biographischen Miniaturen über den Hauptverschwörer Apis oder den überforderten serbischen Ministerpräsidenten Nikola Pasic. Clark schildert eine irredentistische Kultur, geprägt von konspirativen Machtkämpfen, Verrat, Verschwörung, Misstrauen und Verantwortungslosigkeit. In diesem Klima erwuchs die Gefahr, dass die großen Erfolge der Balkankriege von 1912/1913, aus denen das junge Serbien massiv gestärkt hervorgegangen war, den Serben zu Kopf steigen könnten und sie für ihre Nachbarn allen voran die Habsburgermonarchie ein unkalkulierbares Risiko darstellten (S. 23–99).

Dem gegenüber stellt Clark das kränkelnde Vielvölkerreich Österreich-Ungarn, welches sowohl den serbischen Träumen als auch der russischen Expansion in Richtung Südosteuropa im Weg stand, nach wie vor aber ein integraler Bestandteil der europäischen Pentarchie war (S. 100–168). Deutlich wird hier auf der einen Seite der sich allmählich ausbreitende Fatalismus und die zunehmende Konfliktbereitschaft innerhalb der Habsburgermonarchie herausgearbeitet. Auf der anderen Seite hält er einen Krieg zwischen Österreich und Serbien bis zum Frühsommer 1914 für eher unwahrscheinlich (S. 160). Grund dafür sei auf Belgrader Seite die Zufriedenheit angesichts der großen Erfolge während der Balkankriege gewesen sowie die Notwendigkeit, zunächst die hinzugewonnenen Gebiete in das Staatsgebiet zu integrieren. Auf österreichischer Seite führt Clark das berühmte Matscheko-Memorandum zur Situation auf dem Balkan vom 24. Juni 1914 an, welches zwar äußerst pessimistisch im Tonfall war, aber ausschließlich diplomatische und politische Mittel im Auge hatte. Sogar von wirtschaftlichen Zugeständnissen an Belgrad war darin die Rede, um die serbische Politik von ihrem permanenten Konfrontationskurs abzubringen (S. 162). Clark ist sich bewusst, dass es auch andere Stimmen gab, etwa diejenige des Generalstabschefs und notorischen Serbienhassers Franz Conrad von Hötzendorf. Letztlich aber erwies sich ausgerechnet der Thronfolger Franz Ferdinand wiederholt als Hindernis für die Wiener Falken. Umso tragischer erscheint daher ausgerechnet dessen Ermordung.

Im zweiten Teil unterbricht Clark sein Narrativ und widmet sich der europäischen Gesamtkonstellation seit dem Höhepunkt des Bismarckschen Bündnissystems von 1887. Auch wenn er darauf nicht näher eingeht, wird doch klar, dass er das eigentliche Ziel der Politik Bismarcks, nämlich mithilfe seines komplexen Systems von ‚checks and balances‘ die Spannungen an die Peripherie abzulenken und den casus foederis gar nicht erst eintreten zu lassen, völlig richtig erkennt. Zwanzig Jahre später, 1907 sieht er jedoch eine Polarisierung des geopolitischen Systems, die für den Kriegsausbruch von 1914 eine entscheidende Bedeutung hatte (S. 170). In den nächsten Kapiteln zeichnet er die internationale Entwicklung bis zum Mord in Sarajewo nach (S. 169–227), um zu zeigen, wie ein ursprünglich serbisch-österreichischer Streitfall das gesamte Staatensystem erfassen konnte (S. 228–317). Wichtig ist dabei festzuhalten, und hier bewegt sich Clark ganz auf der Höhe gegenwärtiger Erkenntnisse, dass die Bewegung und maßgebliche Systemveränderung nach 1890 nicht vom Deutschen Reich, sondern insbesondere von Großbritannien, Frankreich und Russland ausging und nicht in erster Linie als Gegengewicht gegen die vermeintliche Stärke des Reiches zu verstehen war. Vielmehr ging es darum, sich gegenseitige Interessenzonen in der Welt zu möglichst geringen Transaktionskosten zu sichern. So hatte Großbritannien bereits Mitte der 1890er-Jahre erkannt, dass es dem russischen Druck an der indischen Nordwestgrenze nur mit einem erhöhten Kostenaufwand würde standhalten können, der wiederum die Balance zwischen Heimatland und Empire auf Dauer gefährden könne. Die Londoner Doppelstrategie Russland sowohl gegenüberzutreten, als auch einen Interessenausgleich im Mittleren Osten anzustreben, führte letztlich zur Entente Cordiale von 1904 und der anglo-russischen Konvention von 1907. Damit aber, und das geht in der Studie Clarks leider etwas unter, wurde das gesamte Staatensystem revolutioniert. Während es bis dahin darum gegangen war, das Zentrum auf Kosten der Peripherie zu entlasten, wirkten die peripheren Spannungen nun auf den Kontinent zurück. Indem vor allem die liberale Außenpolitik unter dem britischen Außenminister Sir Edward Grey Russland den Griff auf die Meerengen in Aussicht stellte, lenkte sie das Zarenreich von Indien ab, verwies es aber zu Lasten des europäischen status quo auf Südosteuropa. Dass die Berliner Außenpolitik in dieser Phase von allerlei Grobschlächtigkeiten und Fehlern geprägt war, ist unstrittig. Für eine Eskalation, wie sie sich im August 1914 schließlich vollzog, war aber die allmähliche „Balkanisierung der Verhältnisse“, namentlich des französisch-russischen Bündnisses während der Balkankriege von 1912/13 entscheidend (S. 381–392). Hier kristallisierte sich jenes Balkanszenario heraus, welches ohne die von England gelenkte Rückwendung der Mächte zum Kontinent, ohne den wachsenden, von Russland geförderten serbischen Irredentismus und ohne die deutsche Unterstützung Österreich-Ungarns nicht möglich gewesen wäre.

