A. Hilger u.a. (Hrsg.): Die geteilte Nation

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Titel
Die geteilte Nation. Nationale Verluste und Identitäten im 20. Jahrhundert


Herausgeber
Hilger, Andreas; von Wrochem, Oliver
Reihe
Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 107
Erschienen
München 2013: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
209 S.
Preis
€ 24,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Birgit Schwelling, Käte Hamburger Kolleg / Centre for Global Cooperation Research, Duisburg

Der von Andreas Hilger und Oliver von Wrochem herausgegebene Sammelband lässt sich in ein Forschungsfeld einordnen, in welchem der Nationalstaat und insbesondere die auf vielfältigen Ebenen angesiedelten Prozesse des Nation Building im Zentrum des Interesses stehen. In einem derart produktiven, seit langem von verschiedenen Disziplinen bearbeiteten Feld neue und innovative Ansätze zu entwickeln stellt keine einfache Aufgabe dar. Den Herausgebern gelingt es jedoch, eine interessante Schneise zu schlagen. Um sich den Fragen nach der Herausbildung von Nationalstaaten und der Verhandlung des Nationalen anzunähern, wählen Hilger und von Wrochem einen doppelten Fokus.

Erstens betonen sie, dass auf gesellschaftlicher Ebene gerade in Zeiten der Formation oder Transformation von Nationalstaaten „Fragen nach Selbstverständnis und Identität“ (S. 2) virulent werden. Diese These ist an sich noch wenig originell und liegt nahe, da Identitäten besonders in Situationen des Wandels und Phasen des Umbruchs reflexiv werden und Anlass für Auseinandersetzungen bieten. Das Innovationspotential entsteht erst durch die Kombination mit dem im Zentrum des Interesses stehenden Untersuchungsthema. Denn zweitens lenken die Herausgeber das Augenmerk darauf, dass die Bildung von Nationalstaaten häufig mit territorialen Abtrennungen und Grenzverschiebungen verbunden ist, was wiederum „mehrdimensionale Verlusterfahrungen“ (S. 2) zur Folge hat, deren gesellschaftliche Bearbeitung sich regelrecht aufdrängt. Insbesondere gehe es darum, diese Erfahrungen des Verlusts „in eine eigene, bislang gültige ‚nationale‘ Selbstdefinition und -legitimation zu integrieren oder ein neues Selbstverständnis zu entwerfen“ (S. 2). Insofern bietet die Frage nach dem Umgang mit territorialen Verlusten tatsächlich einen interessanten Ansatzpunkt, um nationalen Selbstverständnissen und erinnerungspolitischen Repräsentationen auf die Spur zu kommen sowie „Formen der gesellschaftlichen Neuorientierung nach dem Zusammenbruch alter (hegemonialer) Ordnungen und Ordnungsvorstellungen“ (S. 3) zu untersuchen.

Die Leserin wird in elf Aufsätzen auf eine weite Reise mitgenommen, die von Ungarn nach Italien, Deutschland, Korea, Indonesien, Vietnam, der Republik Moldau, Aserbaidschan bis nach Irland, Taiwan und ins Kosovo führt. Es handelt sich überwiegend um qualitativ hochwertige Texte, die man gerne liest und nach deren Lektüre man tatsächlich viel gelernt hat. Allerdings lassen sich die Beiträge des Sammelbandes zum Teil nur bedingt auf die von den Herausgebern formulierte Schwerpunktsetzung ein. Insofern fällt es nicht leicht, Ergebnisse zu destillieren, die über den jeweiligen Einzelfall hinausgehen. Und dafür gibt es mehrere Gründe.

