W. Loth u.a. (Hrsg.): Erster Weltkrieg und Dschihad

Titel
Erster Weltkrieg und Dschihad. Die Deutschen und die Revolutionierung des Orients


Herausgeber
Loth, Wilfried; Marc Hanisch
Erschienen
München 2014: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
214 S.
Preis
€ 39,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang G. Schwanitz, Middle East Forum, Philadelphia, PA

Der Jihadaufruf des Sultan-Kalifs Mehmed V. Reshad gegen die Kriegsgegner vom 11. November 1914, erklärt Mitherausgeber Wilfried Loth in seiner Einleitung, entsprach islamischer und osmanischer Tradition. Das passte auch zu der Ansicht des Istanbuler Kriegsministers Enver Pascha, so der Duisburger Lehrstuhlinhaber für Geschichte, die religiösen Gefühle der Muslime in den von Großbritannien und Russland beherrschten Gebieten zu benutzen, um diese gegen ihre Kolonialherren zu kehren. Da aber Berlin vergebens auf die Londoner Neutralität hoffte, plante das Auswärtige Amt mit Enver Pascha eine Revolutionierung der Islamländer. Folglich sei der Orientexperte Max von Oppenheim reaktiviert worden, der am Generalkonsulat Kairo bis 1909 mit muslimischen Führern umging und die gemeinsamen deutsch-islamischen Interessen betont hatte.

Sicher, Berlin nutzte von Oppenheims Reisewissen, um Jihadexpeditionen nach Arabien Persien, Afghanistan, Westarabien und in den Kaukasus zu senden. Oppositionelle sollten dort auf die deutsche Seite treten und sich als Jihadisten gegen die englischen, russischen und französischen Kolonialmächte stellen. Schon Fritz Fischer sah in Denkschriften, die von Oppenheim 1914 erstellte, ein Zeugnis für den deutschen Griff nach der Weltmacht: Die Liaison mit Jihad reflektierte die ganze Rücksichtslosigkeit der Kriegspolitik Kaiser Wilhelms II. Doch das Konzept einer Revolutionierung der islamischen Welt fand in der Historiographie zum Ersten Weltkrieg wenig Aufmerksamkeit. Eine Lücke ist zu füllen.

Loth zufolge soll dieses Buch Fragen beantworten: welche Einsichten und Motive hegten deutsche Akteure vor Ort? Teilten sie das Ideal islamischer Selbstbestimmung, das bei von Oppenheim anklinge oder sahen sie sich als Vorkämpfer der Weltherrschaft? Was waren ihre Aufträge, wie realisierten sie diese? Wie divergierten idealisierte Ideen von Land und Leuten mit den Realitäten? Welche Selbst- und Fremdwahrnehmung gab es?

Aber Loths Einführung bleibt vor dem Millennium stecken.1 Danach spart er zu viel aus wie die Wirtschaftsinteressen2 oder die Kernfrage: wie sahen deutsche Jihadagenten den versuchten Genozid an Palästinas Juden und den realisierten Genozid an Christen?3 Der populäre Jihadaufruf erging am 14. November 1914 mit den Umzügen in Istanbul.4 Die Doktrin des Jihads wurde abgeändert, der laut dem Islamologen Carl Heinrich Becker „keine historische Parallele“ kannte. Enver zweifelte zunächst selbst an dieser Idee vom Jihad. Er wäre ja mit Christen – „Ungläubigen“ – der Mittelmächte liiert, lenkte aber ein.

Dieses interkonfessionelle, dreikontinentale Konzept des Jihads geriet völlig neu: Afrika, Asien und Europa in einer christlich-islamischen Achse des Weltkriegs. Also ließ Enver Pascha durch Salih ash-Sharif at-Tunisi die Jihaddoktrin für den koalitionären Teiljihad zuschneiden.5 Dieser Konsens wirkte, barg aber Risiken. Der Kaiser rechnete ab 1908 wie Islamologen 1914 mit Mobs im Jihad der Osmanen gegen „ungläubige“ Nachbarn, die Christen und Juden. Auch Massenmord, Hunger und Seuchen prüften Becker und C. Snouck Hurgronje vorab und stritten sich offen. All dies fehlt in diesem Sammelband.

Fachkreisen sind die Autoren und die Namen der deutschen Jihadagenten bekannt. Unter den acht Beiträgen ragen hervor: Martin Kröger zur Expedition in der Osttürkei, Stefan M. Kreutzer zu Wilhelm Waßmuß, Michael Jonas und Jan Zinke über Rudolf Nadolny, Veit Veltzke zu Fritz Klein und Alexander Will zu Josef Pomiankowski. Deren Wege sind untersucht, auch dank der Bücher dieser Autoren. Kröger erwähnt Paul Leverkuehn. Dieser widmete Max von Scheubner-Richter 1938 ein Buch mit der These: Unruhen der Armenier folgten auf Deportation und Tod. Urheber seien Panislamismus und -turkismus.

