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Titel
Ulbrichts Scheitern. Warum der SED-Chef nicht die Absicht hatte, eine „Mauer“ zu errichten, sie aber dennoch bauen ließ


Autor(en)
Kubina, Michael
Reihe
Beiträge zur Geschichte von Mauer und Flucht
Erschienen
Anzahl Seiten
520 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jochen Laufer, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Michael Kubina verkündet das wichtigste Ergebnis seiner Untersuchung bereits im Titel und erläutert es auch gleich in der Einleitung: Anders als die Forschung bisher annimmt, hätten die Maßnahmen zur Schließung der Grenze innerhalb Berlins bis zum Ende der 1950er-Jahre nicht primär auf die Verhinderung der Massenflucht von DDR-Bürgern gezielt, sondern auf die Abwehr gegnerischer Subversion. Die massenhafte Abwanderung von DDR-Bürgern habe Walter Ulbricht, der eigentliche Staatslenker der DDR und Führer der SED, bis zum Ende der 1950er-Jahre bewusst in Kauf genommen. Er sei überzeugt gewesen, den unerwünschten Verlust von Arbeitern und Fachkräften durch eine beschleunigte wirtschaftliche Entwicklung, wie es der Siebenjahrplan der DDR vorsah, umkehren zu können. Ulbricht und die SED-Führung wollten West-Berlin nicht durch „Einmauerung“ konservieren, sondern (zurück-)„erobern“ (ein Wort, dass Kubina selbst in Anführungszeichen setzt). Dazu hofften sie auf den Abschluss eines Friedensvertrags alternativ mit beiden deutschen Staaten oder allein mit der DDR. Erst als sich dies als Fehlkalkulation und der Siebenjahrplan als unerfüllbar erwies, jedoch die Flüchtlingszahlen seit 1960 erneut anschwollen, habe Ulbricht in den Bau der Mauer eingewilligt, die er jedoch ebenso wenig gewollt habe wie Chrustschow (S. 19–20). In dieser Sichtweise kennzeichnet Kubina den Bau der Mauer als „Niederlage“ (S. 20, 392 und 480) oder auch als „Offenbarungseid“ (S. 330 und 355) Ulbrichts oder gar als „Akt der Notwehr“ (S. 358) bzw. „Rettungsanker“ (S. 397).

Im Mittelpunkt der Arbeit stehen Quellenanalysen, die zum Nachweis der Lückenhaftigkeit der bisher erschlossenen sowjetischen und ostdeutschen Quellen, aber oft auch zum Aufzeigen von Fehlern in deren Auslegung führen. Das ist verdienstvoll, doch kann Kubina damit keineswegs die Forschung zum Mauerbau falsifizieren, wie sie insbesondere durch Hope Harrison repräsentiert wird.1 Dafür fehlt es Kubinas eigener Interpretation an Überzeugungskraft. Für die Annahme, die „Eroberung“ West-Berlins sei das eigentliche Ziel Ulbrichts gewesen, kann er keine überzeugenden Quellenbelege anführen. Vielmehr verweist der Autor – ohne sich für eine konkrete Blattzahl zu entscheiden – gleich dreimal (S. 223, 235 und 240) auf einen 26-seitigen Bericht, der auf der Politbürositzung am 12. Februar 1958 zur Diskussion stand, aber im Beschlussprotokoll des obersten SED-Gremiums – Letzteres ist samt Anlagen wie alle anderen Politbüroprotokolle aus den 1950er-Jahren im Internet leicht zugänglich – nicht mehr enthalten ist. Das Ziel, den „Krisenherd“ West-Berlin „auszuschalten“ und die westliche Stadthälfte mit all ihren Bewohnern unter die Kontrolle der DDR zu bringen, besprach die SED-Führung nur höchst konspirativ; allzu offensichtlich war dessen besondere Brisanz.

Dieses Ziel lag zwar auch dem so genannten „Berlin-Ultimatum“ Chrustschows vom Herbst 1958 zugrunde. Doch auch diese spektakuläre diplomatische Aktion der UdSSR löste keine konkreten Aktivitäten zur „Eroberung“ West-Berlins aus. Denn weder die UdSSR und schon gar nicht die DDR verfügten jemals über Mittel, die Westmächte zum Abzug aus Berlin und die West-Berliner zur Unterordnung unter den Willen der SED zu zwingen. Und einen Krieg wegen West-Berlin wollten offensichtlich weder Ulbricht noch Chrustschow riskieren, weil dieser leicht in einen dritten Weltkrieg hätte münden können. Kubina selbst räumt ein, dass die Erklärung des Ulbricht-Vertrauten Alfred Neumann im Juni 1960, „mindestens 70 %“ der SED-Aktivisten seien bereit, schon morgen West-Berlin zu stürmen, den sowjetischen Botschafter zu Spott veranlassten (S. 328). Auch Chrustschow äußerte sich gegenüber Ulbricht im November desselben Jahres dazu nur nebulös: „Wir arbeiten mit Euch eine Taktik der allmählichen Verdrängung der Westmächte aus West-Berlin aus, aber ohne Krieg.“ (S. 356)

Eine entscheidende Schwachstelle der Untersuchung ist die geringe Berücksichtigung der internationalen Beziehungen. So vertritt Kubina die Hypothese, das „Mauerszenario“ sei für Ulbricht bis zum 13. August 1961 und danach „nur ein Notfallszenario und zugleich Instrument [gewesen], um Chrustschow […] zum Abschluss eines Friedensvertrags wenigstens mit der DDR zu bewegen“ (S. 20). Indes verrät diese Hypothese fehlende Vertrautheit mit der seit 1946 erwiesenen Unmöglichkeit des Abschlusses eines solchen Vertrags der vier Siegermächte mit Deutschland. Zu der Annahme, ein solches Dokument hätte Ulbricht die Kontrolle des gesamten Verkehrs von und nach West-Berlin – einschließlich des Flugverkehrs – ermöglicht, kann man nur gelangen, wenn man ähnlich wie Ulbricht die Erfahrungen der Berlin-Krise von 1948/49 verdrängt. Zwar geht Kubina an anderer Stelle davon aus, dass die „Freiheit des Verkehrs von und nach West-Berlin“ für die Westmächte niemals zur Verhandlung stand (S. 57) und die SED selbst von einer „längerfristigen Anwesenheit der Westmächte im Westteil“ Berlins ausging (S. 60). Doch berücksichtigt er diese Befunde nicht für seine Argumentation.

