Titel
Sportlandschaften. Sport, Raum und (Massen)Kultur in Deutschland 1880–1930


Autor(en)
Dinçkal, Noyan
Reihe
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 211
Erschienen
Göttingen 2013: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
346 S.
Preis
€ 59,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christiane Eisenberg, Britische Geschichte, Großbritannien-Zentrum, Humboldt-Universität zu Berlin

Noyan Dinçkal zufolge wird im Sport um die „Eroberung von Räumen“ gekämpft; es gehe um „den Besitz räumlicher Anordnungen, um die Beherrschung von freien Räumen und die Messung des räumlichen Fortschritts in der Zeit“ (S. 13). Das ist eine eigenwillige Definition, die man auch auf Territorialkriege anwenden könnte, die aber die räumlichen Dimensionen des modernen Sports, welche sich aus der Konkurrenz von Athleten nach international, heute weltweit verbindlichen Regeln ergeben, nicht zu erfassen vermag. Glücklicherweise ist Noyan Dinçkals Definition für seine Untersuchung unerheblich. In „Sportlandschaften“ geht es nämlich gar nicht um sportliche Wettkämpfe, sondern um Sportstadien. Diese Bauten werden zum Gegenstand der Forschung, weil sie spezifische, gesellschaftlich und kulturell relevante Interaktionen ermöglichen, oder, um es mit Noyan Dinçkal zu formulieren, „weil es sich um Orte und Räume handelt, in denen sich die Vielgestaltigkeit, Deutungsoffenheit und Komplexität des Sports als ein[es] bedeutende[n] Kulturphänomen[s] der Moderne verdichteten“ (S. 292). Das in dem Zitat angesprochene Konzept der „Kultur der Moderne“ wird in dem Buch nicht entfaltet, bestimmt aber dennoch den Untersuchungszeitraum 1880–1930, also die üblicherweise angenommene Durchbruchszeit dieser Entwicklung. Auch diese Vorentscheidung erscheint eigenwillig und sie irritiert die Rezensentin ebenso wie die erwähnte Sportdefinition. Denn einerseits wurden moderne Stadien in Deutschland erst nach 1900 gebaut – bis dahin suchte sich der Sport provisorische Orte und Räume (die indes in dem Buch nur kursorisch behandelt werden) –, andererseits reichte die ‚Lebensdauer‘ vieler dieser Bauten über den Endpunkt der Untersuchung hinaus.

Im Mittelpunkt der Studie stehen Mehrzweckstadien, wie sie noch heute in deutschen Städten stehen. Als Prototyp beschreibt Noyan Dinçkal das Deutsche Stadion in Berlin, das im Hinblick auf die Olympischen Spiele 1916 gebaut wurde, die dann wegen des Weltkriegs ausfielen. Der Innenraum des Deutschen Stadions wurde von einer 600 Meter langen ovalen Laufbahn umrissen, die auch als Radrennbahn verwendet werden konnte. Sie umschloss eine Rasenfläche für Ballspiele und leichtathletische Übungen sowie Turn- und Gymnastikplätze. Ein Schwimmstadion mit einer Hundertmeterbahn war außen an die Längstribüne angegliedert. Dieses Konzept des Mehrzweckstadions galt im Ausland als vorbildlich, insbesondere in seiner modernisierten Form der 1920er-Jahre, als in einer Reihe von Großstädten sogenannte Sportparks an der Peripherie angelegt wurden, so dass die Turn- und Gymnastikplätze ins Stadion-Umfeld ausgelagert werden konnten. Das war ein wichtiger Schritt in Richtung funktionaler und auch für die Zuschauer attraktiver Sportstätten, wie Noyan Dinçkal zeigt. Denn die Vereinigung mehrerer Spiel- und Sportflächen im Innenraum eines einzigen Stadions distanzierte die Zuschauer vom Wettkampfgeschehen, das sich von manchen Plätzen überhaupt nur noch mit dem Feldstecher beobachten ließ – mit besonderen Nachteilen für den Fußballsport.

