Titel
Im Dschungel der Macht. Intellektuelle Professionen unter Stalin und Hitler


Herausgeber
Beyrau, Dietrich
Erschienen
Göttingen 2000: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
399 S.
Preis
€ 52,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörg Ganzenmüller, Universität Freiburg Historisches Seminar

Im Oktober 1930 beklagten sich die Parteiaktivisten im Präsidium der sowjetischen Landwirtschaftsakademie über den ständigen Kampf, den sie mit den "bürgerlichen Spezialisten" auszufechten hätten. Die Zahl der parteigebundenen Mitarbeiter in den agrarwissenschaftlichen Instituten sei äußerst gering, während sich die große Mehrheit apolitisch verhalte und sich bemühe, abseits der "Kampfaufgaben" zu stehen. Die Institutsleiter seien unfähig, dieses Problem anzugehen, und wünschten dies darüberhinaus auch gar nicht. Zudem sperrten sich die Wissenschaftler gegen die Einführung des Prinzips der sozialistischen Planung und Rechenschaftslegung. Die aufgestellten Arbeitspläne seien entweder keinen Heller wert, weil die nichtkommunistischen Mitarbeiter davon nichts verstünden, oder die Akademiker hatten sich gar geweigert, überhaupt einen Plan auszuarbeiten, weil die Ergebnisse ihrer Forschung nicht immer vorhersehbar seien und es deshalb unmöglich sei, die wissenschaftliche Arbeit zu planen. Auch lehnte es eine Reihe der Institutsangehörigen ab, den sozialistischen Wettbewerb und die Stoßarbeit einzuführen, die sie in der Wissenschaft für nicht durchführbar und unnötig hielten. Die Bol'ševiki reagierten auf diesen Fall - wie so häufig - mit repressiven Maßnahmen. Durch wiederholte "Säuberungen" der Institute versuchte man, dem Problem Herr zu werden, doch spitzten sich dadurch die personellen Schwierigkeiten nur noch zu, da es an kommunistisch gesinnten wissenschaftlichem Nachwuchs mangelte. Dies verhalf mittelmäßigen bis hin zu unfähigen jungen Forschern zu unglaublichen Karrieren, falls ihre Einstellung mit der herrschenden Parteilinie übereinstimmte. So mußte der Institutsdirektor des Labors für Genetik im Institut für Fischwirtschaft einem Praktikanten, der ihm von der Partei zugewiesen worden war, zuerst die Diplomarbeit schreiben, um schließlich von diesem ehrgeizigen Aufsteiger von seinem Posten als Direktor abgelöst zu werden.

Hier wird ein grundsätzliches Problem der Bol'ševiki nach der Oktoberrevolution deutlich, das sich wie ein roter Faden durch den Sammelband "Im Dschungel der Macht: Intellektuelle Professionen unter Stalin und Hitler" von Dietrich Beyrau zieht. Im ersten sozialistischen Staat war man auf die alten zarischen Funktionseliten angewiesen, die dem neuen Regime jedoch weitgehend skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden und sich nicht selten gegen Einmischungen von seiten der Politik sperrten. Die Versuche Ende der zwanziger Jahre, eine neue, "rote" Elite im Hauruckverfahren zu installieren, scheiterten an ihrer mangelnden Qualifikation, so daß man weiterhin auf "bürgerliche Spezialisten" zurückgreifen mußte. Eine der Ursachen des Terrors in den dreißiger Jahren liegt darin, daß mit diesen landesweit verbreiteten, als unhaltbar empfundenen Zuständen aufgeräumt werden sollte. Die "bürgerlichen Spezialisten" wurden ebenso wie die sich häufig als überfordert erwiesene erste Generation der "roten Spezialisten" durch eine junge, sowjetisch erzogene Elite ersetzt. An dieser Stelle tritt ein markanter Unterschied zum Nationalsozialismus zutage, der nach der Machtübernahme mit keiner latent resistenten Funktionselite konfrontiert war, sondern von einem "Bündnis der Eliten" getragen wurde. In Deutschland war ein Eliteaustausch nicht nötig, da die Fachleute in Staat und Wirtschaft den neuen Machthabern indifferent bis wohlwollend gegenüberstanden. Politisch Andersdenkende und vor allem Juden wurden mit Hilfe des "Gesetzes zum Schutze des Berufsbeamtentums" zügig von ihren Positionen verdrängt.

