Titel
Erfahrung Denken. Hannah Arendts Weg von der Zeitgeschichte zur politischen Theorie


Autor(en)
Althaus, Claudia
Reihe
Formen der Erinnerung 6
Erschienen
Göttingen 2000: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
412 S.
Preis
€ 42,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Annette Vowinckel, Kulturwissenschaftliches Seminar, Humboldt-Universität zu Berlin

Vor einigen Jahren kolportierte Agnes Heller, die Grande Dame der Hannah-Arendt-Forschung, mit viel Ironie das Phänomen, dass die Mode von Zeit zu Zeit alle "wissenschaftlichen 'Termiten' und intellektuellen 'Wanderheuschrecken'" auf einige wenige Texte loslasse, "damit sie von deren Interpretation leben können. Darauf folgen hunderttausende Diplom- und Doktorarbeiten zum gleichen Autor und zum gleichen Text an allen Universitäten auf diesem Planeten, hunderte Konferenzen werden abgehalten, und der Rest ist uns bekannt. Nach ein paar Jahren, vielleicht auch schneller, kommt das ganze zum Stehen, weil der Text intellektuell nichts Neues mehr hergibt, da alles schon einmal gesagt wurde. Das nenne ich hermeneutische Erschöpfung, Übersättigung oder Überlastung."1

Claudia Althaus bearbeitet in ihrer Siegener Dissertation über Hannah Arendts historisches Denken und dessen metahistorische Grundlagen ein Feld, das - sieht man von einigen Aufsätzen ab - bisher weitgehend unbearbeitet blieb. Sie versucht diese Lücke zu schliessen, indem sie das Arendtsche Werk im Hinblick auf die immanente Beziehung von Leben und Werk neu analysiert. Im Zentrum steht dabei die Frage, in welchem Verhältnis Arendts Denken zu ihrer eigenen historischen Erfahrung steht. Dabei werden ideengeschichtliche Aspekte explizit in die zweite Reihe verwiesen; gefragt wird nicht, welche Elemente historischen Denkens Arendt aus welcher Tradition übernommen oder kritisiert hat, sondern wie sie selbst Geschichte in politisches Denken umsetzte.

Zu diesem Zweck fasst die Autorin im ersten Hauptteil verschiedene Stroemungen postmodernen Geschichtsdenkens zusammen, vor deren Hintergrund sie die Arendtsche Herangehensweise neu bewertet. Im zweiten Hauptteil widmet sich Althaus den hermeneutischen Grundlagen des Arendtschen Verstehensbegriffs und entwickelt in Anlehnung daran den Begriff des dialogischen Verstehens, der sich von der traditionellen Hermeneutik darin unterscheidet, dass die Pluralität der Handelnden und Verstehenden explizit einbezogen wird. Im dritten Teil untersucht Althaus die Funktionen der Erinnerung und der Erzählung im (Arendtschen) öffentlichen Raum. Drei Thesen halten die Hauptteile zusammen: Erstens die Annahme, dass Arendts Geschichtsbegriff mit ihrer politischen Theorie insofern eng verknüpft sei, als Geschichte nur plural und dialogisch verstanden werden kann; zweitens die Annahme, dass historische Reflexion für Arendt immer ein 'der-Erfahrung-Nachdenken' sei und sich aufgrund dessen der 'postmodernen Beliebigkeit' qua Definition entziehe, und drittens die Behauptung, Arendts eigenes Werk sei untrennbar mit ihren eigenen zeitgeschichtlichen Erfahrungen verbunden und vor allem durch die jüdische Tradition geprägt.

Problematisch ist dabei zunächst die unscharfe Definition des Begriffs Erfahrung. Einerseits soll Erfahrung immer individuell sein (S. 238); andererseits spricht Althaus von einem "über Generationen hin überlieferten Erfahrungsschatz, auf den man bis dato in Krisen- und Pogromzeiten zurückgreifen konnte" (S. 263). Auch bedient sie sich des Koselleckschen Begriffes des 'Erwartungsraumes', in dem sich sowohl Individuen als auch Gruppen bewegen können. Ähnlich problematisch ist der Rekurs auf den Arendtschen Begriff des Denkens. Mit ihrer Auslegung des Denkens als Nach-Denken und damit als 'Erinnern des Gewesenen' (S. 87) übergeht Althaus zahlreiche Aussagen Arendt, die die Vergangenheitsgebundenheit des Denkens erheblich relativieren. Zwar identifizierte Arendt gelegentlich das Wollen als auf die Zukunft und das Urteilen als auf die Gegenwart bezogen, doch wird auch über Vergangenheit geurteilt und über Zukunft nachgedacht. Der Zusammenhang zwischen dem Denken und der Geschichte ist vielmehr umgekehrt: Vergangenheit ist nicht der vorrangige Gegenstand des Denkens, sondern das Denken ist (neben dem Urteilen) einer der Modi, in denen Verarbeitung von Vergangenheit stattfindet.

