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Titel
Hermann Schafft – pädagogisches Handeln und religiöse Haltung. Eine biografische Annäherung


Autor(en)
Möller, Lukas
Erschienen
Bad Heilbrunn 2013: Julius Klinkhardt Verlag
Anzahl Seiten
354 S.
Preis
€ 36,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Andreas Hoffmann-Ocon, Zentrum für Schulgeschichte, PH Zürich

Biografien in bildungshistorischen Zusammenhängen können auf die nicht abnehmende Neugierde gegenüber Klassikern der und Klassikern für die Pädagogik setzen. Naht der Jahrestag einer pädagogischen Berühmtheit, wird weniger eine ambitionierte Rekonstruktionsstrategie erwartet, sondern mehr eine chronologische Erzählung, die in Kapitel eingeteilt Wendepunkte des Subjekts unter der Heranziehung von bedeutsamen Materialfunden arrangiert. Kann die biografische Form im erziehungswissenschaftlichen Kontext überzeugen, wenn die beschriebene Person ein protestantischer Theologe im 20. Jahrhundert und lediglich in Nordhessen eine regional gebundene Bekanntheit war? Lukas Möller hat mit seiner Dissertation eine Biografie vorgelegt, welche die Haltung eines akademischen Theologen als Erkenntnisinstrument für einen Zugang zum pädagogischen Handeln herausarbeiten möchte. Die biografische Annäherung an Hermann Schaffts pädagogisches Handeln und religiöse Haltung erfolgt in den vier Schritten „Grundlegung“, „Lebensbericht“, „Persönliche Haltung“ und „Haltung und Handeln – Fazit“.

Möller ist sich der forschungspragmatischen und -theoretischen Herausforderungen seines Vorhabens bewusst: Wenn schon Hermann Schafft (1883–1959) als pädagogischer Akteur der zweiten Reihe über äußere Umstände seiner Biografie weitgehend geschwiegen hatte (S. 17), wie voraussetzungsvoll ist es dann, sich als Erziehungswissenschaftler über Aspekte des inneren Lebens dieses Theologen Klarheit zu verschaffen? Zu erkennen ist: Dem Autor ist es ein Anliegen, Theoreme der Biografieforschung im Abschnitt der „Grundlegung“ einzubauen. Die Gestaltung einer Biografie erfolge im soziokulturellen Raum und in einer historischen Zeit. Der Biograf hat einen Chor von Erziehungswissenschaftler/innen aufgeboten, die helfen, Schaffts pädagogischen Beitrag in die Gegenwart hinein zu öffnen. In moderater Anlehnung an subjekttheoretische Überlegungen unter anderem von Klaus Prange sucht der Autor in dem ihm vorliegenden Material nach dem Zusammenhang zwischen aus biografischer Erfahrung gewonnener Haltung und pädagogischem Handeln (S. 21). Die biografietheoretische Perspektive, welche um die objektiven gesellschaftlichen Strukturen weiß, die Lebensentwürfe beeinflussen, soll der erziehungswissenschaftlichen Reflexion innerhalb der Studie die Richtung weisen. Der Plan Möllers lautet, Schaffts Biografie nicht auf einen Reflex seiner Zeit zu reduzieren, sondern mit Verweis auf die erziehungswissenschaftlichen Studien von Theodor Schulze und soziologischen Arbeiten von Erika M. Hoerning sich bewusst zu machen, welche sozialen Deutungsmuster des Theologen für die Bearbeitung seines eigenen Lebenslaufes mobilisiert wurden. Möller verwandelt in der Grundlegung seiner Arbeit lose gekoppelte Aussagen über biografische Schnittpunkte und Bruchstellen zu einem synthetischen Theorie- und Reflexionshorizont. Zu Recht verweist der Verfasser von Schaffts Biografie darauf, dass nicht jeder biografische „Bruch“ zu einer Bruchstelle führen müsse. Die Gefahren biografischer Studien anhand von Ego-Dokumenten werden nicht vergessen: Autobiografische Narrationen lassen sich von dem Ziel leiten, dem eigenen Lebensverlauf einen Sinn zu verleihen, also eine immanente Teleologie sowie eine gleichzeitige retrospektive und prospektive Logik zu entwickeln (S. 29).