Kubina vereinfacht sehr stark, wenn er annimmt: „Die politische Struktur Nachkriegsdeutschlands war Ergebnis der Fähigkeit der Siegermächte, ihren politischen Willen in die Tat umzusetzen, war Resultat ihrer Macht.“ (S. 462) Er lässt dabei außer Acht, dass allein die vollständige Niederlage und die bedingungslose Kapitulation Deutschlands den Alliierten die Möglichkeit gegeben hatte, das Land vollständig, aber nach Zonen getrennt zu besetzen. Erst dadurch räumten sich die Siegermächte die Möglichkeit ein, gemeinsam die Regelung aller Deutschland als Ganzes betreffenden Angelegenheiten zu entscheiden und allein in ihren einzelnen Zonen die absolute Oberhoheit auszuüben. Dabei blieben jedoch alle vier Mächte ohne Mitwirkung der Deutschen in ihren jeweiligen Zonen ebenso machtlos wie die Deutschen ohne Zustimmung der vier Mächte. In dieser vom nationalsozialistischen Deutschland herbeigeführten Grundkonstellation war es angelegt, dass die „Mauer“ zu keinem Zeitpunkt von Ulbricht und seiner Partei ohne Zustimmung Moskaus errichtet werden konnte. Sie hätte jedoch ebenso wenig ohne Mitwirkung von Ulbricht und seiner SED durch die UdSSR über 28 Jahre aufrechterhalten werden können.

West-Berlin symbolisierte – und darin ist Kubina zuzustimmen – die Grenzen der Macht Ulbrichts, denn dort konnte man alles tun, was die SED nicht wollte (S. 91). Nicht ausreichend erklärt er jedoch die Anomalie der DDR, wo die dort herrschende Partei einen Sozialismus – mit allen dazu notwendigen Enteignungs- und Unterdrückungsmaßnahmen – bis 1961 bei in Berlin weitgehend offener Grenze aufbaute, während in allen anderen sozialistischen Staaten rigide Grenzregime herrschten. Zwar bleibt unklar, ob es bis zum 13. August 1961 eine bewusste Politik der offenen Grenze in Berlin gab. Doch scheint festzustehen, dass deren Offenhaltung wie auch deren Schließung letztendlich von Moskau zu verantworten war. Allerdings steht längst nicht fest, dass bereits vor 1961 eine Möglichkeit zur Mauerschließung bestand (S. 101).

Wir wissen nicht, welchen Konflikten das hier vorgestellte Buch seine Entstehung verdankt. Doch offensichtlich drückt es ein tiefes Unbehagen über den Verlauf der historischen Forschung zu einer der wichtigsten Entwicklungen des Kalten Krieges aus: Die Arbeit entstand in Folge des gleichen von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten interdisziplinären Forschungsprojektes, in dessen Ergebnis Manfred Wilke bereits 2011 seine großangelegte Monographie zur Vorgeschichte der Mauer2 vorlegte.

Möglicherweise veranlasste Kubina dies zu einem höchst unausgewogenen Umgang mit den vorangegangenen Forschungsergebnissen. Obwohl er in der Bewertung des Handelns von Ulbricht und der SED-Führung immer wieder sehr viel Wert auf „Kontextualisierung“ bzw. „Historisierung“ bei der Quellenkritik legt, missachtet er diese bei seiner eigenen Kritik an vorliegenden Forschungsergebnissen. Dies ist sehr zu bedauern, denn auch die Forschung selbst findet bekanntlich unter ganz bestimmten Bedingungen, Interpretationszusammenhängen und Auseinandersetzungen statt. Es bleibt unverständlich, warum sich im ganzen Buch kein Wort der Anerkennung für die große Leistung der von ihm namentlich gescholtenen Historikerinnen und Historiker findet, die unter oftmals widrigen und auf jeden Fall sehr schwierigen Bedingungen einzelne Quellen erschlossen und diese zum großen Teil vollständig und zeitnah zugänglich machten. Die Verfügbarkeit dieser Dokumente setzt Kubina viel zu selbstverständlich voraus. Und dennoch, abgesehen von diesem Einwand, ist seine Arbeit insgesamt reich an neuen Fragestellungen, interessanten Beobachtungen sowie voller wichtiger Literatur- und Quellenhinweise. Zwar liefert sie noch keine definitiven Antworten, doch die weitere Geschichtsschreibung zum Bau der Mauer wird diese Arbeit nicht umgehen können. Aufbau und Sprache der Untersuchung sind eigenwillig, jedoch sehr erfrischend zu lesen.

Anmerkungen:
1 Hope Harrison, Ulbrichts Mauer. Wie die SED Moskaus Widerstand gegen den Mauerbau brach, Berlin 2011. Erstmals entwickelte Harrison ihre Interpretation 1993 in der Dissertation „The bargaining power of weaker allies in bipolarity and crisis. The dynamics of Soviet-East German relations“.
2 Manfred Wilke, Der Weg zur Mauer. Stationen der Teilungsgeschichte [Beiträge zur Geschichte von Mauer und Flucht], Berlin 2011.

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