Das ist das Panorama, vor dessen Hintergrund Clark schließlich die Julikrise selbst behandelt (S. 475–709). Der Autor versteht unter der Sollbruchstelle Balkan eine Konstellation, bei der sich die Großmächte, anders als etwa bei den Marokkokrisen, der Unterstützung ihrer jeweiligen Partner sicher sein konnten. Während die Nibelungentreue Berlins zu Wien ohnehin unstrittig schien, gelingt es zu zeigen, dass sich namentlich in Paris während der Balkankriege der Eindruck durchgesetzt hatte, dass Russland nur für einen Konflikt auf dem Balkan gegen die Mittelmächte zu mobilisieren war (S. 393). Deshalb wurde der Balkan für Paris und Petersburg zu einer Art geopolitischer Sollbruchstelle und Serbien zu einem strategischen Vorwerk der Entente insgesamt. Dabei handelte es sich nicht um einen teuflischen Plan Raymond Poincarés, sondern vielmehr um das nüchterne Kalkül, eine als dringend empfundene Unterstützung Russlands gegen Deutschland für den Ernstfall zu sichern. Das bedeutete nicht, dass der Krieg im Sommer 1914 unausweichlich wurde, aber es engte sowohl das russische als auch das französische Krisenmanagement frühzeitig auf eine bestimmte Interpretation der Krise ein, die wiederum die Eskalation zum Krieg letztlich wahrscheinlicher machte (S. 714).

Auch wenn Clark vor allem die Rolle Frankreichs und Russlands hervorhebt, bedeutet das nicht, dass er die nachgewiesene Aggressivität und Paranoia der österreichischen und deutschen Militärs und Staatsmänner trivialisiert oder etwa den fatalen deutschen Blankoscheck an Wien als unerheblich abtut. Aber er räumt den Mittelmächten den gleichen Vertrauensbonus ein wie der Entente. Das zeigt sich etwa, wenn er die merkwürdigen Urlaubsreisen der gesamten militärischen Führungselite Deutschlands just zum Zeitpunkt der Krise bewertet. Während die ältere Forschung darin automatisch eine verschlagene List und Heimtücke zu entdecken glaubte, um die Welt in Sicherheit zu wiegen, während man tatsächlich einen perfiden Angriffskrieg plante, geht ihm das in Ermangelung entsprechender Belege zu weit. Es erscheint schließlich ebenso möglich, dass die deutsche Führung schlichtweg der Kommandostruktur vertraute, eine Eskalation für unwahrscheinlich hielt oder sogar demonstrative Gelassenheit ausstrahlen wollte, schließlich hielt man es in Berlin nicht einmal für nötig, genügend Munitionsvorräte für einen Krieg anzulegen, und auch der militärische Geheimdienst zeigte keine erhöhte Alarmbereitschaft (S. 660f.). Es ist der Blick auf den komplementären Zusammenhang der Quellen, der eine besondere Stärke des Buches ausmacht. Dabei ist Clark weit davon entfernt, die plumpe deutsche Außenpolitik, ihr verfehltes Krisenmanagement, die Präventivkriegsabsichten Moltkes oder die misslungene Lokalisierungsstrategie im Sommer 1914 zu bagatellisieren. An einer der spannendsten Stellen des Buches hebt er beispielswiese ausdrücklich die dramatische Szenerie hervor, als es aufgrund eines Telegramms aus London am 1. August 1914 zum heftigen Streit zwischen dem Kaiser und Generalstabschef von Moltke kam (S. 678). Die Problemlagen, die einzelnen Persönlichkeiten und Interaktionen erscheinen insgesamt derart komplex, dass eine klare Schuldzuweisung tatsächlich ins Leere führt. Es ist das enorme Verdienst Clarks, gerade auf diese unendlich komplizierten Gemengelagen im Sommer 1914 aufmerksam gemacht zu haben und diese so sorgfältig wie möglich zu entflechten. Dabei macht insbesondere die konsequent europäische, multipolare und interaktive Perspektive aus der Studie einen großen Wurf. Für Clark steht demnach fest, dass der Krieg eine europäische Tragödie und kein deutsches Verbrechen war (S. 716).

