J. Davidson: Kurtisanen und Meeresfrüchte

Titel
Kurtisanen und Meeresfrüchte. Die verzehrenden Leidenschaften im klassischen Athen


Autor(en)
Davidson, James N.
Erschienen
Berlin 1999: Siedler Verlag
Anzahl Seiten
416 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Guido O. Kirner

Wein, Weib und Fisch oder die politische Ökonomie der Leidenschaften

Leidenschaften sind eine Macht über und zwischen Menschen und wo ließe sich dies einleuchtender aufzeigen als bei den Grundbedürfnissen des Essens, Trinkens und der Sexualität. Davidson hat diesbezüglich sieben Jahre an seiner Oxforder Dissertation bei seinem Doktorvater, dem renommierten britischen Althistoriker Oswyn Murray gearbeitet. In seinem ersten Buch untersucht er den zeitgenössischen Diskurs über Begierden, Lüste und Genüsse, doch handelt es sich hier vorweg gesagt keineswegs um antiqarische Kulturgeschichtsschreibung in Form einer deskriptiven Zusammentragung unterhaltsamer Exotika, sondern um eine ebenso plastische wie methodisch originelle Darstellung mit dem Anspruch, durchaus ein weite Perspektive auf die sozialkulturellen Einstellungen der Athener des 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. bieten zu können.

Davidson gelingt dies in gewisser Weise durch einen sozialanthropologischen Holismus, wenn er aufzeigen kann, daß die alten Griechen ihre Freuden des Fleisches nicht nur in allen menschlichen Handlungssphären thematisierten, sondern darin auch Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Moral zusammendachten. Über den Diskurs der Leidenschaften wird somit ein sozialanthropologisches Kontinuum hergestellt, daß in anderen Darstellungsweisen aus theoretischen, methodischen oder inhaltlichen Gründen Trennungen unterliegt. Davidson hält es z.B. für sinnvoller, den öffentlichen und privaten Raum nicht als zwei getrennte Welten zu behandeln, sondern als zwei Extrempunkte einer Skala innerhalb eines einzigen Systems oder Ökonomie von Begehren stimulierenden Reizen (151).

Möglicher Kritik von Althistorikern, die den realhisorischen Wert seiner Quellenbasis mit äußerster Skepsis begegnen würden, wenn er außer auf die attischen Gerichtsreden, den Symposiondialogen von Platon, Xenophon sowie Athenaios und einigen vermischten Schriften vor allem auf die griechischen Komödien rekurriert, beugt er selbst vor, indem er betont, daß es ihm nicht so sehr um die Beschreibung der Freuden des Fleisches selbst gehe, als vielmehr darum, was die Griechen "darüber sagten, wie sie sie darstellten, welche Folgen sie ihnen zuerkannten und wie sie glaubten, daß sie funktioniert." Diskursanalytisch werden somit die antiken Quellen nicht als ein Fenster zur Welt betrachtet, sondern können als ein Stück dieser Welt selbst angesehen werden (17).

Das Buch beginnt mit einer Phänomenologie der Begierden, beschreibt dann die sozialen Räume, Formen, Preise sowie Milieus der Bedürfnisbefriedigung und zeigt schließlich auch ihre gesellschaftspolitische Relevanz auf. Dabei finden sich Vergleiche zwischen athenischen und spartanischen, aber auch makedonischen und persischen Tischgemeinschaften, originelle Interpretationen von Vasenbildern, wertvolle begriffsgeschichtliche Exkurse aber auch prägnante Skizzen zur Sozialstruktur, die hier im einzelnen nicht gewürdigt werden können. Davidson veranschaulicht seine These vom sozialanthropologischen Kontinuum der Leidenschaften, die detailreich mit einer beeindruckenden Vielzahl von Belegen untermauert wird, nicht zuletzt durch bipolare Gegenüberstellungen (Fisch - Fleich, Symposion - Kapeleion, Straßennutte - Edelhetäre, demokratischer Politiker - Tyrann) im Rahmen spezifischer "Ökonomien", d.h. sozialer Konsumformen, wobei er auf kultursoziologische Erklärungsmodelle (Mauss, Simmel, Bourdieu, Baudrillard) zurückgreift. Bereits diese methodisch innovative Verknüpfung von Sozialanthropologie und Diskursanalyse machen das Buch zum Ereignis.

Seine Gegner sind monistische Diskursanalytiker oder Anhänger eines phallozentristischen Feminismus wie Kenneth Dover, die mit ihren "manichäischen Sichtweisen" einer viktorianisch verklemmten Sexauffassung Ausdruck verleihen und schlechte Träume auf die antiken Griechen projizieren, wenn sie Foucaults Modell der Sexualität als Nullsummenspiel einer Machtbeziehung zwischen Penetrierenden und Penetrierten übernehmen (193f., 200f., 288ff.). Foucault sei eben auf dem 'Holzweg' gewesen, wenn er anstatt die politische Freundschaft in sexuellen Begriffen das Problem der Penetration in politischen Begriffen gefaßt habe (313f.). Außerdem wendet sich Davidson gegen Analysen der Eß-, Trink- und Kopulationsgewohnheiten als Klassenantagonismus unter Rekurs auf Veblens Theory of the Leisure Class, die den spezifischen Eigenheiten der athenischen Polis mit ihrer "Klassenblindheit" nicht gerecht werde (247-284). Seine Kritik vollzieht sich jedoch nie in langen theoretischen Exkursen, sondern in historiographisch beispielhafter Weise am Quellenmaterial selbst.

Den Anfang des Buches macht die Schilderung der Leidenschaft für Fisch bei den Athenern. Sein Verzehr konnte zur wahren Obsession werden, die über bloße Feinschmeckerei hinausging. Fisch war teuer, besonders Aal und Thunfisch, - zur Not mußte man sich eben mit eingelegten Sprotten begnügen. Als begehrte Zukost (opson) zur aus Getreide hergestellten Sättingungsgrundlage (sitos), übte Fisch geradezu eine magische Anziehungskraft auf jene berüchtigten Opsophagoi aus, die sich gar nicht erst mit einfachen Nahrungsmitteln aufhielten und die lebensnotwendige Ernährung sogleich zum reinen Genuß machten. Dabei verkehrten sie zumindest aus Sicht moralisierender Philosophen die Hierarchie der Nahrungsmittel. Davidson erklärt die aufgezeigte Fischliebhaberei ex negativo: Sie war nicht durch die Epen Homers ideologisch vorbelastet und im Gegensatz zum Fleisch nicht in den symbolischen Kontext des Opferrituals eingebunden. Fisch war frei von Verpflichtungen, starren Bedeutungen und "verkörperte die frei verfügbare Ware, der Fetisch des privaten Konsumenten", dessen Wert sich ausschließlich nach seiner Beliebtheit und Nachfrage bemaß (41f.).

Ähnlich verhielt es sich beim Wein, wenn er in der Kneipe (kapeleion) zu sich genommen wurde, wo sich bereits "das konsumorientierte, individualistische Trinken" der Moderne ankündigte (75). Hier war der Ort, wo "Weine nach ihrem Preis beurteilt werden, wo das Trinken bequem gemacht und von sozialen Fesseln befreit ist, ein Ort, wo man trinkt, um sich zu betrinken" (81). Diese Art von Weingenuß war das vollkommene Gegenstück zum Symposion, wo Wein in einem speziellen Raum unter Verwendung besonderer Trinkgefäße in einem festgelegten Mischungsverhältnis mit Wasser reihum getrunken werden sollte. Doch auch diese Tisch- und Trinkgemeinschaft mit seiner symbolischen Eigenwelt war vom ungehemmtem Alkoholkonsum bedroht und machte nicht selten seinen eigentlichen Zweck der gepflegt-heiteren Konversation unmöglich. War die kapeleia "eine typische Erscheinung demokratischer Handelsstädte" und besonders bei den 'niederen' Schichten beliebt (79), so haftete dem Sympsoion nicht nur aufgrund seines Rufes als politische Verschwörungsstätte noch immer etwas antidemokratisches und aristokratisches an. Wassertrinker wie Demosthenes konnten Mißtrauen hervorrufen, waren die schöpferischen Kräfte des Weines doch gemeinhin anerkannt.

Auch bei seiner Untersuchung der Prostitution lassen sich bei Davidson zwei Gegensätze ausmachen, die er als Warentausch und Gabentausch voneinander abgrenzt. Bei Straßengängerinnen oder Bordellhuren war Sex eine verkäufliche Ware und ihr Körper mußte je nach Stellung gestaffelt zu festen Preisen auf das offen geäußerte Verlangen des Kunden zur Verfügung stehen. Ganz anders bei den Edel-Hetären bzw. Kurtisanen, die am "labilen ökonomischen Gleichgewicht der Gabe" lebten. Sie boten ihre Dienstleistungen nach anderen Spielregeln an: Anspielungen auf Kunden, Preise und Bezahlung wurden sorgfältig vermieden und durch eine Sprache der Freundschaft und Gefälligkeiten verschleiert. Die verborgene Absicht hinter den zumeist kostbaren Geschenken, die sie während der dauerhafteren Beziehungen mit wohlhabenden Männern von diesen erhielten, wurde von ihr bewußt mißdeutet bzw. verkannt. Die Gegengabe des Liebesaktes geschah nicht auf Abruf, sondern wohlinszeniert nach einer zeitlichen Verzögerung, so daß der Preis der Leidenschaft nicht direkt mit ihrem Vollzug in Verbindung gebracht werden konnte.

Doch war der "Sexmarkt" in Athen weitaus komplexer und Davidson lehnt daher alle modernen aber auch antiken Versuche ab, Ehefrauen, Hetären, Konkubinen, musisch begabte "Partygirls" auf Symposien, im Nebenerwerb spindelnde Bordellhuren und Straßennutten begrifflich oder rechtlich streng kategorial zu trennen sowie spezifischen Statuskriterien zuzuordnen. Nachdem solche Möglichkeiten jeweils von Davidson erörtert werden, bevorzugt er eine "skopische Ökonomie" auf einer Skala Verlangen stimulierender Reize, bei der alle Unterschiede zwischen Frauen in Athen eine Entsprechung auf der Ebene des Betrachtens und ihrer Sichtbarkeit fanden. Dabei erregte die Versuchung und Verführung ein um so größeres und perpetuiertes Verlangen, je raffinierter die Frauen mit der Verhüllung ihrer Reize kokettieren und die Ökonomie der Betrachtung manipulieren konnten.

Davidson faßt dann die drei Bereiche des Essens, Trinkens und der Sexualität in einem allgemeineren Ökonomiemodell der verzehrenden Leidenschaften zusammen (240-242), das m.E. zu den zentralen Passagen des Buches gehört. Da rationales wirtschaftliches Denken "eben nicht der einzige oder gar wichtigste Beweggrund" sei, der hinter einem ökonomischen Diskurs stehe, hält er es für falsch, die finanziellen, moralischen oder geistigen Angelegenheiten getrennt zu behandeln. Die Griechen besaßen im Vergleich zu den absoluten Vorschriften der jüdisch-christlichen Tradition (Du sollst...) eine relative Moralaufassung, die sich in der Maxime 'Von nichts zuviel' (meden agan) zusammenfassen läßt. Geld bot "eine wesentliche Bemesseungsgrundlage für das Ausmaß und die Intensität des Begehrens. Und dank ihrer Austauschbarkeit können auch verschiedene Begierden als Repräsentanten einer allgemeinen Verschwendungssucht oder fehlender Selbstbeherrschung - und weniger als Beispiele besonderer Vorlieben - miteinander verglichen und in Verbindung gebracht werden." Der Preis spiegelt somit nicht wie in der modernen Auffassung Angebot und Nachfrage wieder (wie viele etwas haben wollen), sondern Ausgaben und Wert wurden in Athen "normalerweise als Indikatoren des Verlangens des Käufers angesehen, d.h. wie sehr jemand etwas haben will." Die Betonung der Ausgaben sei "daher weniger ein rationales Abwägen der tatsächlichen Probleme ausschweifenden Essens, Trinkens und Hurens, sondern ein Gradmesser der Selbstbeherrschung."

Haltlose Verschwendung durch Mangel an Selbstbeherrschung als Inbegriff der Lasterhaftigkeit sind aber nicht als rein individuell moralisches bzw. finanzielles Problem aufgefaßt worden, weil sie unter den spezifisch strukturellen Voraussetzungen des demokratischen Athens (auf die ich hier nicht im einzelnen eingehen kann, vgl. dazu 247ff.) auch Auswirkungen auf das Gemeinwohl (ta koina) der Bürger haben konnte. Auch bei der Kritik der Zügellosigkeit des "tyrannischen Lebenstils" eines Politikers ging es nicht darum, daß jemand überdurchschnittlich Genüsse begehrte, sondern seine Begierden - wie etwa bei Alkibiades - einen noch so großen privaten Reichtum übersteigen konnten, der bald zum äußersten des Umsturzes greifen mußte, um von seinen Schulden wegzukommen (337f.). Auch Aischines verleiht dem Ausdruck, wenn er die Lasterhaftigkeit des Timarchos als eine Folgekette schildert, die "zuerst von den eigenen körperlichen Gaben, dann denen der Vorfahren und schließlich von der Stadt selbst zehrten" (294). Deshalb bringt Isokrates die Maßstäbe für einen "Freund des Volkes" auf die gar nicht so unaktuelle Formel: er müsse "Selbstbeherrschung besitzen und bescheiden in seiner Lebensweise sein, damit er wegen seines unschicklichen Aufwandes nicht zum Schaden des Volkes auf Schmiergelder angewiesen ist."

Davidson gelingt es also Politik und Gesellschaft, privaten und öffentlichen Raum, Wirtschaft und Moral durch seinen originellen Ansatz einer mit anthropologischen Modellen arbeitenden Diskursanalyse in einer Weise zu verbinden, die es nahelegen, sein Buch künftig neben bewährten sozial-, wirtschafts-, politik- und ideengeschichtlichen Darstellungen zum klassischen Athen heranzuziehen. Dennoch bleibt nach der Gesamtlektüre des Buches das letztlich ungeklärte Verhältnis zwischen analysiertem Diskurs (d.h. der darin zum Ausdruck kommenden Haltungen und Einstellungen) und den Gegenstand des Diskurses (d.h. die realhistorischen Praktiken) ein Problem. Nicht nur diesbezüglich hätte ein zusammenfassendes Schlußkapitel dem Buch gut getan. Wenn aber momentan häufig von einer kulturalistischen Wende in der Geschichtswissenschaft geredet wird, so findet sich hier ein meisterhaftes Beispiel dafür, daß Kulturgeschichte mit dem Anspruch einer alternativen Gesamtperpektive auf die bekannteste antike Polis, immer auch zugleich Sozialgeschichte ist.

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