Die historische Figur Hermann Schafft wird in dem Abschnitt „Lebensbericht“ mithilfe des bisher ausgewerteten Nachlasses quellennah rekonstruiert. 1883 als Sohn eines Pfarrers und einer vor seiner Geburt als Lehrerin arbeitenden Mutter in Langenstein bei Halberstadt geboren, erlangte diese Region für ihn keine so große Bedeutung wie später Nordhessen und insbesondere Kassel. Die Einführung in die Familienchronik (S. 43) zeigt den Haushalt eines bewussten und ehrgeizigen Bürgertums, das Hermann Schafft am Ende seiner Gymnasialbildung einen dreijährigen Besuch der als elitär geltenden Landesschule Pforta ermöglichte. Es folgte ein Theologiestudium in Halle, welches ihn später auch nach Berlin und Tübingen führen sollte. In der Hauptstadt verkehrte Schafft, wie zuvor in Halle, in Kreisen des christlichen Wingolfbundes und lernte Paul Tillich kennen; zusammen mit weiteren Weggefährten bildeten sie auch theologisch in den gemeinsamen Begriffen „Autonomie“, „Heteronomie“ und „Theonomie“ denkend eine geistige „Familie“ innerhalb eines Studentenbundes (S. 59). 1914 meldete Schafft sich als promovierter Theologe und Direktor eines evangelischen Studienhauses 30-jährig als Kriegsfreiwilliger, der, schnell zum Feldgeistlichen avanciert, sich eher pathetisch als Teil von in Brüderschaft zusammenstehender Frontkameraden gerierte und das Schlachtfeld als Ort höherer menschlicher Werte huldigte (S. 67). Nach dem Ersten Weltkrieg teilte Schafft das Empfinden vieler Intellektueller seiner Zeit, politisch und kulturell Angehöriger einer Krisenzeit zu sein. Mitte der 1920er-Jahre übernahm Schafft die Rolle eines Repräsentanten und Sprechers eines bestimmten Teils der „organisierten“ Jugend; er galt als Gründer des Kasseler Jugendrings und war von einem religiösen Sozialismus ergriffen, was als Impulsgeber für sein Buch „Vom Kampf gegen die Kirche für die Kirche“ (1925) betrachtet werden kann. Kurz darauf wurde ihm mit dem Wechsel in die Altstädter Gemeinde in Kassel die Verantwortung für einen Teil des Kasseler Proletariats übertragen. In dieser Phase stand er in Kontakt mit verschiedenen (politischen) Strömungen der deutschen Jugendbewegung; mit dem „Neuwerkkreis“ beteiligte sich Schafft an einer christlich sozialistischen Jugendbewegung (S. 84). Da die Phase von Hermann Schafft als Mitglied der Jugendbewegung, welche eine besondere Wendung für ihn bereits mit der Teilnahme am Treffen auf dem Hohen Meissner 1913 genommen hatte, schon Eingang in wissenschaftliche Literatur gefunden hat, behilft sich Möller insbesondere für diese Zeit ausgesprochen plausibel mit Vor- und Rückblenden.

Die Professur für Religionswissenschaften an der neu gegründeten und stark konfessionell evangelisch orientierten Pädagogischen Akademie bedeutete 1930 für Schafft nicht wirklich eine Neuausrichtung und blieb aufgrund der baldigen Schließung Episode. Durch dieses Amt angeregt, entwickelte Schafft ein Interesse für das Gebiet der Allgemeinen Pädagogik und bemerkte, dass ihn Fragen der Menschen- und Lehrerbildung mehr als diejenigen der systematischen Theologie beschäftigten (S. 101). Nach kurzen Tätigkeiten als Dozent an der Pädagogischen Akademie Dortmund und der Hochschule für Lehrerbildung in Halle, der NS-Ausbildungseinrichtung für Volksschullehrpersonen, war die NS-Zeit für Schafft dadurch geprägt, dass er der Begünstigung von Kommunisten bezichtigt und mit 50 Jahren mit dem Instrument des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums pensioniert wurde und (wieder) als Landpfarrer arbeitete (S. 117).