Darüber hinaus entwickelt Althaus einige Argumente, die Widerspruch herausfordern. Dies gilt vor allem für ihre Verwendung des Koselleckschen Begriffspaares 'Erfahrungsraum und Erwartungshorizont', für die ideengeschichtliche Einbindung ihrer Hauptargumente und für die These, Arendt sei mit ihrem Geschichtsdenken vor allem der jüdischen Tradition verhaftet.

Problematisch erscheint zunächst der Versuch, Reinhart Kosellecks Begriffspaar von 'Erfahrungsraum und Erwartungshorizont' als Übersetzungshilfe für Arendts historisches Denken zu nutzen. Die 'Lücke zwischen dem Erfahrungsraum der Menschen und dem daraus entwickelten Erwartungshorizont vergleicht Althaus mit dem von Arendt so genannten 'Abgrund' zwischen Vergangenheit und Zukunft. Während aber Althaus das Begriffspaar auf konkrete historische Situationen anwendet, spricht Arendt von einem existenziellen Abgrund, in dem nicht Zeiterfahrung verarbeitet, sondern die Zeitlichkeit aufgehoben wird. In diesem Abgrund wird das Denken zum 'Raum', in dem sich Wahrheiten 'enthüllen können; er ist "the only region perhaps where truth eventually will appear."2

Die Parallelen zu Walter Benjamins 'Geschichtsphilosophischen Thesen', die Althaus in diesem Zusammenhang erwähnt, dürften ihren gemeinsamen Nenner in der Prägung Arendts und Benjamins durch Heidegger haben; allerdings gab Arendt - ebenso wie Benjamin - dem Heideggerschen Begriff der Zeitlichkeit eine ganz neue Stossrichtung. So wird der Raum zwischen Vergangenheit und Zukunft nicht hermeneutisch, sondern durch Visualisierung, also durch Aufhebung des Zeitlichen, erfasst. Nur "als Bild, das auf Nimmerwiedersehen im Augenblick seiner Erkennbarkeit eben aufblitzt, ist die Vergangenheit festzuhalten."3 Mit der historisch beschreibbaren Lücke zwischen 'Erwartungsraum und Erfahrungshorizont' hat dieser existenzielle Abgrund, in dem das 'Schauen der Wahrheit' vonstatten geht, wenig zu tun.

Dass Althaus diese offensichtlich von Heidegger inspirierten Feinheiten übergeht, ist darauf zurückzuführen, dass sie den ideengeschichtlichen Kontext der Arendtschen Schriften stark vernachlässigt. Da, wo sie ansatzweise doch versucht, Arendt in geistige Traditionen einzuordnen, beschränkt sie sich auf die Einbeziehung jüdischer Geistesgeschichte; dabei reicht sie jedoch über die Reproduktion von Stereotypen kaum hinaus. Tatsächlich kann man Sätze, die beginnen mit den Worten: "Das jüdische Denken, sollte man es in einem Satz zusammenfassen, zeichnet sich vor allem durch eines aus ..." unmöglich zu einem sinnvollen Abschluss bringen, und folglich wird es nun abenteuerlich. Laut Althaus ist es eine 'kontrafaktische Sicht auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft', die jüdisches Denken auszeichnet: "Nach hebräischer Vorstellung lernt der gegen seinen Willen in die Geschichte geworfene Mensch seine historische Existenz trotz des Leids, das sie mit sich bringt, allmählich zu bejahen und entdeckt auf diesem mühsamen Weg auch, dass Gott sich im Lauf der Geschichte offenbart. In säkularer Form und in orthodoxen Kreisen hat dieser Gedanke überdauert." (S. 298)