Bernd Lemke behandelt Colmar von der Goltz. Mitherausgeber Hanisch fügte zwei Beiträge ein, über Baron von Oppenheims Revoltenansätze und über Curt M. Prüfer. Text eins mangelt es an Einsichten zum Baron, zu dessen Rezeption durch Mittelostler und zum Islamismus.6 Hanisch benutzt „Sultan-Kalifat“, meint den Regenten oder das Reich. Beides ist falsch. Auch fehlt, ob der Kalif, mithin sein Jihadaufruf, weit akzeptiert war. Nein, Becker nannte ihn daher „Scheinkalif“. Im Text zwei fehlt ein Hinweis auf Donald M. McKales Biographie Prüfers.7 Man sollte doch dartun, was hier nun im Vergleich dazu anders ist.

Bis auf Waßmuß und Klein waren jene Akteure auch noch im Zweiten Weltkrieg aktiv, so Prüfer im Jihad Amin al-Husainis. Meine Datei birgt über 100 Namen Deutscher8, die in den Weltkriegen führend in Mittelost oder mit Mittelostbezug wirkten. Dies gilt auch für ihre islamistischen Partner, etwa Shakib Arslan und jenen Großmufti al-Husaini. In Memoiren bezog er Berliner, Londoner und Pariser Quellen ein. Beide erhellten eher die islamistischen Kontinuitäten der Berliner Politik von 1898 bis 1945. Im Kalten Krieg lief dies weiter und in der Globalära begünstigte es den 9/11-Anschlag. Wer mittelöstliche Texte nicht kennt, nennt solche Kontinuitäten wie Hanisch „absurd“. Wer breiter prüft, erkennt, wie ein Kurs den anderen ergab. Um es in einer Frage zu formulieren: Welche Rolle spielten Deutsche langfristig bei der Fortentwicklung oder Nutzung der Jihad-Konzepte, welche Kontinuitäten gab es bis 1918, 1945 und 1990? Dazu liegt inzwischen Literatur vor, die hier – auch nur für den auf den Ersten Weltkrieg begrenzten Teil – ignoriert wird.

Historiographen werden einmal nach der Erklärungskraft verschiedener Ansätze fragen und warum sich eine Gruppe von Forschern wie die um Loth „100 Jahre danach“ noch so einseitig gab: ein Leitpunkt über die Genozide fehlt, vieles beruht primär auf deutschen Quellen, obwohl fast alles in Mittelost ablief. Akademische Vordenker des Jihads fehlen – Becker, Hugo Grothe, Eugen Mittwoch – oder Jihadeiferer wie Ernst Wiesener und Ernst Jäckh, sowie deren islamistische Partner und deren Gegner, die frühen Antiislamisten.

Ein „nur deutscher Ansatz“ im multiplen Umfeld wirft inhaltlich wie methodisch Fragen auf, sofern die Autoren keine Regionalquellen erschlossen haben, wie es ihre Fußnoten ausweisen. Loths Frage der Fremdwahrnehmung bleibt oft offen. Dazu legte schon vor Jahrzehnten der ehemalige deutsche Nahostgesandte Fritz Grobba Schriften vor, die sich um „die anderen Seiten“ bemühten. Im Gegensatz dazu fiel früher oft die Diplomatiegeschichte aus: Ihr genügte ein deutscher Aktenbestand, einige auswärtige Presseschauen oder Sekundärquellen – und diese sollten die bi- oder multilateralen Beziehungen erklären. Themen bildeten oft die Großmächte, Imperialismus in Ägypten oder die Orientalische Frage. Dieser Ansatz genügt nicht mehr.

Drei Gruppen ringen damit: I) allgemeine Historiker durch vorrangig deutsche Quellen; II) Mittelosthistoriker, die synoptisch Quellen erkunden, III) Forscher wie Islamologen, die primär Regionalquellen erschließen. Diese drei Gruppen mögen sich befruchten. Jedoch ignoriert dieses „Jihadbuch“ zu viele Beiträge aus den anderen Gruppen. Loths kritischer Vorsatz, die deutsch-osmanische Jihadaktion und deren Wirkungen in der Geschichte der islamischen Völker „nicht länger unbeachtet“ zu lassen, bleibt ebenso im Ansatz stecken wie der Versuch, die Solidarisierungen unter Einheimischen und Deutschen durch andere Seiten darzustellen.

In Gruppen II und III mag Beziehungsgeschichte von multiplen Seiten, methodisch und quellenmäßig gleichrangig erkundet werden, nicht nur durch Akten hier und Zeitungen dort. Deutsche Quellen werden mit den auswärtigen Quellen aus Mittelost für gesicherte Befunde kontrastiert, sofern zugänglich. Sonst erhellt man das Geschichtsdunkel anderer Seiten nur mit einem Strahl. Dabei entziehen sich dann Einsichten in die Dynamik unter anderen Oberflächen, was dort ablief. Aber die integristische Methode ist komparativ: bi- und multilateral ergründen, was die Akteure insgeheim wollten (Interna aus multiplen Führungszentren – so Araber, Armenier, Türken, Kurden, Juden, Deutsche, Großmächte), was sie davon kundtaten (Manipulationen, Medien), und was unterm historischen Strich dann wirklich herauskam. Dies sind drei Schritte der Analyse, die wohl Fremdsprachen als Erkenntnissysteme mit dem verknüpften Wissen um diese Erdregionen voraussetzen.

