R. Beier: Geschichtskultur in der Zweiten Moderne

Titel
Geschichtskultur in der Zweiten Moderne.


Herausgeber
Rosemarie Beier f. d. Deutsche Historische Museum
Erschienen
Frankfurt a.M. 2000: Campus Verlag
Anzahl Seiten
347 S., 9 Abb.
Preis
€ 34,90
Günter Riederer

Die Frage, welche Rolle die Erinnerung innerhalb der Konstruktion einer Gemeinschaft einnimmt, rückte in den letzten Jahren in das Zentrum der Sozial- und Kulturwissenschaften. Allerorten ist vom kulturellen und kollektiven Gedächtnis die Rede, überall wird nach den Anlässen, Instrumenten und Trägern dieser Erinnerung gesucht. Zu den "Orten des Gedächtnisses" gehören unweigerlich auch die Museen. Das Museum gilt - zumindest in den westlichen Gesellschaften - als diejenige Institution, welche Vergangenheit "vergegenwärtigen" soll.

Dieser Thematik widmet sich der vorliegende Sammelband, dessen Initiative auf Rosmarie Beier, die Sammlungsleiterin am Deutschen Historischen Museum in Berlin, zurückgeht. Sie hat auch die Einleitung beigesteuert, die sich in wohltuender Klarheit mit den methodischen Prämissen des Bandes befaßt. "Zweite Moderne", "Globalisierung", "Soziale Konstruktion" - das sind die Schlagworte, von denen ausgehend die Autorin ein theoriegesättigtes Beziehungsgeflecht knüpft, in das sich die folgenden 14 Beiträge einordnen.

Der erste Teil des Buches trägt den Titel "Geschichtskonstruktion in der Zweiten Moderne" und versammelt zunächst vier Beiträge, die sich auf einer methodisch-theoretischen Ebene mit der Thematik "Erinnerung" auseinandersetzen. John Urry versucht mit seinem Aufsatz "Wie erinnern sich Gesellschaften ihrer Vergangenheit?" (29-52) die Entwicklung einer Theorie des "Sich-Erinnerns" voranzutreiben. Er betont dabei vor allem, daß sich mit den wachsenden grenzüberschreitenden Bilder-, Informations- und Menschenströmen die Prozesse gesellschaftlichen Erinnerns mehr und mehr beschleunigen. Norbert Bolz fordert in seinem Beitrag "Das Happy End der Geschichte" (53-69) die heutigen Museen auf, sich zu Innovationsmaschinen zu wandeln, die immer wieder neue Kontexte für alte Dinge arrangieren. Unter dem Titel "'History' und 'heritage'. Widerstreitende und konvergente Formen der Vergangenheitsbewältigung" (71-94) stellt David Lowenthal zwei unterschiedliche Konzepte der Erinnerung vor. "History" als objektive Geschichte und akademische Disziplin steht der "heritage" gegenüber, die "Geschichtsmärchen" erzählt. Omer Bartov betont in "Der Holocaust. Von Geschehen und Erfahrung zu Erinnerung und Darstellung" (95-119) die Problematik der Subjektivität und Individualität jeglicher Form des Erinnerns.

Im zweiten Teil des Bandes steht unter dem Motto "Musealisierungen der Geschichte in der Zweiten Moderne" das Museum als realer Ort der Erinnerung im Mittelpunkt. In ihrem Beitrag "Nationale, postnationale, transkulturelle Identitäten und das Museum" (123-148) betrachtet Sharon J. Macdonald das kulturelle Wirken des Museums im Hinblick auf die Artikulation und Befestigung von Identität. Museen des 19. Jahrhunderts bestärkten den Menschen im Glauben an die Zugehörigkeit zu einer Nation. Ein wesentlich schwierigeres Unterfangen sei es heute hingegen, postnationale, transkulturelle oder hybride Identitäten zu artikulieren. Am Beispiel der Transcultural Galleries der Cartwright Hall im englischen Bradford präsentiert die Autorin ein gelungenes Beispiel. Michael Fehr diskutiert in seinem Aufsatz "Das Museum als Ort der Beobachtung Zweiter Ordnung. Einige Überlegungen zur Zukunft des Museums" (149-165) die Begriffe "Authentizität" und "Fiktion". Das Museum sieht er als Ort, in dem die Dichotomie der beiden Begriffe aufgelöst wurde. Ähnlich argumentiert auch Detlef Hoffmann in seinem Beitrag "Spur. Vorstellung. Ausstellung" (167-182). Ausstellungsstücke erklären sich nur zum Teil aus sich selbst, erst die "Spur" an oder in einem Objekt befähigt die Besucher, detailliertere Hinweise zu erhalten und ein Exponat zu "lesen". Karen E. Till richtet in ihrem Aufsatz "Verortung des Museums. Ein geo-ethnographischer Ansatz zum Verständnis der sozialen Erinnerung" (183-206) ihr Hauptaugenmerk auf den realen Ort, an dem Geschichte erinnert wird. Am Beispiel des Deutschen Historischen Museums in Berlin zeigt die Autorin, wie geographische Lage, Landschaft, Ortsverbundenheit und ortsbezogene Erfahrung Arbeit und Funktion dieses Hauses beeinflussen. Unter dem Titel "Gegenstände des Erinnerns. Geschichte und Erzählung in französischen Kriegsmuseen" (207-236) schließlich vergleicht Daniel J. Sherman die Kriegsmuseen von Verdun, Caen und Péronne.

Der dritte Teil des Bandes - "Deponieren, Exponieren, Repräsentieren" - rückt die Dinge im Museum in den Mittelpunkt. Wie "entstehen" Ausstellungsgegenstände? Wie werden sie verwaltet und ausgestellt? Liselotte Hermes da Fonseca geht unter dem Titel "Disziplinierung der Gespenster. Grenzen einer Anthropologie des Museums-Menschen" (239-262) der Beziehung zwischen "totem Museum" und den lebendigen Körpern seiner Besucher nach. Hilke Doering nähert sich in "Dingkarrieren: Sammelstück, Lagerstück, Werkstück, Ausstellungsobjekt. Zur Konstruktion musealer Wirklichkeit" (263-278) der Thematik "Repräsentation im Museum" von Seite der Exponate. Angefangen von ihren ursprünglichen Herstellungs- und Gebrauchskontexten, über Transport, Lagerung, Sammlung bis hin zum Museum legen die meisten Ausstellungsstücken einen beschwerlichen Weg zurück. In "Mehr Speicher, weniger Museum. Cyberspace zwischen Datendepot und musealem Repräsentationsraum" (279-297) beschreibt Wolfgang Ernst den Einfluß neuer Informationstechnologien auf das Museum. Rosmarie Beier warnt in "Geschichte, Erinnerung und Neue Medien. Überlegungen am Beispiel des Holocaust" (299-323) vor einer neuen Naivität in Bezug auf die Wirkung der Bilder. Und Martin Prösler schließlich behandelt in "Museen: Akteure im Globalisierungsprozess" (325-343) das Verhältnis von Globalisierung und Museen.

Der Sammelband unterstreicht die Bedeutung der Thematik "Erinnerung" für die praktische Museumsarbeit. Die obsessive Beschäftigung mit der Vergangenheit ist für die postmoderne Kultur kennzeichnend. In einem Zeitalter, das von schnell wechselnden Bildern und Geräuschen beherrscht wird, entwickelt sich zwangsläufig ein unstillbares Verlangen nach Stabilität und Dauerhaftigkeit. Museen sind - so könnte vielleicht das Resümee der Beiträge lauten - derjenige Ort, in denen dieser Beschleunigungsprozeß zumindest für die kurze Zeit ihres Besuches ausgesetzt werden kann.

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