Zum einen ist die Herangehensweise an das übergreifende Thema doch sehr unterschiedlich, so dass die in der Einleitung angekündigte „international vergleichende Perspektive“ (S. 2) kaum umgesetzt wird. Neben Texten, in denen das von den Herausgebern formulierte Forschungsprogramm erkenntnisleitend ist und auf gelungene Weise umgesetzt wird, sucht man in manchen Aufsätzen vergeblich nach Anknüpfungspunkten zu der in der Einleitung zentral gestellten gesellschaftlichen Dimension im Prozess der Herausbildung von Nationalstaaten sowie zu der Frage nach erinnerungs- und geschichtspolitischen Repräsentationen der territorialen Verluste. In die erstgenannte Kategorie der konzeptionell überzeugenden Beiträge ist beispielsweise Kerstin von Lingens Analyse der Mythologisierung des Ersten Weltkriegs in Italien und der Erinnerungs- und Rezeptionsgeschichte der Schlacht von Caporetto 1917 einzuordnen. Andere Texte jedoch gehen über die durchaus kenntnisreiche Rekonstruktion der politischen (Ereignis-)Geschichte des jeweiligen Gebietsverlustes nicht hinaus, so dass ein Vergleich kaum möglich erscheint. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass sich die Herausgeber am Ende ihrer Einleitung auf wenige, resümierende Sätze beschränken, in denen sie sehr allgemein auf einige Gemeinsamkeiten verweisen – etwa darauf, dass territoriale Verluste in aller Regel nicht dazu führen, nationale Meistererzählungen in Frage zu stellen. Vielmehr bewirken solche Verluste häufig das genaue Gegenteil. Sie führen „zu einer nahezu reflexhaften Verstärkung tradierter nationaler Ansprüche und Visionen“ (S. 8).

Zum anderen drängt sich nach der Lektüre die Frage auf, ob hier nicht ein allzu breites Spektrum an territorialen Veränderungen thematisiert wird. Der Titel des Sammelbandes ist insofern irreführend, als hier nicht nur und noch nicht einmal überwiegend Fälle von einst vereinten, später geteilten und zum Teil wiedervereinigten Nationen behandelt werden – die Bundesrepublik und die DDR, Nord- und Südkorea sowie China und Taiwan wären dieser Kategorie zuzuordnen. Untersucht werden darüber hinaus territoriale Neuordnungsprozesse, die mit Gebietsabtrennungen und Grenzverschiebungen von unterschiedlichem Ausmaß einhergingen. Selbst nicht erfüllte Gebietsforderungen wie im Fall Italiens werden einbezogen. Nun ließe sich annehmen, dass diese kategoriale Unterscheidung im Hinblick auf die imaginierte Nation keine Rolle spielt, da gefühlter und realer Verlust nicht zwingend korrelieren müssen. Aber die Beiträge deuten doch eher in eine andere Richtung, so dass sich die Frage stellt, ob eine Kategorisierung der Fälle auch hinsichtlich ihrer Vergleichbarkeit nicht sinnvoll gewesen wäre. Anregungen dazu finden sich im Band selbst, beispielsweise im Beitrag von Lowell Dittmer über „Taiwans komplexe Beziehungen zur Volksrepublik China“. Der Autor schlägt vor, geteilte Nationen mit ausgeprägtem Wunsch nach einer Wiedervereinigung von solchen zu unterscheiden, in denen ein politischer und gesellschaftlicher Rückhalt für eine derartige Forderung nicht (mehr) vorhanden ist (S. 171). Möglicherweise hätten solche Kategorisierungen auch zu einer alternativen, das Potential des internationalen Vergleichs stärker reflektierenden Gliederung des Bandes geführt. Die Anordnung der Beiträge orientiert sich stattdessen an den Ereignissen, die die jeweilige territoriale Verschiebung auslösten bzw. bedingten. Auf diese Weise sind dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg, der Phase der Dekolonisation und dem Ende des Kalten Kriegs jeweils zwei Fallbeispiele zugeordnet. Nur das fünfte Kapitel („Bürgerkriege und regionale Konflikte“) mit drei Beiträgen weicht von diesem Ordnungsprinzip ab. Die recht konventionelle Anordnung leuchtet insofern nicht ganz ein, als ja nicht diejenigen Momente im Zentrum des Interesses stehen, die die territorialen Verluste verursacht haben, sondern der (erinnerungs)politische und gesellschaftliche Umgang mit den Erfahrungen dieser Verluste.

Fazit: Es handelt sich um einen nützlichen Sammelband, der allen Leserinnen und Lesern empfohlen werden kann, die an einem kenntnisreichen Überblick zu geteilten Nationen, territorialen Verlusten und Grenzverschiebungen in Europa und Asien im 20. Jahrhundert interessiert sind. Ihre von den Herausgebern außerdem anvisierte ‚Geschichte zweiten Grades‘ (Pierre Nora) bleibt allerdings noch zu schreiben.