Glaubt man Althaus, so findet sich gerade dieser Gedanke bei Arendt wieder. Allerdings vermag sie nicht plausibel zu erklären, warum gerade 'die jüdische Tradition' Arendt so sehr geprägt haben soll; immerhin studierte diese Philosophie, Griechisch und protestantische Theologie (!) und stammte aus einem säkularisierten und sozialdemokratisch orientierten Haushalt, in dem am Esstisch nicht Talmud und Thora, sondern Schiller und Goethe zitiert wurden. Dass sie, bevor sie noch ihre Erfahrungen mit dem 20. Jahrhundert gemacht hatte, bereits eine promovierte und fast habilitierte Philosophin war, dass sie sich einen grossen Teil der klassischen abendländischen Bildung längst angeeignet hatte, bevor sie von den Umständen gezwungen wurde, sich der Politik zuzuwenden, wird von Althaus nicht berücksichtigt, ebensowenig die von Arendt 1964 in einem Interview gemachte Bemerkung: "wenn ich überhaupt aus etwas 'hervorgegangen' bin, dann aus der deutschen Philosophie". 4

Die einseitige Interpretation Arendts als 'jüdische Denkerin' zieht so manches Missverständnis nach sich. Hatte Althaus zuvor noch behauptet, Arendts 'Geschichtsdenken' sei mit dem Konzept der Ereignisgeschichte nicht vereinbar (S. 185), heisst es nun plötzlich: "Für das jüdische Verständnis von Geschichte - sei es in religiöser als auch in nicht-religiöser Hinsicht - gilt, dass nicht eine Chronologie von geschichtlichem Geschehen wichtig ist, sondern die Hervorhebung bestimmter Ereignisse." (S. 293) Richtiggehend falsch ist schliesslich Althaus' These, dass es Arendt - ebenso wie Dan Diner (!) - gerade angesichts der Sinnlosigkeit des Holocaust darum gehe, "einen 'Sinn' in der Geschichte zu formulieren. Das heisst, der Zwang, auch dieser Geschichte einen Sinn abzugewinnen, und sei er noch so brüchig, 'kann als letzter vorhandener Reflex der Bedingungen des jüdischen Gedächtnisses in seiner säkularisierten Variante betrachtet werden. ...'" (S. 293).5 Was Arendt und Diner tatsächlich verbindet, ist gerade die Diagnose der Sinnentleertheit des Holocaust: Auschwitz als black box ist nicht mehr mit irgendeinem Sinn zu füllen (Diner); Auschwitz ist das letzte Indiz dafür, dass Geschichte keinem sinnvollen Gesetz folgt (Arendt).

Die Einseitigkeit der Interpretation von Claudia Althaus scheint auf einem falsch verstandenen jüdischen Essenzialismus zu basieren, von dem gleichwohl auch manch anderer vereinnahmt wird (Avishai Margalit z. B. wird als 'säkularer) jüdischer Philosoph' vorgestellt (S. 295, Anm. 222) - wer würde wohl Jürgen Habermas als,(säkularen) christlichen Philosophen' bezeichnen?). Schliesslich wird Arendt dann noch in eine "Linie mit jüdischen Denkern wie Walter Benjamin, Franz Rosenzweig und Gershom Scholem" gestellt, denen in ähnlicher Weise die Erschütterungen des 20. Jahrhunderts - hier vor allem des Ersten Weltkrieges - zum Anlass für Reflexionen über die Geschichte geworden sind" (S. 371). Der Erste Weltkrieg: eine 'jüdische Erfahrung'?

Obwohl das Buch 'Erfahrung denken' eine Analyse Arendtscher Metahistorie verspricht, besteht es doch in weiten Teilen aus Paraphrasen der Arendtschen Werke, wobei gerade dasjenige historische Buch, das in der Öffentlichkeit am breitesten diskutiert wurde, nämlich 'Eichmann in Jerusalem', weitgehend ausser acht gelassen wird. Zwar ist es das Verdienst der Autorin, den Nachlass Arendts in die Darstellung einbezogen zu haben, doch hatte dies zur Folge, dass häufig eindeutige Stellen aus Arendts Publikationen durch zweitrangige ungedruckte Zitate ersetzt wurden.