Unterstützt wird dieser europäische Blickwinkel von Margaret MacMillan, die ebenfalls ein bewusst multilateral angelegtes Buch zur Frage „How Europe Abandoned Peace for the First World War“ vorgelegt hat. Ihre Studie basiert indes nicht auf einem eigenen Quellenstudium, sondern ist vornehmlich an das nichtwissenschaftliche Publikum gerichtet. Dabei zeichnet sie die bekannten internationalen Wegmarken nach der Jahrhundertwende nach, den Aufstieg Deutschlands, die anglo-französische Übereinkunft zur Entente cordiale, die allerdings keine Antwort auf Deutschland gewesen sei, sondern kolonialen Interessen gehorcht habe, wenngleich sie die deutsch-englischen Beziehungen belasten musste (S. 158), sowie die steigende Krisenfrequenz bis 1914. Deutlicher als Clark zeichnet sie dabei die allgemeine Militarisierung der Außenpolitik über die polarisierte Struktur der Allianzen. Während sie anders als Clark der üblichen Erzählung des anglo-deutschen Antagonismus durch das Flottenwettrennen folgt (S. 100–130), erkennt auch sie die große Gefahr, die von dem franko-russischen Bündnis ausging. Immer wieder führt sie auch die sogenannten „unspoken assumptions“ an, in denen sich zunehmend bei allen Mächten sozialdarwinistische Annahmen von einem langfristig unvermeidbaren Konflikt breit machten und die den Rahmen für das internationale Krisenmanagement bildeten (S. 237–238, S. 246, S. 308). MacMillan macht insgesamt zwei neuralgische Zonen im Staatensystem aus, an denen der status quo zu zerbrechen drohte: in Nordafrika und auf dem Balkan, wobei vor allem die letztere Zone seit der bosnischen Annexionskrise am ehesten dafür stand, die Konflikte von der Peripherie auf das Zentrum zu übertragen. Mit Clark konform geht sie deshalb bei der Frage der maßgeblichen Bedeutung der Balkankriege von 1912/13. Zwar sei der Große Krieg nochmals verhindert worden, aber die Erleichterung der internationalen Friedensbewegung war trügerisch (S. 468), wie schon die bald darauffolgende Liman-von-Sanders-Krise belegte (der internationale Konflikt um die Entsendung einer deutschen Militärmission ins Osmanische Reich 1913) (S. 494f.). Insgesamt handelt es sich bei dem Buch MacMillans um eine gut geschriebene, jedoch im Vergleich zu Clark nicht sonderlich innovative Studie. Sie folgt weitgehend dem bekannten Narrativ einer zunehmenden Krisenfrequenz, die sich im Sommer 1914 entladen habe. Allerdings, offene Schuldzuweisungen, wie von Wehler, Ullrich oder anderen gewünscht, lassen sich auch bei ihr nicht finden.

Die minutiösen Schilderungen Sean McMeekins und Thomas Ottes verzichten ebenfalls darauf, ein ‚blame game‘ zu spielen. In geradezu mustergültiger Weise beschreiben sie die dramatischen Wochen nach dem Attentat von Sarajewo am 28. Juni 1914 auf einem breiten Fundament internationaler Quellen. Beide Arbeiten stellen ihrer Betrachtung eine Liste der Protagonisten der Julikrise voran. McMeekin, dessen Studie inzwischen auch auf Deutsch erschienen ist11, illustriert die Szenerie des Attentats mit einer Straßenkarte Sarajewos und konzentriert sich wie Otte auf die danach folgenden Wegmarken. Anhand der ersten Reaktionen in den europäischen Hauptstädten können beide zeigen (McMeekin, S. 21–86; Otte, S. 39–101), dass weder Paris noch London zunächst mit ernsten Konsequenzen rechneten und vielmehr von ihren jeweiligen innenpolitischen Problemen, dem Prozess Caillaux bzw. der Irlandfrage dominiert waren. Ganz anders dagegen sah es in Wien, Berlin und Petersburg aus. Gerade die von McMeekin hervorgehobene russische Reaktion, über die wir bislang am wenigsten wussten, verdeutlicht, dass das Zarenreich von Beginn an eine Eskalation der Krise im Auge hatte. Nikolai Hartwig, der russische Geschäftsträger in Belgrad, der bereits bei der Gründung der Balkanliga und den vorangegangen Balkankriegen eine maßgebliche und alles andere als beschwichtigende Rolle gespielt hatte12, bestärkte auch in der Julikrise das serbische Selbstbewusstsein und trug damit entscheidend zu dessen generell unversöhnlicher Haltung bei (S. 48f.). Aus russischer Sicht wurde mit Franz Ferdinand eine „gefährliche Person“ beiseite geräumt und auch die britischen Berichte aus Petersburg bestätigen, dass Russland nun eine Chance erblickte, sowohl expansiv in Richtung Balkan als auch in Richtung Meerengen vorzurücken. So etwas wie ein Verteidigungsrecht Österreich-Ungarns gegenüber dem serbischen Irredentismus wurde nach McMeekins Ansicht überhaupt nicht in Betracht gezogen (S. 47–61). Die Habsburgermonarchie, darauf verweist übrigens auch Clark (S. 615) völlig zu Recht, galt in russischen Augen offenbar nicht mehr als integraler Bestandteil des Großmächtekonzerts, sondern als Manövriermasse. Bereits zwei Tage nach dem Attentat verfügte Zar Nikolaus II. auf Druck des eigenen Generalstabs die Lieferung von über 120.000 Gewehren und 120 Millionen Schuss Munition an Serbien (S. 59). Gleichzeitig begann das Zarenreich seine ersten militärischen Vorbereitungen und diplomatischen Sondierungen in Richtung Paris und London. Von nun an, so McMeekin, begann der Countdown zum Krieg, den er flüssig an den bekannten Entscheidungsmarken etwa der Mission Hoyos (S. 89–105) oder den Entscheidungen im Wiener Ministerrat (S. 106–113) entlang erzählt. Immer wieder, dass fällt auf, betont McMeekin ebenso wie Clark die Rolle Frankreichs und Russlands, ohne jedoch Berlin, Wien oder London aus den Augen zu verlieren. Die minutiöse Schilderung der Abläufe, wie sie auch Otte unternimmt, bietet den Vorteil, jeweilige Verantwortlichkeiten in verschiedenen Phasen in ihrer unterschiedlichen Wirkung und Bedeutung herauszustreichen und damit letztlich zu einer ausgewogenen und differenzierten Analyse der Ereignisse zu gelangen. Otte geht es mehr um die Binnenbeziehungen der beteiligten Diplomaten und Politiker, während McMeekin immer wieder versucht, sich von diesen zu lösen und die größeren Zusammenhänge herauszuarbeiten.