Andererseits motivierte der übergroße Innenraum solcher Mehrzweckstadien eine Vielzahl außersportlicher Nutzungen, und diesen gilt das besondere Interesse Noyan Dinçkals. Für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg behandelt er exemplarisch das Huldigungsfest, das anlässlich des 25. Thronjubiläums von Wilhelm II. veranstaltet wurde und mit dem das Deutsche Stadion im Jahr 1913 eröffnet wurde, für die Weimarer Republik die Deutschen Kampfspiele mit ihrer Massengymnastik (leider nicht auch die Verfassungsfeiern). Ein weiteres Kapitel wird der Nutzung des Deutschen Stadions für arbeits- und sportwissenschaftliche Forschungen an Athleten in actu gewidmet, von denen sich Arbeits- und Sportwissenschaftler der 1920er-Jahre Aufschluss über die körperlichen Reaktionen auf Anstrengung und Ermüdung erhofften (Stichwort „Psychotechnik“). Sportveranstaltungen im engeren Sinn behandelt ein „Konsum und soziale Selbstverständigung“ überschriebenes Kapitel, in dem Noyan Dinçkal insbesondere das Zuschauerverhalten betrachtet.

Ein Schwerpunkt der Darstellung liegt auf der detaillierten, zum Teil durch Abbildungen unterstützten Beschreibung der Stadionarchitektur. Einen weiteren Schwerpunkt bildet die Analyse der zeitgenössischen Diskurse über Sportstadien. Hier arbeitet Noyan Dinçkal zum einen heraus, wie schwierig es um die Jahrhundertwende für Politiker und andere Repräsentanten der Öffentlichkeit war, den Unterschied zwischen einem „Spielplatz“ und einem regelgerechten Sportstadion zu verstehen, und welche Strategien die Sportfunktionäre entwickelten, um für ihr spezifisches Konzept zu werben; denn es zielte nicht nur auf Körperertüchtigung, sondern auch auf die Mobilisierung von Zuschauermassen, und diese Begleiterscheinung war begründungsbedürftig. Bei der Interpretation dieser Stadion-Diskurse zieht er alle Register der modernen Kulturgeschichte, vom Sportscape-Konzept des britischen Geographen John Bale über Ideen aus dem Repertoire von Michel Foucault und Pierre Bourdieu bis zu Theorien der „Massen“ bei José Ortega y Gasset und Elias Canetti. Auf diese Weise gelingt ihm eine fokussierte, durch Archivarbeit punktuell vertiefte Zusammenfassung des Forschungsstandes über die Geschichte von Sportstadien in Deutschland, die viele interessante Einzelbeobachtungen enthält und gut lesbar ist.

Es ist primär die spannungsreiche, im Detail zu Nachdenken und Widerspruch reizende Zusammenführung von zeitgenössischen Diskursen und kulturgeschichtlichen Interpretamenten, welche das Buch für Leser, die sich bis dahin nicht für die Sportgeschichte interessiert haben, zur gewinnbringenden Lektüre macht. Dies gilt auch und gerade, weil die Darstellung mitunter in ein Glasperlenspiel ausartet. Demgegenüber erweist sich das Buch für diejenigen, die sich im Forschungsfeld auskennen, als enttäuschend; denn Noyan Dinçkal, der sich mit dem zugrunde liegenden Manuskript an der Universität Darmstadt habilitiert hat, wagt sich nicht auf wissenschaftliches Neuland vor und fällt in manchen Punkten hinter die erreichten Standards zurück. Dazu gehört an erster Stelle, dass er sich in seinen Ausführungen immer wieder zu Aussagen über „den Sport“ als solchen und „die Stadien“ verleiten lässt, obwohl er ausschließlich Mehrzweckstadien, nicht auch spezielle Wettkampfstätten für Einzeldisziplinen wie zum Beispiel Tennisanlagen, Boxarenen oder Velodrome behandelt und obwohl er letztlich nur deutsche Verhältnisse analysiert. Die mittlerweile durchaus umfangreiche Literatur zur Geschichte der Stadien in anderen Ländern, die bei französischen Autoren auch komparative Studien umfasst, wird nur unvollständig rezipiert.1 Auch die Einbettung der Interpretationen in die deutsche Geschichte bleibt unbefriedigend. Das betrifft insbesondere die Zeit der Weimarer Republik, als zwei Weichenstellungen, die in dem Buch nicht als solche erkannt werden, den Stadien-Diskurs gleichermaßen beflügelten wie argumentativ beeinflussten: zum einen die im Versailler Vertrag geforderte Schleifung der Festungsanlagen deutscher Städte, die etwa in Hamburg, Köln und Frankfurt am Main dazu führte, dass unerwartet Flächen für „Sportparks“ im so entstehenden „Grüngürtel“ zur Verfügung standen2; zum anderen die Inflation der frühen 1920er-Jahre, die eine schnelle Entschuldung der Bauherren versprach und daher auch manches längerfristig nicht finanzierbare Stadionprojekt motivierte. Noyan Dinçkals Zurückhaltung, dem Ersten Weltkriegs eine besondere Bedeutung für sein Thema zu attestieren (S. 138ff.), erklärt sich aus der Nichtbeachtung dieser Zusammenhänge.