Arendts Satz: "Was mich vor allem interessiert, ist die Frage der Geschichte" darf vor diesem Hintergrund wohl umgeschrieben werden in: 'Was Althaus vor allem interessierte, war die Frage der Geschichte'. Das vollständige Zitat aus einem Brief Arendts an Carl J. Friedrich lautet nämlich: "Was mich vor allem interessiert, ist die Frage der Geschichte, und nicht so sehr die Frage, welche Rolle die Juden für das geschichtliche Bewusstsein spielen. ... [Hat] die hebräische Religion mehr vorgezeichnet als Anfang und Ende? ... Ist es ein Zufall, dass gerade die Juden nach der Zerstörung Jerusalems in der Diaspora eine eigentümliche Ungeschichtlichkeit entwickelt haben, die sie alle Ereignisse überdauern lehrte, weil sie in der Erinnerung an eine äusserste Vergangenheit und der Hoffnung auf das Kommen des Messias in einer äussersten Zukunft lebten?" 6

Geschichte war nicht Arendts "Schicksal, .. ihre Passion" (S. 368). Geschichte war fuer Arendt ein Feld, auf dem vor allem viel Unfug getrieben wurde: Die Historiker des 19. Jahrhunderts bezeichnete sie als Eunuchen, sie kritisierte alle historischen Konzeptionen von Geschichte mit Ausnahme der griechischen und der römischen, ja sie hegte eine geradezu idiosynkratische Abneigung gegen Hegel und die gesamte moderne Geschichtsphilosophie. In keinem Fall trifft es zu, dass die "Erinnerung an die Vergangenheit, die Bildung von Identität sowie das Erzählen von Geschichten ... für Arendt die einzig noch möglichen Garanten eines funktionierenden politischen Zusammenlebens in Freiheit" waren (S. 374). Garanten für ein Leben in Freiheit waren für sie die Verfassung und die Gewährleistung von Bürgerrechten bzw. des Rechts auf Staatsbürgerschaft. Die Behauptung, dass für Arendt das politische Handeln "seine Bedeutung und seine Sinnhaftigkeit nur in Verbindung mit (öffentlichem) Erzählen und Erinnern" erhalte (S. 338), fusst auf einer schlichten Verdrehung der Zusammenhänge. Bei Arendt ist es umgekehrt das Erzählen, das nicht ohne Handlungen auskommt. Der Sinn politischen Handelns hingegen besteht nicht darin, überliefert zu werden, sondern einen Raum der Freiheit zu schaffen. Widersprüche innerhalb des Arendtschen Geschichtsdenkens aufzuzeigen, deren geistesgeschichtlichen Hintergrund zu erhellen, ihre Bedeutung für Arendts Gesamtwerk zu eruieren und daraus Schlüsse auf die Möglichkeit und Wirklichkeit von Geschichtsschreibung zu ziehen, wäre Althaus' Aufgabe gewesen. Dieser Aufgabe ist sie kaum gerecht geworden.

Anmerkungen:
1 Agnes Heller, Warum Hannah Arendt gerade heute?, in: Hans-Peter Burmeister und Christoph Huettig (Hg.), Die Welt des Politischen. Hannah Arendts Anstoesse zur gegenwaertigen politischen Theorie, Loccum 1996, S. 12, zitiert nach Althaus, S. 16.
2 Hannah Arendt, Between Past and Future, New York (The Viking Press) 1969, S. 14.
3 Walter Benjamin, Geschichtsphilosophische Thesen: Ueber den Begriff der Geschichte, in: Gesammelte Werke Bd. 1/2, Frankfurt am Main 1980, S. 695 und 703f.
4 Hannah Arendt und Gershom Scholem, Ein Briefwechsel ueber Hannah Arendts Buch 'Eichmann in Jerusalem', in: Neue Zuercher Zeitung, 20.10.1965, S. 5.
5 Althaus zitiert hier Christoph Muenz, Der Welt ein Gedaechtnis geben. Geschichtstheologisches Denken im Judentum nach Ausschwitz, Guetersloh 1996 (2. Aufl.), S. 432.
6 Hannah Arendt an Carl Joachim Friedrich, 13. 4. 1953, Library of Congress, Arendt Papers Cont. 9, Dok.-Nr. 006216, bei Althaus S. 368.

Kommentare

Von Knobloch, Clemens 18.07.2001

Hannah Arendt und die Geister
Anmerkungen zu Annette Vowinckels Rezension von Claudia Althaus: Erfahrung denken. Hannah Arendts Weg von der Zeitgeschichte zur politischen Theorie (3.5.2001)

Von
Clemens Knobloch, Universitaet Siegen
Email: <knobloch@germanistik.uni-siegen.d400.de>

Viele sind es, die sich am Werk Hannah Arendts akademisch zu waermen versuchen. Die Rezensentin ist durchaus empfaenglich fuer die merkwuerdigen Konsequenzen dieser Konstellation. Das belegt ihr (auch selbstkritisch interpretierbarer) Verweis auf Agnes Hellers huebsche und treffende Bemerkung ueber die wissenschaftlichen 'Termiten' und intellektuellen 'Wanderheuschrecken', die sich auf tagespolitisch aktuelle Werke stuerzen, um sie so lange zu zernagen, bis davon nur noch ein "Diskurs" uebrig ist. Die Arendt-Philologie bietet weiss Gott reichlich Stoff fuer folgenlose Rechthabereien. - Und doch scheint diese sympathische Selbstrelativierung vergessen, sobald Annette Vowinckel die gestrenge Rezensentenhaltung eingenommen hat: Wenn zu viele sich um einen Futternapf draengen, dann wird der Impuls, die laestige Konkurrenz wegzubeissen, offenbar unwiderstehlich. Denn wirklich sicher ist nur eines: dass nicht alle satt werden koennen am Leben und Werk Hannah Arendts.

Einigermassen befremdend ist eine gewisse Widerspruechlichkeit in der Argumentation der Rezensentin: Einerseits notiert sie vorab die begruendete Abstinenz von Claudia Althaus gegenueber geistesgeschichtlichen Herleitungen, andererseits moniert sie in der Hauptsache die Fehlerhaftigkeit just dieser Herleitungen. Man moechte da vermuten, dass die Rezensentin einfach durch eine geistesgeschichtliche Brille in die Welt schaut und dass es ihr schwer faellt, diese Brille notfalls auch einmal abzunehmen. Regelrecht skurril wirkt in diesem Zusammenhang der Vorwurf des "juedischen Essenzialismus" auf jeden, der die rezensierte Arbeit gelesen hat. Claudia Althaus wird nicht muede, auf den zugeschriebenen Charakter der "juedischen" Identitaet Hannah Arendts hinzuweisen: "Wenn man als Jude angegriffen ist, muss man sich als Jude verteidigen", so lautet der oft zitierte Satz aus dem Gaus-Interview (S. 21). Der Hinweis der Rezensentin, im Elternhaus Hannah Arendts seien nicht Talmud und Thora, sondern Schiller und Goethe zitiert worden, rennt darum mit viel Getoese eine weit geoeffnete Tuere ein.

Von diesem und aehnlichem Charakter sind denn auch die Monita en detail: "offensichtlich von Heidegger inspirierte Feinheiten", die uebersehen werden, Vernachlaessigung geistesgeschichtlicher Kontexte. All das laeuft auf die einigermassen merkwuerdige, aber akademisch ebenso verbreitete wie naheliegende Ansicht hinaus, ein origineller Kopf sei grundsaetzlich und ausschliesslich das Produkt seiner - Lektueren! Es ist dies eine Ansicht, mit der man nicht einmal in der eigentlichen Theoriegeschichte weit kommt, weil es immer die Resonanz im Erfahrungs- und Erwartungsraum des Publikums ist, die einer Theorie Leben einhaucht (oder eben nicht), und nicht die Theorie selbst. Davon, von den Wechselwirkungen zwischen Zeitgeschichte und Geistesgeschichte, handelt der rezensierte Text, und davon spricht die Rezensentin mit keinem Wort.