Otte bleibt dagegen insgesamt sehr dicht, für den unkundigen Leser manchmal zu dicht an den Quellen. Hier handelt es sich um eine klassische Diplomatiegeschichte, klar gemünzt auf die enge Entscheidungssituation im Sommer 1914. Der Autor konzentriert sich vor allem auf das geringe politische und diplomatische Niveau der handelnden Personen. Ob auf deutscher, französischer, russischer oder österreichisch-ungarischer Seite, überall erkennt er ein eklatantes Maß an Politikversagen. Einzige Ausnahme, und darin unterscheidet er sich fundamental von der Bewertung Clarks, McMeekins oder anderer jüngerer Studien13, sei Grey gewesen. Zwar habe auch dieser Fehler zu verantworten, wie etwa den Vermittlungsvorschlag à quatre ohne Beteiligung Russlands, aber insgesamt sei er der einzige Entscheidungsträger gewesen, der ernsthaft versucht hätte, die Eskalation zu vermeiden (S. 295–299). Otte folgt damit einer älteren Sichtweise, die vor allem Greys integren Charakter in den Vordergrund rückte und dessen Absichten über seine politischen Leistungen stellte.14 Gerade an dieser Bewertung zeigen sich die Grenzen einer engen Perspektivierung allein auf die Julikrise wie auch der Mangel an Abstraktion in der ansonsten so beispielhaften Studie. Statt Grey und dessen Krisenmanagement in den Gesamtkontext seiner konsequenten Pflege der Entente – mit Ausnahme einer kurzen Phase 1912/13 – in den Jahren vor 1914 zu stellen, die maßgeblich zu einer Polarisierung der internationalen Beziehungen beigetragen hatte, bewertet ihn Otte vornehmlich anhand seines Vermittlungsvorschlages nach dem Wiener Ultimatum an Serbien. Die zweite tragische Figur der Julikrise sieht Otte in dem deutschen Botschafter Prinz Lichnowsky (S. 521), der permanent versucht habe, die Gesprächskanäle zwischen Berlin und London offen zu halten. Sowohl Otte als auch McMeekin kommen letztlich zu dem Befund, dass die Frage nach der Kriegsschuld wissenschaftlich in die Irre führe. Von einem neuen „Hineinschlittern“ in den Krieg oder einer Trivialisierung der Rolle der Mittelmächte sind auch diese beiden Studien trotz ihrer europäischen Perspektive gleichermaßen weit entfernt. Um zu schlittern, das kommt klar zum Ausdruck, mussten sich die Mächte und ihre Staatsmännern überhaupt erst einmal aufs Eis begeben – und das haben im Sommer 1914 alle Beteiligten bereitwillig getan.

Einen anderen Gesamteindruck vermittelt dagegen die „Bilanz“ zur Julikrise von Gerd Krumeich. Das ist schon insofern von Bedeutung, als es sich bei dem Autor um einen der größten Kenner handelt, dessen Buch, wie er selbst betont, das Ergebnis von beinahe „50 Jahren Beschäftigung“ (S. 358) mit dem Thema widerspiegelt. In einer ersten Reaktion auf Clarks ‚Schlafwandler‘ hatte Krumeich noch von einer „Wucht“ gesprochen, die die lange „sakrosankte These“ umwerfe, Deutschland habe Europa absichtsvoll in den Abgrund gestoßen.15 Mit seiner jüngsten Studie versucht Krumeich nun offenbar bewusst, einen Kontrapunkt zu setzen. Von einer „Bilanz“ darf man eine ausgewogene Schilderung des gegenwärtigen Wissenstandes, verschiedener Kontroversen oder noch offener Fragen erwarten. Ein genauer Blick jedoch offenbart gerade in diesen Bereichen eklatante Schwächen. Im Gegensatz zu den übrigen Autoren ist Krumeich von Beginn an derart auf die Rolle des Kaiserreiches fixiert, dass er gleich auf der ersten Seite behauptet, Preußen habe bereits im Krimkrieg „gegen Russland gefochten“ (S. 15). Das erscheint in der Tat neu, ist aber leider ebenso falsch wie die Behauptung, die Oberste Heeresleitung habe schon vor 1914 existiert (S. 38).

Der Autor bezieht sich in einer klaren Gliederung zunächst auf die Vorkriegsgeschichte seit dem Zeitalter des Imperialismus Ende des 19. Jahrhunderts und behandelt hier die bekannte Stafette diplomatischer Krisen (S. 15–59). Sodann widmet er sich dem Attentat von Sarajewo und den Reaktionen, wobei er sich hier allein auf Österreich-Ungarn (S. 60–78) und bei den Lokalisierungsbemühungen auf Deutschland beschränkt (S. 79–106). Dass der „Königsmord“ an dem Thronfolger jedoch auch international große Bestürzung hervorgerufen hat und die Londoner Presse etwa sofort Belgrad hinter dem Attentat vermutete, bleibt leider im Dunkeln.16 Im vierten und fünften Kapitel beschäftigt sich der Autor mit dem Wiener Ultimatum und den Folgen (S. 107–135) sowie den Entscheidungen zum Großen Krieg (S. 136–182).

Was hier unter dem Titel einer Bilanz zur Vorkriegspolitik zu lesen ist, basiert im Wesentlichen auf dem anglo-deutschen Aktion-Reaktionsparadigma der 1980er-Jahre. Ein besonders auffälliger und schwerwiegender methodischer Mangel dieser Interpretation ist es, aus den vorhandenen Kenntnissen deutscher Quellen auf die Politik der anderen Großmächte, namentlich die britische Marinepolitik zu extrapolieren. Krumeich begibt sich damit ohne Not auf die Bahn Ullrichs, Wehlers, Sösemanns und Röhls. Beispielhaft sei hier etwa die Problematik der Flottenpolitik angeführt: Ohne Frage, Tirpitz wollte eine Schlachtflotte gegen England. Ist dies aber schon Beleg genug für die Annahme einer „direkte[n] Bedrohung für die englische Insel“ (S. 20)? „Die Engländer“, so folgert Krumeich, „erkannten diese Absicht selbstverständlich sofort“ und „begannen ihrerseits […] eine Serie von Dreadnoughts zu bauen“. Daraus wiederum folgt der noch bedeutsamere Schluss: Es sei „zweifellos die aggressive deutsche Weltmacht- und Flottenpolitik, die das europäische Konzert der Mächte zu Beginn des 20. Jahrhunderts entscheidend veränderte“ (S. 21). Tatsächlich haben inzwischen zahllose marinegeschichtliche Studien von Ruddock Mackay, Jon Sumida, Charles Fairbanks, Nicholas Lambert und andere nachgewiesen, dass weder der sogenannte Dreadnought-Sprung, noch die Umgruppierungen der Royal Navy unmittelbare Antworten auf die deutsche Hochseeflotte waren, sondern sich vornehmlich aus technischen, fiskalischen und globalen Erwägungen erklären lassen.17 Während die deutsche Hochseeflotte etwa bei den Beschlüssen zum Bau der Dreadnought oder des Nordseehafens Rosyth nicht einmal Erwähnung findet, verwies Marineminister Selborne sogar direkt auf die „verfluchten Russen, die ein Schiff nach dem anderen bauten“.18 Gleiches gilt für die bereits angeführten bündnispolitischen Entscheidungen Londons. Auch hier hat die Forschung längst gezeigt, dass Großbritannien die Mächtebeziehungen in erster Linie aus weltpolitischen Interessen und nicht als Gegenmachtbildung zum Kaiserreich aufbrach. Ähnliche deutschlandzentrierten Übertreibungen finden sich auch an anderen Stellen des Buches. Immer wieder, das zeigt sich bei der Bewertung der bosnischen Annexionskrise (S. 27–35), der Rüstungspolitik (S. 36–41) oder den Balkankriegen 1912/13 (S. 35), bringt der Autor auffallend viel Verständnis für die französischen und russischen Positionen auf, während die Politik der Mittelmächte als einzige Provokation gedeutet wird. So wird bei den französischen Rüstungen sicherlich mit Recht darauf verwiesen, dass sich Paris schließlich mit Deutschland einem 70 Millionenreich gegenübergesehen habe (S. 38), während die deutschen Rüstungsvorhaben als „gigantisch“ bewertet werden. Übersehen wird dagegen, das mit der gleichen Argumentation und dem Verweis auf die Zweifrontenbedrohung Deutschland sogar zu wenig rüstete und sich 1914 bereits mit über 1,3 Millionen Soldaten gegenüber Frankreich und Russland im Rückstand befand.19 Auch von Russlands Förderung der Balkanliga zur gefährlichen Status-quo-Änderung in Südosteuropa erfährt der Leser ebenso wenig wie davon, dass es vor allem die Doppelmonarchie war, die nach den Balkankriegen auf der Verliererseite stand. Überhaupt stellt Krumeich keinerlei Überlegungen zum internationalen Staatensystem an, obgleich gerade auf dem Balkan die imperialen Rückwirkungen auf das kontinentale Zentrum am deutlichsten zu zeigen wären. Im Gegensatz zu den übrigen Studien fällt das Buch daher vor allem durch seine eklatante Einseitigkeit auf. Wenn der Autor das Misslingen der Lokalisierungsstrategie Berlins damit begründet, dass dies den „Gepflogenheiten der Zeit“ widersprochen hätte (S. 13, S. 130–136), übersieht er, dass Serbien als mittlere Macht gegenüber der Doppelmonarchie keineswegs satisfaktionsfähig war und sich den „Gepflogenheiten der Zeit“ zum Wohle des Systems den Großmächten zu beugen gehabt hätte.

