K. Marxen, G. Werle (Hgg.): Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze

Cover
Titel
Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze.


Herausgeber
Marxen, Klaus; Werle, Gerhard; unter Mitarbeit von Rummler, Toralf; Schäfter, Petra
Reihe
Strafjustiz und DDR-Unrecht. Dokumentation 2/ 1+2
Erschienen
Berlin u.a. 2002: de Gruyter
Anzahl Seiten
1097 S.
Preis
€ 128,00 + € 128,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Guillaume Mouralis, Institut d'Histoire du Temps Présent, Cachan-Paris/ Centre Marc Bloch, Berlin

Der zweite Band der von Klaus Marxen und Gerhard Werle herausgegebenen Dokumentation ist nach den Bänden „Wahlfälschung“ und „Amtmissbrauch und Korruption“ soeben erschienen. Beabsichtigt wird damit eine gesamte Darstellung der Strafverfolgung des sog. DDR-Unrechts“, die so „systematisch“ wie möglich sein soll. Die voraussichtlich zehnbändige Dokumentation umfasst ausgewählte Verfahrensakten (meist Urteile) aus den ca. zehn von den Herausgebern identifizierten "Fallgruppen". Der vorliegende Band (in 2 Teilbände gegliedert) widmet sich den „Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze“, deren justitielle Aufarbeitung seit der Vereinigung für ein besonders großes öffentliches Interesse gesorgt hat.

Wie in der Einleitung des Bandes angeführt (XXXVII), nehmen die Strafverfahren wegen Gewalttaten an der Grenze einen bedeutenden Anteil aller Verfahren wegen des sog. DDR-Unrechts ein. Es handelt sich nämlich um den zweitgrößten Anteil (ca. 25 %) nach dem Anteil der Verfahren wegen Rechtsbeugung (etwa 30 %). 331 der insgesamt 457 Angeklagten wegen Straftaten an der Grenze wurden rechtskräftig verurteilt und nur 29 davon einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung ausgesetzt (Stand: Mitte 2002).

Sicherlich ist die vorliegende Dokumentation von besonderem Wert sowohl für die Rechtswissenschaft als auch für andere Disziplinen wie die Politik- und Geschichtswissenschaften: Sie bietet eine wesentliche Quelle für eine Historisierung der staatlichen Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit.

Die zwei Teilbände dokumentieren 17 Fälle, bei denen es zumindest zu einem erstinstanzlichen Urteil gekommen ist. Für jeden Fall sind lediglich Urteile und Beschlüsse - diese allerdings quasi vollständig – abgedruckt worden. Im Anhang des 2. Bandes gibt es u. a. zahlreiche Auszüge der gesetzlichen Regelungen und Schusswaffengebrauchsanweisungen, die dem DDR-Grenzregime zugrunde gelegen haben. Auch sehr nützlich sind die quasi vollständige Verfahrensübersicht (diese leider ohne das jeweilige Verfahrenseinleitungsdatum), das Fundstellenverzeichnis und die Orts-, Personen und Sachregister.

Die Fälle sind nach den folgenden Kriterien ausgewählt worden: Zum einen geht es darum, „möglichst sämtliche [...] vorhandenen Fallvarianten“ aufzuzeigen. Hervorgehoben sind dabei einerseits die Fälle, die für die Herausgeber als „zeitgeschichtlich“ relevant gelten und andererseits diejenigen, die „in der Öffentlichkeit besondere Aufmerksamkeit“ fanden. Darüber hinaus sind Verfahren zu allen drei Tätergruppen (den Grenzsoldaten, ihren Vorgesetzten und den Mitgliedern der politischen bzw. militärischen Führung) dokumentiert. Zum anderen soll „die Auswahl die Linie der Rechtssprechung zu allen relevanten Rechtsproblemen“ verdeutlichen (XLVI-XLVII).

Dennoch stößt auch die Auswahl der Akten in der Perspektive einer Geschichte der Aufarbeitung des DDR-Unrechts an ihre Grenzen. Zwar ist die Vollständigkeit im Rahmen des Vorhabens aufgrund des riesigen Umfangs von Materialien unmöglich, aber die Materialauswahl (XXI) unterliegt Kriterien, die in erster Linie rechtswissenschaftlich relevant sind.

Zurecht wird beabsichtigt, "den Verlauf und [...] den Rechtsfindungsgang" (XXVIII) zu dokumentieren. Und tatsächlich zeigen die zwei ersten Mauerschützen-Urteile (Vgl. Fälle 1 und 2 der Dokumentation) die "unterschiedlichen Lösungsansätze, die im Rahmen der Rechtswidrigkeit auf der unterinstanzlichen Ebene vertreten wurden" (XLVII): Die erste Option war es, die DDR-Strafvorschriften für nichtig zu erklären und die Grenzsoldaten aus naturrechtlichen Gründen zu verurteilen (1. Mauerschützen-Urteil). Die Argumentation des 2. Mauerschützen-Urteils war anders; den Grenzsoldaten wurde vorgeworfen, gegen die DDR-Vorschriften verstoßen zu haben. In seiner Grundentscheidung zu dieser Frage (er hat zunächst am 3. November 1992 das zweite Urteil bestätigt) schloss sich der BGH eher der zweiten Argumentation an, indem er das DDR-Recht „menschenrechtsfreundlich“ auslegte. In seinem Urteil räumt der BGH jedoch ein, dass die Grenzsoldaten auch die Gebote der Gerechtigkeit verletzt haben, als sie auf unbewaffnete Menschen schossen (S. 142-143).

Aber in der Perspektive einer Historisierung der Aufarbeitung wären auch weitere Dokumente von Bedeutung gewesen, wie etwa Anklageschriften, die aus verschiedenen Gründen von den Herausgebern nicht abgedruckt worden sind. Beispielweise hätte ein Vergleich zwischen der Anklageschrift gegen die Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates und dem (in der Dokumentation abgedruckten) Urteil wesentliche Unterschiede im Umgang mit dem historischen Kontext der vorgeworfenen Taten aufzeigen können. In dieser Hinsicht ist eine frühere Dokumentation zum ersten Politbüro-Prozess gegen Egon Krenz und weitere Mitglieder dieses Gremiums 1 besonders interessant, weil die Herausgeber unterschiedliche Verfahrensakten (auch den Schlussvortrag der Staatsanwaltschaft, die Plädoyers der Verteidiger und die Schlussworte der Angeklagten) wiedergegeben haben.

Ebenfalls wurden keine der (seltenen) Verfahren wegen DDR-Unrechts dokumentiert, die vor der Vereinigung in der BRD stattgefunden haben, obwohl sie wenigstens in den Monaten nach der Vereinigung auf die Verfolgungspraxis wie auch auf die Urteilsfindung in einer nicht zu unterschätzenden Weise gewirkt haben.

Die weiteren Ansprüche der Dokumentation müssen teilweise angezweifelt werden.
Denn der vorliegende Band soll eine „sachliche Diskussion über Stärken und Schwächen“ (XVIII) der strafrechtlichen Aufarbeitung bei den handelnden Juristen und Politiker hervorrufen. Aber sind überhaupt normative Ansprüche kompatibel mit einer geisteswissenschaftlichen Perspektive? Wenn sie nicht ein Hindernis zum Verstehen bzw. zum Erklären des Vorgangs darstellen, sind sie wenigstens von geringem heuristischen Interesse.

Ein weiterer Anspruch scheint mir auch problematisch. Wie von den Herausgebern in der Einleitung behauptet, sollen „die Justizdokumente eine wertvolle historische Materialgrundlage“ bieten (XVII). Hervorgehoben wurden daher Entscheidungen, „die sich den zeitgeschichtlich bedeutsamen Umständen eingehend widmeten“ (XLVI).
Hier zeigt sich eine etwas naive Konzeption der Geschichte auf: Sicher hat die Strafjustiz dazu beigetragen, einige Probleme wie zum Beispiel die Entwicklung der Befehlskette und –lage aufzuklären.