Es ist genau diese vergleichende Perspektive, die der Herausgeber für seinen Band wählt und die jene Problematik besonders deutlich vor Augen führt. In 18, zum Teil musterhaft recherchierten Beiträgen untersuchen russische und deutsche Historiker das Verhalten der Akteure im Wissenschafts- und Kulturbetrieb unter den Bedingungen der stalinistischen und der nationalsozialistischen Diktatur. Der Schwerpunkt ist dabei bewußt auf die Sowjetunion gelegt, der allein vierzehn Aufsätze gewidmet sind. Dies erscheint gerechtfertigt, da unser Wissen zum Stalinismus in vielen Bereichen noch weit hinter der Forschung zum Nationalsozialismus hinterherhinkt. Während die Abhandlungen zum "Dritten Reich" (zur Wissenschafts- sowie zur Kulturpolitik) eher summarischen Charakter haben, warten die Beiträge zur sowjetischen Geschichte mit neuen Kenntnissen auf der Grundlage bisher unerschlossener Archivmaterialien auf. Eine direkte Gegenüberstellung von Nationalsozialismus und Stalinismus kommt dabei allerdings etwas zu kurz, denn nur zwei Beiträge sind unmittelbar vergleichend angelegt (Bernd Faulenbach zur Geschichtswissenschaft und Hans-Walter Schmuhl zur Eugenik). So muß der Leser die Bedingungen des jeweils anderen Systems über weite Strecken des Buches mitdenken und selbst die Unterschiede und Gemeinsamkeiten herauslesen. Allerdings findet er hierzu zahlreiche Anregungen in der glänzend geschriebenen Einführung von Dietrich Beyrau, die den Stoff souverän strukturiert.

Im ersten Teil des Buches steht der eingangs skizzierte "Kampf um die Festung Wissenschaft" im Mittelpunkt, der für einzelne Fachrichtungen (Biologie, Agrarwissenschaften und Landeskunde) oder anhand unterschiedlicher Akteure (den Mitglieder der Akademie der Wissenschaften, den Absolventen des Instituts der Roten Professur oder der Leningrader Universität) geschildert wird. Die Beiträge des zweiten und dritten Teils gehen der Frage nach, welche Rolle die Ideologie auf die Wissenschaft ausübte. Hier finden sich Abhandlungen zur Gleichschaltung des Rundfunks, zum sowjetischen Literaturbetrieb oder zur experimentellen Biologie ebenso wie zu Einzelbeispielen, etwa zu Leon Orbeli, dem Nachfolger Pawlows, oder den deutschen Fachleuten in der sowjetischen Rüstungsforschung nach 1945. Während einige Aufsätzn durchaus den Einfluß der Ideologie auf die Wissenschaft herausstreichen (Woronkow zur Technostruktur oder Bordjugow zum Sowjetpatriotismus), sieht die Mehrheit der Autoren vor allem Karrieredenken als Antriebsfeder der neuen, kommunistischen Elite und deren weltanschauliche Konformität lediglich als dessen Vehikel. Der in mehreren Beitägen aufgegriffene Fall des Agronomen Lysenko verdeutlicht jedoch, daß hinter ideologischen Argumentationen nicht die "eigentlichen" Interessen versteckt wurden, sondern daß man aus ideologischer Befangenheit oft sogar gegen die eigenen Interessen handelte. Lysenko vertrat innerhalb der Genetik eine Mileutheorie, der zufolge Lebewesen angeeignete Merkmale weitervererben würden. Deshalb sei es möglich, durch eine Steuerung von Umweltfaktoren die Erbsubstanz zu verändern, beispielsweise einen Haselstrauch in eine Hainbuche umzuwandeln. Mit der Übertragung dieses gesellschaftspolitischen Axioms der Bol'ševiki auf die Biologie gewann Lysenko die Unterstützung Stalins und dominierte von 1935 bis 1956 die sowjetische Genetik, auch wenn sie sich dadurch von der internationalen Forschung abkoppelte und um Jahrzehnte zurückfiel. Das Beispiel der Eugenik zeigt ebenfalls den bestimmenden Einfluß der Weltanschauungen. Während sich im Nationalsozialismus die negative Variante dieser Wissenschaft in Form der Rassenhygiene durchsetzte, war das Fach in der Sowjetunion mit der dort herrschenden Gleichheitsdoktrin nur schwer kompatibel: Als bourgeois gebrandmarkt wurde es 1936 schließlich eingestellt.