Krumeich zählt international zu den besten Kennern der französischen Politik und dennoch erfährt man über die „Erleichterung Poincarés“ über die deutsche Kriegserklärung vergleichsweise wenig (S. 178). Auch über die englischen Positionen und Interessen erfährt der Leser so gut wie nichts. Die Analyse der britischen Reaktionen auf das Wiener Ultimatum bricht recht unvermittelt am 27. Juli 1914 ab, ohne auch nur im Entferntesten die schwierige innenpolitische Gemengelage oder die Entscheidungsstrukturen an der Themse genauer zu erläutern (S. 123, S. 179). Dass Grey ab dem 31. Juli 1914 zwischen verschiedenen Positionen, etwa der Abkehr von Russland oder einer bloßen Blockadestrategie hin- und her changierte; dass Marineminister Winston Churchill frühzeitig versuchte, das mehrheitlich gegen eine Kriegsbeteiligung eingestellte Kabinett vor vollendete Tatsachen zu stellen, oder dass letztlich auch Greys berühmte Rede im Unterhaus am 4. August 1914 alles andere als eine klare Stellungnahme war, bleibt unerwähnt. Die gleiche Einsilbigkeit findet sich im Anhang. Unter den vermeintlichen „Schlüsseldokumenten“, auf die sich der Autor vor allem im vierten und fünften Kapitel stützt, sucht man vergeblich nach einer Quelle, die etwa über die englische oder die französische Entscheidungslage Auskunft geben könnte. Überhaupt handelt es sich bei 41 der 50 Dokumente um Quellen, die bereits Fritz Fischers Schüler Imanuel Geiss 1965 ediert hatte und die seither in verschiedenen Editionen abgedruckt worden sind.20 Allein 35 Dokumente beziehen sich auf die Handlungen der Mittelmächte, insbesondere Deutschlands (27 Dokumente), sieben finden sich zu Russland, fünf zu England, zwei zu Serbien und kein einziges zu Frankreich. Wenn man die anderen Mächte derart ausblendet, fällt es leicht, Deutschland als diejenige Macht herauszufiltern, die „auf den Knopf“ drückte.21

Der abschließende Epilog zur Forschung (S. 183–203) belegt noch einmal, dass es sich bei der Bilanz offenbar eher um einen Schnellschuss handelte, mit dem Ziel noch auf den Zug der aktuellen Diskussionen aufzuspringen. Was hier als „100 Jahre Diskussion um die Schuld am Krieg“ firmiert (S. 183), beschränkt sich im Wesentlichen auf die Zwischenkriegszeit und hätte auch Mitte der 1980er-Jahre geschrieben werden können. Keines der oben erwähnten neueren Werke wird in diesem Forschungsaufriss genannt: weder die wegweisende Trilogie von Konrad Canis, noch die jüngeren Studien zu Frankreich, Russland, Österreich-Ungarn oder England. Hier hätte dem Autor, der nur zu gerne aus seinen eigenen Werken zitiert, etwas mehr Souveränität im Umgang mit andersdenkenden Historikern gut zu Gesicht gestanden.

Insgesamt bleibt festzustellen, dass die neuere internationale Forschung bedeutende Schritte in Richtung einer europäischen Perspektive auf die Vorkriegsgeschichte unternommen hat, während einige deutsche Historiker offenbar noch immer gern allein den Fokus auf das Kaiserreich festlegen wollen.

