G. Wolfgruber: Wiener Jugendwohlfahrt im 20. Jahrhundert

Cover
Titel
Von der Fürsorge zur Sozialarbeit. Wiener Jugendwohlfahrt im 20. Jahrhundert


Autor(en)
Wolfgruber, Gudrun
Reihe
Zur Geschichte der Sozialarbeit und Sozialarbeitsforschung 5
Erschienen
Wien 2013: Löcker
Anzahl Seiten
250 S.
Preis
€ 19,80
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Sonja Matter, Historisches Institut, Universität Bern

An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert gehörte die „Soziale Frage“ zu den meistdiskutierten Problemfeldern und wurde zunehmend mittels sozialwissenschaftlicher Studien erforscht. Neue Systeme sozialer Sicherung, aber auch neue Wissenschaftsdisziplinen und soziale Berufe etablierten sich.1 In diesem Kontext einer „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ (Lutz Raphael) sind auch die Anfänge der Sozialen Arbeit zu verorten. Verschiedene Studien weisen auf ein Spezifikum des Professionalisierungsprozesses der Sozialen Arbeit hin: Das „doppelte Mandat von Hilfe und Kontrolle“ prägte sowohl die Theorie- und Methodendiskussion wie auch die Berufspraxis tiefgreifend. Diesem Spannungsfeld gilt auch das Hauptinteresse der Studie von Gudrun Wolfgruber, die 2011 an der historisch-kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien als Dissertation eingereicht wurde. Im Mittelpunkt stehen die Professionalisierungsprozesse des Wiener Jugendamtes, das 1917 zum „Schutz des Kindeswohls“ gegründet worden ist.

Was unter „Schutz des Kindeswohls“ zu verstehen ist, wandelte sich im 20. Jahrhundert. Die Studie setzt im „Roten Wien“ (1919–1934) ein, als die Jugendwohlfahrt stark ausgebaut und als „Juwel der sozialdemokratischen Wohlfahrtspolitik“ gefeiert wurde (S. 39). In der Arbeit wird untersucht, wie sich die Soziale Arbeit im Jugendamt Wien mit der Etablierung der austrofaschistischen Diktatur 1934 und mit dem politischen Regimewechsel von 1938 im Zuge der Machtübernahme der Nationalsozialisten änderte. War die Jugendwohlfahrt der 1920er- und 1930er-Jahre von so genannten „positiven“ eugenischen Zielsetzungen geleitet, fokussierte das Gesamtsystem der Jugendfürsorge der NS-Zeit darauf, „rassenhygienische“ Ideale umzusetzen. Die Fürsorgerinnen, die während des NS-Regimes im Wiener Jugendamt arbeiteten, waren mit „einer mehr oder weniger politisch motivierten und einschneidend veränderten Alltagspraxis“ konfrontiert (S. 75). Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Jugendamtes wurde sowohl aus politisch-religiösen als auch „rassischen“ Gründen gekündigt, bei widerständigem Verhalten drohte Fürsorgerinnen, von Kolleginnen denunziert und in städtische Randgebiete oder „kriegswichtige“ Betriebe strafversetzt zu werden. Inwieweit sich Fürsorgerinnen den „rassenhygienischen“ und eugenischen Anordnungen widersetzten und Handlungsspielräume ausnützten, hing, wie Gudrun Wolfgruber argumentiert, von der „politischen Orientierung“ und dem „individuell ethisch-moralischen Fürsorgekonzept“ ab (S. 75).

Das Wiener Jugendamt der unmittelbaren Nachkriegsjahre war durch Kontinuitäten wie Brüche geprägt: Fürsorgerinnen diverser politischer Couleurs mit unterschiedlichen Karrieren im Nationalsozialismus und Mitglieder verschiedener Berufsgenerationen arbeiteten in einem vielfach konfliktreichen Verhältnis zusammen (S. 80). Im Kampf gegen Hunger, Krankheit und materielle Not zielte ihre in einen „kollektiv“ propagierten Wiederaufbau Österreichs eingebundene Tätigkeit in erster Linie auf eine Behebung der Alltagsnöte. Mit einer im internationalen Vergleich zeitlichen Verspätung erfolgte in Österreich die Integration des Case Work in die fürsorgerische Ausbildung und Praxis der Sozialen Arbeit. Die Methode eröffnete in den 1950er-Jahren den Weg, von den Leitbildern einer „paternalistisch-protektiven Fürsorge“ abzuweichen und stattdessen ein egalitäres Verhältnis zwischen Sozialarbeitenden und KlientInnen durchzusetzen. Im Zuge der 1968er-Bewegung dynamisierten sich diese Wandlungsprozesse. Das Wiener Jugendamt tarierte das Spannungsverhältnis von „Hilfe und Kontrolle“ neu aus: „Die Maßnahmen und Hilfsangebote der Jugendwohlfahrt zielten nun sowohl auf die Stärkung elterlicher Autonomie wie auch auf die Reduktion von Eingriffen ins Familienleben“ (S. 149). Eine letzte Zäsur ortet Gudrun Wolfgruber in den 1990er-Jahren: Die Orientierung an einer neoliberalen Ökonomie setzte neue Reflexionen bezüglich des Kontrollcharakters der Jugendwohlfahrt in Gange. Die Sozialarbeitenden erkannten die Kontrolle als Teil des jugendamtlichen Auftrages an und integrierten die Doppelfunktion von Hilfeleistung und Kontrolle in ihr Professionsverständnis (S. 188).