Spektakulär und nur schwer einzuordnen ist dagegen der Fall des Genetikers Ivanov, der im Jahre 1926 auf seiner Expedition nach Französisch-Guinea versuchte, Kreuzungsversuche zwischen Menschen und Affen durchzuführen. Nachdem die Besamung von Schimpansenweibchen mit menschlichem Sperma fehlgeschlagen war, konzentrierte er sich auf die künstliche Befruchtung von Frauen. Als Verhandlungen mit dem Gouverneur Guineas und dem Arzt des örtlichen Hospitals über die Durchführung einer Insemination von afrikanischen Frauen mit Schimpansensperma scheiterten, verlegte Ivanov seine Tätigkeiten auf die Affenzuchtfarm in Suchumi. Man versuchte mindestens fünf Frauen ausfindig zu machen, die aus "ideellem Interesse" bereit gewesen wären, sich für das Experiment zur Verfügung zu stellen und ein Jahr unter den Bedingungen strenger Isolation auf der Station in Georgien zu leben. Doch da starb "Tarzan", das einzige geschlechtsreife Anthropoiden-Männchen in Suchumi, und noch bevor man eine neue Affengruppe ankaufen konnte, wurde Iwanow der "Schädlingstätigkeit" angeklagt und verurteilt, allerdings nicht wegen seiner Menschenversuche, sondern aufgrund der angeblich vorsätzlichen Anwendung einer fehlerhaften Methodik und defekter Instrumente bei der künstlichen Besamung von landwirtschaftlichen Nutztieren. Die Parallelen zur nationalsozialistischen Praxis von Menschenversuchen sind hier eklatant, und es ist noch auszuloten, inwieweit wir es hier mit einer Form von sowjetischem Rassismus oder einem ungezügelten Forschergeist zu tun haben, der sich ja gerade ein offenes Brechen mit bürgerlichen Moralvorstellungen auf die Fahnen geschrieben hatte.

Insgesamt gesehen führt dieser Sammelband exemplarisch vor, welche Möglichkeiten in einem Vergleich zwischen Nationalsozialismus und Stalinismus stecken, wenn man diesen nicht als allgemeine Gesamtschau anlegt oder versucht, die beiden Systeme möglichst unter den einen Hut des Totalitarismusbegriffs zu bringen. Letzteres wirft mehr methodische Probleme auf, als es Erkenntnisgewinn verspricht, denn ein solcher Ansatz entwirft ein idealtypisches System und versteht die verschiedenen Diktaturen nur als seine Variante, die in unterschiedlichen Punkten mehr oder weniger von der vorgegebenen Schablone abweicht. Der historische Vergleich eines konkreten Teilbereichs dieser beiden Weltanschauungsdiktaturen schärft dagegen den Blick für die Analyse und Bewertung einzelner Phänomene des jeweils anderen Systems.

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