Nach 1945 beginnt für Schafft eine neue Schaffensperiode, als ihn der regionale US-Militärgouverneur zum Regierungsdirektor in Kassel und Leiter der Abteilung Erziehung, Religion und Wissenschaft bei der Provinz Kurhessen berief. Für diese Phase sticht aus der Korrespondenz des Theologen in der höheren Bildungsverwaltung die Äußerung hervor, dass er die Entnazifizierung als fragwürdiges politisches Instrument betrachte (S. 126). Schaffts gesellschaftliches Anliegen bestand in der Nachkriegszeit bis über seine Pensionierung hinaus vor allem in dem Bestreben, die Burg Ludwigstein in Nordhessen zum Sammlungsort wiederbelebter jugendbewegter Kultur zu machen, von der sich auch völkische Kreise angezogen fühlten. Derartiges ist mit zu bedenken, wenn Schaffts Haltung zur Debatte steht. Durch Möllers Rekonstruktionen lassen sich auch Fraktionierungen innerhalb der jugendbewegten Szene in der Nachkriegszeit der Bundesrepublik vorzüglich studieren.

Im Abschnitt „Persönliche Haltung“, der durch vorausgreifende Zusammenfassungen der Unterkapitel eine gute Leserführung bietet, zeigt Möller, dass Schafft in seinen Publikationen zu einer religiösen Interpretation der deutschen Jugendbewegung gelangt, die bereits von Zeitgenossen, welche die Facettenhaftigkeit der Ideale oft ausblendeten, als Engführung verstanden wurde (S. 167). Aspekte der Haltung Schaffts, die im Lebensbericht bereits angedeutet wurden, erfahren nun eine an Schriften und Briefwechsel rückgekoppelte Vertiefung: das im Neuwerkkreis aufgebaute Verständnis als Kritiker und Mittler gegenüber anderen Gruppen der Jugendbewegung (S. 173), die theologisch inspirierte schulpolitische Positionierung für die christliche Simultanschule (S. 190), die Kritik an einer zu staatsnahen Amtskirche, welche proletarische Bevölkerungsgruppen zu integrieren nicht imstande war (S. 199), die Dialogbereitschaft auch gegenüber völkisch und nationalsozialistisch orientierten Personen, Strömungen, Bünden und Organisationen sowie Ressentiments gegenüber den Formen des seinerzeit gegenwärtigen Judentums (S. 241). Möllers bedeutsamer Befund, dass Schafft zunächst angenommen hatte, die vermeintlich schöpferischen Kräfte, welche durch die NS-Strömung in der Jugend geweckt wurden, besäßen eine Art pädagogisch-kulturellen Überschuss und ließen sich gar nicht an eine bestimmte Ideologie binden, hätte durch vergleichende Hinweise zu ähnlich gelagerten rekonstruierten Haltungen von jugendbewegten Pädagogen noch erweitert werden können.1

In dem berechtigten Bemühen, Schaffts Biografie mit dem Selbstverzicht an expliziten Deutungen vor Fehleinschätzungen zu schützen, verfällt Möller mitunter einer „Chronistenperspektive“, die er durch viele Zitate verstärkt, welche sich dann jedoch auch als gewinnbringend für das Verständnis von Schaffts Haltung erweisen. Die Varianzbreite einer biografischen Annäherung ließe aber neben einer der Quellennähe geschuldeten erziehungswissenschaftlichen Recherche auch deutliche Leerstellen zu, die, wenn der Glanz verbürgender Hintergrunddokumente fehlen sollte, im Fazit einen pointierten Rekurs auf den in der Grundlegung selbst erarbeiteten biografietheoretischen Reflexionshorizont ermöglicht hätten.

Diese Einwände ändern jedoch nichts am insgesamt sehr gelungenen Vorhaben Möllers, das pädagogische Handeln und die religiöse Haltung Hermann Schaffts anhand von weitgehend unbekannten Materialien zu rekonstruieren. Für die Bildungsgeschichte liefert diese Studie in verständlicher Form Einblicke und Einsichten in die Konstituierung von persönlichen Haltungen und Orientierungen in pädagogischen Kontexten. Sich einem Typus von Pädagogen zu nähern, für den Brückenschlag, Versöhnung, Aussöhnung und die aus heutiger Sicht teilweise pädagogisch-kitschig anmutende Sehnsucht nach Integrationskonzepten aufgrund eigener schwieriger Verstrickungszusammenhänge als zentrale Motivlage kennzeichnend waren2, bietet Lukas Möllers bildungshistorisches Werk nun Gelegenheit.

Anmerkungen:
1 Wolfgang Klafki / Johanna-Luise Brockmann, Geisteswissenschaftliche Pädagogik und Nationalsozialismus. Herman Nohl und seine „Göttinger Schule“, Weinheim, Basel 2002.
2 Heinrich Roth, Der Lehrer und seine Wissenschaft. Erinnertes und Aktuelles, Hannover 1976.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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