Aber die Fragen der Justiz sind von vornherein vom Strafrecht bestimmt und von ihm beschränkt 2. Daher konnte die Strafjustiz weder alle Verbrechen an der Grenze erfassen noch alle Verantwortlichen für den Aufbau und das Aufrechterhalten vom Grenzregime belangen. Vielmehr entsprechen alle Verstöße gegen das DDR- oder BRD-StGB nicht unbedingt zutreffenden historischen Problemen. Umgekehrt sind die Historiker - zum Glück - nicht an das Strafgesetzbuch gebunden. Sogar diejenigen, die Systemverbrechen erforschen, gehen meistens von anderen Fragen aus, als Staatsanwälte und Richter es tun. Ein Beispiel dafür ist die fieberhafte Suche nach einem so genannten Schießbefehl, den Honecker erteilt haben soll.

In ihrem Urteil gegen Streletz, Kessler und Albrecht geht die 27. große Strafkammer des Landgerichts Berlin von seiner Existenz nicht aus (siehe Fall 15, S. 561-564). Das war gewissermaßen eine typisch strafjustitielle Frage, denn ein solches Dokument hätte eklatant die verbrecherische Absicht Honeckers nachgewiesen. Aber Historiker wissen wohl, dass Systemverbrechen ohne schriftliche Befehle oder sogar ohne individuelle nachweisbare Absicht begangen werden können.

Die Herausgeber sind von ihren justitiellen Quellen gewissermaßen beeinflusst. Beispielweise schreiben sie, dass die Mauer und die Grenzanlagen ohne weiteres „auf Anordnung der politischen Führung der DDR" (XXIX) errichtet wurden. Da die Strafjustiz sich mit der individuellen Schuld der Angeklagten auseinandersetzt, neigt sie dazu, die Einbettung ihrer Handlungen in breitere und daher weniger erfassbare Kontexte herunterzuspielen. Zwar gibt es in dieser Hinsicht auch wesentliche Unterschiede je nach Urteil (vgl. Fälle 15, 16 und 17 der Dokumentation). Aber die in den letzten Jahren veröffentlichten historischen Studien zum Thema Mauerbau, weil sie andere Quellen als die der Justiz auswerten, relativieren oft den Handlungsspielraum der DDR-Führung bei der Grundentscheidung, die Grenze mit allen Mitteln zu sperren 3. Im Geflecht von innen- und vor allem außenpolitischen Umständen haben die Letzteren eine wesentliche Rolle gespielt. In der ausgewählten Literatur am Ende des 2. Teilbandes gibt es jedoch wenige Verweise auf zeitgeschichtliche Studien zum Thema.

Trotz aller kritischen Anregungen ist die vorliegende Dokumentation zweifellos eine unersetzbare Quelle – allerdings eher in der Perspektive einer Historisierung der strafrechtlichen Aufarbeitung des sog. DDR-Unrechts.

Anmerkungen:
1 Redaktion „Neue Justiz“ (Hgg.): Der Politbüro-Prozess. Eine Dokumentation, Baden-Baden 2001.
2 Siehe Thomas, Y.: La vérité, le temps, le juge et l’historien, in: Le Débat, Nr. 102, November-Dezember 1998, S. 17-36; Ginzburg, C.: Der Richter und der Historiker. Überlegungen zum Fall Sofri, Berlin 1991.
3 Siehe u. a. Bonwetsch, B.; Filitow, A.: Chruschtschow und der Mauerbau. Die Gipfelkonferenz der Warschauer-Pakt-Staaten vom 3.-5. August 1961, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 2000, Nr.1 (49), S. 155-198; Hertle, H.-H., Jarausch, K. H.; Kleßmann, C. (Hgg.), Mauerbau und Mauerfall. Ursachen - Verlauf – Auswirkungen, Berlin 2002; Timmermann, H. (Hgg.): 1961 - Mauerbau und Außenpolitik, Münster 2002; Wettig, G.: Die Sowjetunion und die Krise um Berlin. Ultimatum 1958 - Mauerbau 1961 - Modus videndi 1971, in: Deutschland Archiv, 2001, Nr. 4 (34), S. 592-613.

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