Anmerkungen:
1 Vgl. u.a.: Herfried Münkler, Der Große Krieg. Die Welt 1914–1918, 2. Aufl. Berlin 2013; Jörn Leonhard, Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, München 2014.
2 Vgl. u.a. Konrad Canis, Von Bismarck zur Weltpolitik. Deutsche Außenpolitik 1890–1914, Berlin 1997; ders., Bismarcks Außenpolitik 1870–1890, Aufstieg und Gefährdung, Paderborn 2004; ders., Der Weg in den Abgrund. Deutsche Außenpolitik 1902–1914, Paderborn 2011; Sönke Neitzel, Kriegsausbruch. Deutschlands Weg in die Katastrophe 1900–1914, München 2002.
3 Einen Überblick liefert: Dominik Geppert / Andreas Rose, Machtpolitik und Flottenbau vor 1914. Zur Neuinterpretation britischer Außenpolitik im Zeitalter des Hochimperialismus, in: Historische Zeitschrift 293 (2011), S. 401–437; vgl. Stefan Schmidt, Frankreichs Außenpolitik in der Julikrise 1914. Ein Beitrag zur Geschichte des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges, München 2009; Sean McMeekin, The Russian Origins of the First World War, Cambridge (Mass.) 2011.
4 Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 579.
5 Vgl. u.a. Jost Dülffer: Rezension zu: Clark, Christopher: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. München 2013, in: H-Soz-u-Kult, 21.11.2013, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2013-4-148> (08.07.2014); Richard J. Evans, Rezension zu: Christopher Clark, The Sleepwalkers. How Europe Went to War in 1914, London 2013, in: The New York Review of Books, 06.02.2014, S. 14–17.
6 Volker Ullrich, Zündschnur am Pulverfass, in: Die Zeit, 17.09.2013; ders., Nun schlittern sie wieder, in: Die Zeit, 16.01.2014. Ebenso: Annika Mombauer, Julikrise und Kriegsschuld – Thesen und Stand der Forschung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 64 (2014), H. 16/17, S. 10–17.
7 Hans-Ulrich Wehler, Beginn einer neuen Epoche der Weltkriegsgeschichte, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.05.2014.
8 John C.G. Röhl, Wie Deutschland 1914 den Krieg plante, in: Süddeutsche Zeitung, 05.03.2014.
9 Bernd Sösemann, Regierten 1914 doch keine Schlafwandler?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.06.2014.
10 Zu diesem Eindruck vgl. Annika Mombauer, Der hundertjährige Krieg um die Kriegsschuld, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 65 (2014), S. 303–337.
11 Sean McMeekin, Juli 1914. Der Countdown in den Krieg, Berlin 2014.
12 Vgl. u.a. Marina Soroka, Britain, Russia and the Road to the First World War. The Fateful Embassy of Count Benckendorff (1903–16), Farnham 2011, S. 224–231.
13 Vgl. Niall Ferguson, The Pity of War 1914–1918, London 1998; John Charmley, Splendid Isolation? Britain and the Balance of Power 1874–1914, London 1999.
14 Vgl. Keith Robbins, Sir Edward Grey. A Biography of Lord Grey of Fallodon, London 1971.
15 Gerd Krumeich, Unter Schlafwandlern, in: Süddeutsche Zeitung, 30.12.2012.
16 Donald C. Watt, British Reactions to the Assassination at Sarajevo, in: European History Quarterly 1 (1971), S. 233–247, S. 239.
17 Ruddock Mackay, Fisher of Kilverstone, Oxford 1973; Jon T. Sumida, In Defence of Naval Supremacy. Finance, Technology, and British Naval Policy, 1889–1914, Boston 1989; Charles H. Fairbanks, Jr., The Origins of the Dreadnought Revolution. A Historiographical Essay, in: International History Review 13 (1991), S. 246–272, bes. S. 263; Nicholas A. Lambert, Sir John Fisher’s Naval Revolution, Columbia, SC 1999, bes. S. 142–154; vgl. zuletzt: Andreas Rose, „The writers, not the sailors“ – Großbritannien, die Hochseeflotte und die ‚Revolution der Staatenwelt‘, in: Sönke Neitzel / Bernd Heidenreich (Hrsg.), Das Deutsche Kaiserreich 1890-1914, Paderborn 2011, S. 221–240.
18 Selborne an Balfour, 28.10.1903, Nachlass Sandars, Bodleian Library, MSS Eng.hist.c.715, zit. nach: Andreas Rose, Zwischen Empire und Kontinent. Britische Außenpolitik vor dem Ersten Weltkrieg, München 2011, S. 204. Die deutsche Flotte wurde sogar als relativ schwach angesehen. Vgl. Selborne, Memorandum, 6.12.1904, zit. nach: George D. Boyce (Hrsg.), The Crisis of British Power. The Imperial and Naval Papers of the Second Earl of Selborne, 1895–1910, Vol. 2, London 1990, No. 62, S. 184–90.
19 Vgl. Niall Ferguson, Public Finance and National Security. The Domestic Origins of the First World War Revisited, in: Past and Present (1994), H. 142, S. 141–168.
20 Vgl. Imanuel Geiss (Hrsg.), Juli 1914. Die europäische Krise und der Ausbruch des Ersten Weltkriegs, München 1965; Erwin Hölzle (Hrsg.), Quellen zur Entstehung des Ersten Weltkrieges. Internationale Dokumente 1901–1914, Darmstadt 1978; Annika Mombauer (Hrsg.), The Origins of the First World War. Diplomatic and military documents, Manchester 2013.
21 So Gerd Krumeich in einem Interview mit der Deutschen Presse Agentur, in dem er zudem den Erfolg von Christopher Clarks Buch auf die Sehnsucht der Deutschen nach einem „reinen Deutschland, indem nicht alles auf Hitler zulaufe“ zurückführt: <http://www.rnz.de/rnzdossier/00_20140402120003_110653967-Deutsche-haben-1914-auf-den-Knopf-gedrueckt.html> (07.07.2014).