Gudrun Wolfgrubers Studie leistet in verschiedener Hinsicht einen innovativen Beitrag zur Geschichte der Sozialen Arbeit. Erstens verfolgt sie die Fragen nach dem Verhältnis von Hilfe und Kontrolle vom frühen 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart und zeigt auf, wie politisch-historische Zäsuren wie Austrofaschismus, Nationalsozialismus, aber auch die „68er-Bewegung“ und der Neoliberalismus der 1990er-Jahre dieses Spannungsfeld jeweils in diskursiver, gesetzlich-institutioneller und praktischer Ebene veränderten. Damit leistet sie nicht nur eine weit gefächerte Professionalisierungsgeschichte der Sozialen Arbeit am Beispiel der Wiener Jugendwohlfahrt, sondern stellt auch Kontinuitäten und Brüche einer Wohlfahrtsgeschichte des 20. Jahrhunderts zur Diskussion.

Der für die Arbeit gewählte methodische Zugang ist in der historischen Forschung zur Sozialen Arbeit erst ansatzweise angewandt worden. Die Arbeit basiert im Wesentlichen auf biografisch-narrativen Interviews. Diese eröffnen einen neuartigen Blick auf die Geschichte des Wiener Jugendamtes: Im 20. Jahrhundert positionierten sich Fürsorgerinnen und Sozialarbeitende höchst unterschiedlich zur Frage, wie zwischen „Auftrag und Eigensinn“ gehandelt werden sollte, und standen genau wegen dieser Frage vielfach miteinander im Konflikt. Tiefe Gräben taten sich auf: zwischen Fürsorgerinnen unterschiedlicher politisch-ideologischer Einstellung, aber auch zwischen Sozialarbeitenden verschiedener Generationen, die sich je unterschiedlich an den „Auftrag des Amtes“ gebunden fühlten. Eindrücklich sind die Ausführungen zur „aggressiven Kampfmetaphorik“ im Zuge der 68er-Bewegung: „Das Jugendamt wird zu einem Ort des Kampfes von jung versus alt, progressiv versus konservativ, autoritär versus antiautoritär“ (S. 165). Die Analyse dieser vielfältigen Konflikte öffnet die Möglichkeit, verschärft darüber nachzudenken, wie politisch-ideologische Diskurse das professionelle Berufsverständnis der Sozialen Arbeit formten und wie kontingent letztlich die Auslotung des Spannungsverhältnisses zwischen Hilfe und Kontrolle im 20. Jahrhundert geblieben ist. Es ist daher zu hoffen, dass die Studie auch in der Sozialen Arbeit breit zur Kenntnis genommen wird, da sie zwingt, über normative Grundlagen dieser Profession nachzudenken und die politische Dimension des Helfens zu reflektieren.

Die Fokussierung auf die biografisch-narrativen Interviews ist allerdings gleichzeitig auch eine gewisse Schwäche der Arbeit, denn bestimmte Fragen lassen sich anhand dieses Quellenmaterials nicht beantworten. So bleibt unklar, in welchem Ausmaß das Wiener Jugendamt Zwangsmaßnahmen anwandte, gerade auch in der Zeit des Nationalsozialismus. Daran lässt sich ein weiterer methodischer Kritikpunkt anschließen: Gudrun Wolfgruber macht nicht transparent, wie sich das Sample ihrer InterviewpartnerInnen zusammensetzt. Wie sind die interviewten Personen bezüglich ihrer politischen, ethnischen und ihrer Generationenzugehörigkeit zu verorten? Was sagt die jeweilige Zugehörigkeit über die Erinnerungen aus, die im Interview preisgegeben werden, und welche Folgerungen sind daraus für die Analyse zu ziehen? Auch in einem – möglicherweise für die Publikation gekürzten – Einleitungsteil wären Reflexionen, wie subjektives Erinnern und subjektive Dimensionen von Sinnstiftungsprozessen aufgedeckt und eingeordnet werden, unabdingbar gewesen.2 Schließlich bleiben die Stimmen der fürsorgebedürftigen Personen im gewählten Forschungsansatz weitgehend stumm. Dies ist nicht als Kritik an der Arbeit zu bewerten, jedoch als Hinweis, dass es nach wie vor vielfältiger methodischer Ansätze und des Einbezugs unterschiedlichen Quellenmaterials – darunter auch Fallakten – bedarf, um das komplexe Verhältnis von Hilfe und Kontrolle in historischer Perspektive differenziert zu fassen. Zuletzt gibt Gudrun Wolfgrubers Arbeit Hinweise, dass auch für die österreichische Soziale Arbeit ein transnationaler Wissenstransfer bedeutsam war. Spannend wäre gewesen, diesen Aspekt durch die Integration einer transnationalen Perspektive stärker auszuleuchten und explizit zu machen, was implizit angesprochen ist: Dass die Praxis des Jugendamtes Wien in komplexer Weise durch sich ändernde kommunale, nationale aber auch internationale Rahmenbedingungen geprägt wurde.

Anmerkungen:
1 Ernst Engelke, Die Wissenschaft Soziale Arbeit. Werdegang und Grundlagen, Freiburg im Breisgau 2003.
2 Vgl. u.a. Kathryn Anderson / Dana C. Jack, Learning to Listen: Interview Techniques and Analyses, in: Sherna Berger Gluck / Daphne Patai (Hrsg.), Women’s Words. The Feminist Practice of Oral History, New York, London 1991, S. 11–26.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Kooperation
Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension