H. Leppin: Thukydides und die Verfassung der Polis

Titel
Thukydides und die Verfassung der Polis. Ein Beitrag zur politischen Ideengeschichte des 5. Jahrhunderts v. Chr


Autor(en)
Leppin, Hartmut
Reihe
Klio - Beiträge zur Alten Geschichte, Beihefte Neue Folge 1
Erschienen
Berlin 1999: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
220 S.
Preis
€ 59,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Guido O. Kirner

Nachdem Lorenzo Valla Mitte des 15. Jahrhunderts Thukydides' Geschichte des Peloponnesischen Krieges ins Lateinische übersetzt hatte und im Zeitalter der Renaissance und Aufklärung antiker Geist gegen christlich-heilsgeschichtliches Denken mobilisiert wurde, begann auch erst die eigentliche Wirkung und Wertschätzung dieses Werkes. Mit Machiavelli erlangte die politische Geschichtsschreibung eine erneute Wertschätzung, Thomas Hobbes übersetzte sein Werk eigenhändig ins Englische, Diderot zollte manchen Aufklärungshistorikern größten Respekt, indem er sie mit Thukydides verglich, David Hume - selbst ein Meister der Geschichtsschreibung - hielt die erste Seite von Thukydides für den "Anfang aller wahren Geschichte" und Kant zitiert Hume, wenn er es bei seiner Erörterung der Möglichkeit zur Erreichung des weltbürgerlichen Zustands für notwendig hielt, auch "die alte Geschichte zu beglaubigen". Für Herder wurde mit Thukydides' Beschreibung der Staatsmänner und Feldherrn "Geschichte pragmatisch", für Hegel kündeten sie (ich paraphrasiere) vom Tiefsinnigsten, Richtigsten und Wahrsten ohne Prunk und Verschwendung und Nietzsche erkannte neben ihm "nur wenige so hintergedankenreiche Denker".

Als sich die Darstellung von Geschichte als Wissenschaft und ausdifferenziertes akademisches Fachgebiet begriff, wer eignete sich da besser zur Vaterfigur eines Gründungsmythos als Thukydides? Niebuhr sah in ihm einen "Heiligen" und Ranke gesteht ihm neben Luther den größten Einfluß auf sein Werk zu. Gehörte die Verinnerlichung der Gefallenenrede des Perikles beinahe zur patriotischen Pflicht des bildungsbürgerlichen Zeitalters, so entprach andererseits der thukydeische Relativismus zumindest in Deutschland der dominant werdenden historistischen Sichtweise des 19. Jahrhunderts. Freilich bevorzugten schon immer manche eher den etwas älteren Herodot mit seinen ethnographischen und kulturvergleichenden Beobachtungen, doch wo der Geschichtsbegriff auf die Schilderung großer Männer und die Tragik der Ereignisse des Krieges verengt wurde, da lag es näher, sich auf den "Entdecker der politischen Geschichte" (Strasburger) zu berufen, der sich ja selbst als Kriegshistoriker sah und diesem Anspruch alles andere in seiner Darstellung unterordnete. Thukyides selbst polemisierte gegen Herodot, warf ihm eine unkritische Einstellung gegenüber der Wahrheit vor und betonte mit Blick auf die öffentlichen Vorlesungen Herodots, daß sein eigenes Werk eben nicht ein "Prunkstück fürs einmalige Zuhören", sondern ein "Besitztum für immer" darstellen solle. Am Anfang der Geschichtsschreibung war eben auch sogleich der Methodenstreit. Schließlich kommt keiner um sein Werk herum, der einfach nur etwas über die politischen und militärischen Ereignisse des späteren 5. Jahrhunderts erfahren will. Kein Wunder also, daß das forschungsgeschichtliche Schriftum zu Thukydides seit Mitte des 19. Jahrhunderts bis heute ins Unüberschaubare wuchs.

Hartmut Leppin hat einen erneuten Versuch unternommen, dem politische Denken des Thukydides nachzuspüren mit der Absicht, "seine Position in der zeitgenössischen Diskussion über die Verfassung der Polis näher und differenzierter zu bestimmen, als es bisher geschehen ist." (185) Da fast nichts über die Biographie des Thukydides bekannt ist (etwa 455-395 v.Chr., athenisch-hocharistokratische Herkunft mit Besitztum in Thrakien, finanzielle Unabhängigkeit durch Nutzungsrechte an Goldminen, militärischer Mißerfolg im Strategenamt bei Amphipolis, daraufhin zwanzigjährige Verbannung, in der er sein Werk verfaßte) aber auch die Genese seines Werkes immer noch vor ungelöste Fragen stellt und schließlich die Art und Weise seiner Darstellung kaum etwas über seine eigenen Ansichten explizit preisgibt, da scheint sich als Zugriff die Kontextualiserung in zeitgenössische Denkströmungen anzubieten. Auch wenn der Diskursbegriff angesichts der fragmentarischen Quellenlage des 5. Jahrhunderst nicht überstrapaziert werden sollte (Leppin beruft sich dabei auf die Cambridger Schule und besonders Quentin Skinner), scheint es jedenfalls richtig, Thukydides nicht aus dem Blickwinkel des weit besser belegten 4. Jahrhunderts zu betrachten.

Leppins Untersuchungen kreisen dabei um zwei Problemfelder: einmal um das Verhältnis von Thukydides Werk zur zeitgenössischen Debatte über die Verfassungstypologien; zum anderen um die Problematisierung des Verhältnisses zwischen Masse und Elite im zeitgenössischen politischen Handeln. Bei der Frage nach den Anfängen der Herausbildung einer Verfassungstypologie im Sinne des bekannten Dreierschemas Monarchie-Aristokratie-Demokratie setzt Leppin zunächst mit dem inneraristokratischen Kampfbegriff der Isonomie im antityrannischen Milieu ein, geht über zu den Verfassungstriaden bei Pindar, Herodot und Euripides, skizziert die Ausbildung des oligarchischen Denkens innerhalb der Demokratie (Ps.-Xenophon) und stellt schließlich die drei überlieferten demokratischen Denker Demokrit, Protagoras und den sog. Anonymus Iamblichi vor. Danach fragt er nach Affinitäten bei Thukydides und kommt zu dem Ergebnis, daß Thukyides zwar gerne die Begrifflichkeit der zeitgenössischen Debatten über die Verfassungen als analytisches Instrumentarium aufgreife, sie jedoch nur begrenzt für tauglich hielt, die komplexe Wirklichkeit zu erfassen. Eine Präferenz des Historikers für irgendeine Verfassungsform im Rahmen der Verfassungsdebatten sei nicht erkennbar, obgleich Thukyides ihr insofern Bedeutung zumaß, "als die unterschiedlichen Konzepte die politisch Handelnden in ihrem Tun zu leiten vermögen" und dazu dienten, "das Machtstreben der Politiker zu verhüllen." (S. 80f.)

Sodann kommt Leppin auf ein altes Problem der Thukydidesinterpretation zu sprechen, nämlich dem Verhältnis der narrativen Partien zu den Reden (erga-logoi). Auch wenn die Reden in der Diktion des Thukydides verfaßt sind, geben sie nicht unbedingt seine eigene Einstellung wider, zumal einer Rede oft die Gegenrede mit gegensätzlichen Ansichten folgt. Doch erst aus dem Nachweis, daß die ereignisgeschichtliche Darstellung dem Inhalt und den Ansprüchen der Reden (Perikles, Kleon, Diodotos, Athenagoras, Archidamos) oft widerspricht, wird deutlich, daß sich Thukydides mit keinem seiner Redner vollständig identifizierte und umgekehrt ebensowenig durch bestimmte Personen politische Prinzipien zu diskreditieren trachtete (S. 86). Festzuhalten bleibe, daß es Thukydides mehr um Argumentationsweisen, bestimmte Haltungen und um den Geist einer Verfassung als um die Diskussion bestimmter Institutionen ging. Darin treffen sich die thukydeischen Demokraten trotz mancher Divergenzen mit den Vertretern des demokratiefreundlichen Diskurses (S. 99). Die Redner bei Thukydides setzten sich zudem höchst unterschiedlich mit bestimmten Strukturproblemen der Polis auseinander (Achtung der Gesetze, Besonnenheit bei der Entscheidungsfindung, Bedeutung des Verstandes und der Rhetorik bei der innerdemokratischen Elitebildung), so daß Thukyides' eigene Position eigentlich erst aus seinen anthropologischen Voraussetzungen erkennbar werde. (S. 101-106).

Im Rahmen seines pessimistischen Menschenbildes, das die unwandelbare Natur des Menschen mit seinem Egoismus und seiner Ehrsucht betont, treten die gängigen Gegensätze der sozialen Schichtung, der Stammes- bzw. Verwandtschaftszugehörigkeit zugunsten der politischen Verfassung zurück. Die vor diesem Hintergrund in der politischen Agitation zum tragen kommenden anthropologischen Voraussetzungen sind aber nicht deterministisch oder statisch aufzufassen, sondern implizieren veränderliche Verhaltensweisen im Rahmen der jeweils spezifischen Situation oder den gegebenen strukturellen Handlungsspielräumen (S. 106-122). So kommen die Eigenschaften der Menschen am deutlichsten im Verhalten der Masse zum Ausdruck (S. 122-131), die in der Demokratie die schädlichsten Auswirkungen haben kann. Doch nicht nur dort charakterisiert sich die Masse des Volkes als wankelmütig und beeinflußbar. So wirkt sich z.B. sogar in Sparta ihre Unberechenbarkeit negativ auf die Kriegsentscheidungen aus, wenn innenpolitische Ränkespiele die Unabhängigkeit der Strategen in ihrer Angst vor dem Urteil des Volkes gefährden. Aber auch die politische Elite kommt bei Thukydides nicht gut weg. Außerdem macht er keinen moralischen Unterschied zwischen oligarchischen und demokratischen Eliten, denn sie verfolgen zumeist beiderseits rücksichtslos ihr jeweiliges Eigeninteresse (132-137).