Kommentare

Replik von G. Krumeich auf A. Rose: Rezension von G. Krumeich: Die Juli-Krise

Von Krumeich, Gerd03.09.2014

Andreas Rose nimmt mein Buch unerbittlich auseinander, das ist sein Recht. Aber einige Punkte bedürfen doch der Richtigstellung:

1. Die von ihm angemerkten Flüchtigkeitsfehler wurden schon in der vor vier Monaten erschienen 2. Auflage des Buches getilgt.

2. Zu behaupten, dass die britische Flottenrüstung nichts oder kaum etwas mit der deutschen Herausforderung zu tun hatte, ist ein starkes Stück. Alle aktuellen Ausdifferenzierungen kommen an der Tatsache nicht vorbei, dass es Deutschlands Flottenrüstung war, welche die Briten zu Gegenmaßnahmen veranlasst hat. Ohne den deutschen Flottendruck wäre es auch nicht zur Entente cordiale gekommen.

3. Eigentlich handelt mein Buch ja von der Julikrise und stellt einige vielleicht diskutable Thesen bezüglich des Verhaltens der Deutschen und der anderen Mächte auf. Davon kann man bei Rose kaum etwas lesen. Dafür aber die saloppe Formulierung, dass Serbien ja eigentlich nicht satisfaktionsfähig gewesen sei. Ja, es ist wahr, Kaiser Wilhelm hielt die Serben nicht für satisfaktionsfähig und wollte nur mit ihnen „aufräumen“. Die anderen Mächte aber wollten alle mit und über Serbien verhandeln, nur die Deutschen und die Österreicher nicht. Und deshalb sind sie in erster Linie für den Kriegsausbruch verantwortlich.

4. Ganz unverständlich ist Roses Kritik an meinem Überblick „100 Jahre Kriegsschuld-Forschung“. Er bemängelt, dass ich neuere Literatur zur Vorkriegszeit nicht berücksichtigt habe. Habe ich auch nicht, und sogar erläutert warum. Ich habe einzig und allein eine Geschichte der „Kriegsschuld“-Diskussion nachzeichnen wollen, und zu der bringen die von ihm angemahnten Titel nichts Neues.

Eine ein wenig ruhigere Lektüre hätte dieser Rezension nicht geschadet.


Entgegnung auf die Replik von G. Krumeich zu A. Rose: Rezension von G. Krumeich: Die Juli-Krise

Von Rose, Andreas03.09.2014

Gerd Krumeich hat auf meine Sammelrezension reagiert. Das ist sein Recht und ich möchte darauf nur Folgendes bemerken:

1. Ich bin froh, dass der Krimkrieg nun wieder ohne Preußen auskommt.

2. Dass die internationale Forschung der letzten 30 Jahre nichts weiter als „Ausdifferenzierungen“ zustande gebracht habe, bestätigt meinen Eindruck vom Umgang des Autors mit den Leistungen anderer. Die Argumente des alten Aktions-Reaktionstheorems sind inzwischen auf einer breiten Basis neuer Quellen widerlegt worden. Dabei ist auch für die politische Geschichte von Bedeutung, dass noch im Dezember 1904 (nach Unterzeichnung der Entente cordiale), nicht Deutschland als gefährlichste Bedrohung angesehen wurde, sondern Frankreich und dass dies auch in Paris durchaus so verstanden wurde.
Wir wissen inzwischen, dass sich die britische Marinerüstung nicht allein und nicht einmal primär gegen die deutschen Großkampfschiffe ausrichtete, sondern die gesamte Breite technischer Neuerungen und Gefahren umfasste. Es ist ebenfalls längst bekannt, dass die Entente cordiale auf britischer Seite aufgrund der drohenden Verstrickung in den russisch-japanischen Krieg und wegen kolonialer Interessen geschlossen wurde und keineswegs als eine Gegenmaßnahme gegen Expansionsabsichten des Deutschen Reiches. Dass sich dies nach der Regierungsübernahme durch die Liberalen 1906 änderte und der Kurswechsel von Edward Grey am Kabinett vorbei vollzogen werden musste, ist eine andere Frage.

3. Ich weise deutlich nicht auf alle, aber doch auf einige Schwächen bei der Behandlung der Julikrise hin: z.B. die weitgehende Nichtbehandlung der noch immer kontrovers behandelten Frage nach dem britischen Entscheidungswandel am ersten Augustwochenende. Das berühmte Morley-Memorandum beispielsweise, zweifellos ein Schlüsseldokument, berücksichtigt der Autor nicht. Serbien wurde noch 1913 – zum Wohle des Großmächtefriedens – auch von den übrigen Mächten nicht als ebenbürtig betrachtet.

4. Wenn man bedenkt, dass u.a. Konrad Canis gemessen an den „zeitgenössischen Gepflogenheiten“ die deutsche Politik als „legitim“ bewertet, ist das wohl doch als eine Neubewertung der Julikrise zu verstehen.


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