Methodisch erweist sich die Studie, die der kulturgeschichtlichen Richtung des spatial turn zuzuordnen ist, als überaus konventionell und, was das konkrete Thema Stadien angeht, hinter den Möglichkeiten zurückbleibend. Insbesondere verzichtet Noyan Dinçkal auf eine systematische Verknüpfung mit der spezifischen Ökonomie von (Mehrzweck-)Stadien. Die Begrenzung des Marktes durch das Fassungsvermögen, die Bodenspekulation und die Grundstückspreise in den Städten, die Kaufkraft der Zuschauer, alle diese Parameter werden in ihrer zeitlichen Veränderung nicht systematisch beobachtet – mit der Folge, dass es in dem „Konsum und soziale Selbstverständigung“ überschriebenen Kapitel ausschließlich um Sportkonsum im Sinne von „Genuss“, nicht auch um Kaufakte infolge des Zusammentreffens von Angebot und Nachfrage am Markt für Events geht. Ebenso wenig werden die untersuchten Diskurse mit der wirtschaftlichen und politischen Konjunktur in Deutschland in Beziehung gesetzt, so dass auch die Subventionsfreudigkeit der öffentlichen Hände als intervenierender Faktor nicht mitberücksichtigt werden kann.

Schließlich verzichtet Noyan Dinçkal auf die Aufbereitung und Auswertung der umfangreichen Quellen zur Sportstättenstatistik. Damit fehlt seiner Untersuchung die Grundlage, um Entwicklungstrends zu ermitteln. Vor allem aber lässt sich ohne eine quantitative Unterfütterung der Stadien-Geschichte die Repräsentativität der mühsam rekonstruierten Diskurse und Wahrnehmungen in Mehrzweckstadien nicht beurteilen. Denn es ist ja davon auszugehen, dass die Sport-, Konsum- und allgemeinen Kulturerfahrungen, die in Mehrzweck-Funktionsbauten zustande kamen, anders akzentuiert waren als die in Arenen für Einzeldisziplinen (Pferderennen, Tennis, Boxen), auf öffentlichen Straßen (Laufwettbewerbe, Radfahren, Automobil-Tourenrennen), in freien Gewässern (Schwimmen, Rudern, Segeln), in der offenen oder gestalteten Landschaft (Cross-country-Läufe und -Ritte, Flugsport, Golf). Eine solche umfassende Geschichte der „Sportlandschaften“ in Deutschland ist nach wie vor ein Desiderat der Forschung.

Anmerkungen:
1 Stellvertretend sei hier die Studie von Daphné Bolz, Les arènes toalitaires. Hitler, Mussolini et les jeux du stade, Paris 2008, genannt, die sich für den deutschen Teil im Wesentlichen auf dieselben Beispiele bezieht wie Dinçkals Buch.
2 Vgl. Rolf Heyer, Funktionswandel innerstädtischer grünbestimmter Freiräume in deutschen Großstädten, Paderborn 1987. Auch Exerzierplätze, Schießplätze und Kasernenhöfe wurden nun städtisches Eigentum. Darüber hinaus profitierten die Städte davon, dass nach der Revolution Besitztümer der Monarchen und Fürsten in Fiskaleigentum überführt wurden.