Doch ist Thukydides weitaus differenzierter, wie die Analyse seiner Darstellung von herausragenden Politikerpersönlichkeiten zeigt (Themistokles, Perikles, Hermokrates, Phrynichos, Nikias, Alkibiades). Aber auch hier ist für Thukydides weniger relevant, was sie sagen oder für welche Verfassung sie sich einsetzen, als vielmehr ihre persönlichen Eigenschaften. Leppin arbeitet dabei drei Kriterien heraus, welche für die thukydeische Vorstellung eines guten "Staatsmannes" von Bedeutung sind: da ist zum einen seine analytische Begabung (xynesis, gnome, pronoia), sodann seine Durchsetzungs- bzw. Kommunikationsfähigkeit, d.h. vor allem seine Begabung sich der Masse mitzuteilen, und schließlich seine Liebe zur eigenen Stadt, die sich unabhängig von der jeweils herrschenden Verfassung darin beweist, die eigenen Interessen vor dem Wohlergehen der Polis zurückzustellen (144-170).

Bei Thukydides werden dann aber doch zwei Präferenzen sichtbar, die sich zum einen im Lob für Perikles und zum anderen für die Verfassung der 5000 zeigen. Gilt der Staatsmann als die Reinkarnation der Machtidee, der durch die Lenkungsfähigkeit der Masse innere Befriedung mit äußerem Behauptungswillen zu verbinden weiß, so zeichnete sich die nur kurzzeitig etablierte Verfassung von 411/10 für Thukydides vor allem durch ihre mäßigende (metrios) Eigenschaft durch die Mischung (xynkrasis) hinsichtlich der Masse und der Wenigen aus, also dem Ausgleich der Interessen im Inneren der Polis. Leppin betont, daß es Thukydides auch hier weit mehr um den Interessensausgleich als solchen als um eine bestimmte Verfassungsform ging.

Zusammenfassend zeichnet sich Thukydides im Vergleich zu zeitgenössischen Denkströmungen als unabhängiger Kopf aus, der die Ideologeme seiner Zeit zwar aufnimmt, dahinter jedoch zumeist nur kaschierte Eigeninteressen erkennt. Er verficht keine Vorstellung irgendeiner idealtypischen Stadt, er macht keinen moralischen Unterscheid zwischen Masse und Elite oder Demokraten und Oligarchen, seine pessimsitische Anthropologie weiß um die Wankelmütigkeit einer affektgesteuerten Politik und selbst die Orientierung an traditionellen Werten vermögen keine Stabilität zu garantieren. Dennoch ist gute Politik manchmal möglich, doch handelt es sich dann um die Ausnahme, wenn zufällig ein vorausschauender und einsichtiger Staatsmann die Möglichkeiten des politischen Handlungsspielraums der jeweiligen Verfassungsform im Interesse der Gesamtheit der Polis nutzt. Diese personalistische Sichtweise widerspricht einerseits der Auffassung einer beliebigen Applizierbarkeit von Verfassungen und tritt andererseits an die Stelle der religiös begründeten Unverfügbarkeit der Politik. Thukydides, der oligarchische Auffassungen ablehnte aber die Notwendigkeit politischer Eliten in der Demokratie erkannte, war so etwas wie ein "Vernunftdemokrat" (S. 196). Sein Horizont ging weit über Athen hinausging, seine Anschauungen hingegen hätten zum politischen Denken des vierten Jahrhunderts kaum etwas beitragen können. Auch wenn sich Thukydides nicht viel von Verfassungsveränderungen erhofft haben dürfte, so zwinge sein Werk doch keineswegs zu dem Schluß, daß die Apolitie der beste Weg sei, wie dies etwa in der Verbitterung des siebten Platonbriefes zum Ausdruck komme.

Trotz des bei Leppin durchgehend nüchternen und abwägenden Tons ist Thukydides für ihn dann möglicherweise doch in gewisser Weise ein Held, und zwar in der paradigmatischen Form eines im Bewußtsein des Wertezerfalls konservativen und durch seine pessimistische Anthropologie ebenso skeptisch-relativierenden wie enttäuschungsfesten Historikers, der sich weder von zeitlos-abstrakt formulierten Idealen theoretischer Denker noch von den phrasenhaften Formeln in den Reden der Poltiker täuschen läßt, sondern gerade die Begrenztheit, Situationsbedingtheit und Instrumentierbarkeit der von ihnen gebrauchten Begriffe aufzeigt und damit den Gegensatz von Reden und Handeln bewußt macht. Dabei ist ihm das geringere Übel gut genug. Nicht selten in der Ideengeschichte verbergen sich hinter Einstellungen dieser Art einstmals hohe Ideale, die irgendwann einmal enttäuscht wurden. Was aber vermag dies leichter als die Pathologie des Krieges.

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