Loth trifft ins Schwarze, Jihaderfahrungen beeinflussten die Nationen- und Staatsbildung in Mittelost. Aber an der Bewertung kurz-, mittel- und langfristiger Folgen scheiden sich die Geister. Indes Vertreter der Gruppe I oft im Fazit der Überbewertung oder Stümperei der deutsch-osmanischen Jihadisierung des Islam enden, wenn sie diese denn anerkennen, fangen die Gruppen II bis III das Echo, die Synthese und Fortentwicklung auf regionalen Seiten auch nach den Kriegen ein. Das ist für manche der Gruppe I offen, da ihre Studien am Kriegsende aufhören. Tatsächlich begannen Jihadrevolten aber oft erst nach 1918.

Der Band ist mit der heißen Nadel gestrickt. Editorische Einheitlichkeit fehlt nicht nur bei den Umschriften von Mittelostsprachen. Der Kleindruck mit noch kleineren Einlassungen hemmt gute Lesbarkeit. Bibliographie und Index fehlen. Das Buch hat zwar einige solide Einzelstudien, jedoch uneingebettet, ohne jüngste Debatten und den relevanten Zuwachs.

Einige glauben, dem Islam hafte ewig aggressiver Jihad an. Doch zeigte von Oppenheim der Reichsleitung 1898, dass Islamländer bisher im defensiven Lokaljihad verblieben und ein Angriffsjihad gegen gemeinsame Rivalen als Kolonialmächte nur dann „unberechenbar“ wäre, wenn die Muslime „gehörig vorbereitet“ würden. Diese entfalteten Islamismus mit Bruderschaften, nahmen das Know-how moderner Revolten auf. Was Berlin und Istanbul in Mittelost entfesselten, trugen Generationen im Zweiten Weltkrieg – und bis heute – fort.9

Anmerkungen:
1 Vgl. die Bibliographie in meinem Band: Islam in Europa, Revolten in Mittelost, Berlin 2013, S. 681–746.
2 Siehe meinen Beitrag: Immer guter Laune: Gutmann und die Deutsche Orientbank, in: Vivian J. Rheinheimer (Hrsg.), Herbert M. Gutmann, Leipzig 2007, S. 61–77.
3 Dazu mein Beitrag: Genocide and Attempted Genocide in the Ottoman Empire, in: Scholars for Peace in the Middle East, 20.08.2013, S. 7, Text verfügbar unter: <http://www.trafoberlin.de/pdf-dateien/2013_08_01/Wolfgang%20G%20Schwanitz%20Genocide.pdf> (15.09.2014).
4 Geoffrey Lewis, The Ottoman Proclamation of Jihad in 1914, in: Islamic Quarterly 19 (1975), 157–163; mein Beitrag, Djihad „Made in Germany“: Der Streit um den Heiligen Krieg 1914–1915, in Sozial.Geschichte 18 (2003) 2, S. 7–34.
5 Vgl. meine Beiträge: The German Middle Eastern Policy, 1871–1945, in: ders. (Hrsg.), Germany and the Middle East, 1871–1945, Princeton 2004, S. 1–23; Euro-Islam by Jihad “Made in Germany”, in: Nathalie Clayer / Eric Germain (Hrsg.), Islam in Inter-War Europe, London 2008, S. 271–301; „The Jinnee and the Magic Bottle“ – Fritz Grobba and the German Middle East Policy, 1900–1945, in: Princeton Papers X–XI (2004), S. 86–117.
6 Vgl. Lionel Gossman, The Passion of Max von Oppenheim, Cambridge 2013, sowie meinen Beitrag: Max von Oppenheim und der Heilige Krieg, in: Sozial.Geschichte 19 (2004) 3, S. 28–59.
7 Vgl. Donald M. Mc Kale, Curt Prüfer: German Diplomat from the Kaiser to Hitler, Ohio 1987.
8 Vgl. dazu meine Besprechungen einzelner Bände des Biographischen Handbuches des Deutschen Auswärtigen Dienstes in: Orient 43 (2002), S. 120–123 und in: H-Soz-u-Kult, 14.02.2014, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=20699> (15.09.2014) sowie den Beitrag von Rabbi Yitzchok Frankfurter, Zionism, the Grand Mufti and the Holocaust, in: Ami Magazine, March 26, 2014, S. 66–75.
9 Vgl. Barry Rubin / Wolfgang G. Schwanitz, Nazis, Islamists and the Making of the Modern Middle East, New Haven 2014, und Jörn Thielmann, Introductory Exploration, in: ders., Ala Al-Hamarneh (Hrsg.), Islam and Muslims in Germany, Leiden 2014, S. 1–30, hier S. 12f.