Unter diesem Gesichtspunkt ist die Aufregung darueber, ob die gemeinsame Heldin staerker gepraegt sei durch die Traditionen der deutschen Geistes- und Bildungskultur oder durch die Traditionen der juedischen Intellektualitaet, doch recht seltsam. Gegen einen jeden derartigen "Disput" ist zu erinnern, dass es doch wohl die Originalitaet von Hannah Arendt ist, die es rechtfertigt, dass man sich mit ihr beschaeftigt. Und da wirkt es merkwuerdig, wenn man darueber streitet, welcher "historische" Faktor diese Originalitaet am wirkungsvollsten einschraenkt! Natuerlich ist Arendt ein Spaetprodukt des deutschen Bildungsbuergertums, dessen Traditionen sie bis zum gewaltsamen Traditionsbruch in sich aufgesogen hatte. Aber wer interessierte sich heute noch fuer sie, wenn sie nur das waere. Und ganz Analoges laesst sich auch fuer die intellektuellen und geistigen Traditionen des Judentums behaupten. Wirklich interessant ist auch bei Hannah Arendt der Sprung, der Traditionsbruch, das, was ihr Denken und ihr Werk radikal von beiden Traditionen absetzt. Gleich, von wo sie gesprungen ist, interessant ist, wo sie gelandet ist. Und dieser Ort ist von den Traditionen des deutschen Bildungsbuergertums sicherlich ebenso weit entfernt wie von den Traditionen der juedischen Intellektualitaet.

Lebenslang hat Hannah Arendt angeschrieben gegen die Versuche einer geistesgeschichtlichen "Herleitung" des Nationalsozialismus aus dem Irrationalismus der nachhegelschen deutschen Philosophie oder aus sonstigen "Quellen" der Geistesgeschichte. Immer mitgemeint, aber selten genannt ist da Georg Lukacs' "Zerstoerung der Vernunft". Die Freiheit, von der Arendt so viel gehalten hat, besteht immer darin, auch etwas tun zu koennen, was durch die "geistige" Tradition nicht wirklich gedeckt ist. Das sollte man auch insofern fuer eine Selbstbeschreibung nehmen, als Hannah Arendts Raeteenthusiasmus mit der "apolitischen Politik" der deutschen Spaetmandarine ebenso radikal bricht wie mit der etatistischen Juedischen Tradition, die kurzsichtigerweise im (vor-massendemokratischen) Staat eine Art Rueckversicherung gegen den gesellschaftlichen Antisemitismus zu erkennen glaubte. Wie ja auch die deutschen Mandarine mehrheitlich auf den Staat gesetzt haben, als es um ihre bedrohten Vorrechte und Positionen ging. Man koennte sogar argumentieren - und das waere ein Typus von "Geistesgeschichte", zu dem ich mich auch verstehen koennte -, dass der naive Etatismus so etwas gewesen ist wie der semantisch kleinste gemeinsame Nenner zwischen der geistigen oder "mentalen" Tradition der deutschen Mandarine und der juedischen Intellektualitaet - weshalb Hannah Arendt gleich mehrere Motive gehabt haette, mit ihm zu brechen. Und dann wuerde restlos klar, dass nicht nur der Nationalsozialismus "geistesgeschichtlich" vollkommen unerklaerbar ist und bleibt, sondern auch Hannah Arendts originelles Verstaendnis dieser historischen Epoche.

Die Art und Weise freilich, wie die Rezensentin Claudia Althaus Vertrautheit selbst mit dem kleinen Einmaleins der Hannah-Arendt-Kunde abzusprechen versucht, legt eben doch einen anderen Schluss nahe: Hier wildert jemand in einem Jagdrevier, das die Rezensentin fuer sich selbst abgesteckt hat. Und gibt es nicht ein untruegliches Erkennungszeichen fuer die wissenschaftlichen 'Termiten' und intellektuellen 'Wanderheuschrecken', von denen Agnes Heller mit weiser Selbstironie spricht? Man erkennt sie daran, dass ihr Interesse am "Objekt" regelmaessig die Form der Frage annimmt, was Hannah Arendt "eigentlich" gedacht und was sie "eigentlich" gepraegt habe. Weil man nur auf diesem Feld so herrlich rechthaben kann. Interessant ist aber nicht, was man im Werk von Hannah Arendt suchen und womoeglich auch finden kann, sondern was man vermittels dieses Werks in unserer politischen Wirklichkeit wahrzunehmen vermag, das sonst verborgen bliebe. Als politische Theorie gehoert Hannah Arendts Werk in den Werkzeugkasten einer jeden Betrachtung unserer massendemokratischen Verhaeltnisse. Handelte es sich dagegen bloss noch um einen Fall fuer das sezierende Geschaeft der Archivare, dann waere auch diesen eine Warnung vor der "Geistesgeschichte" mit auf den Weg zu geben, und zwar am besten mit Aannah Arendts eigenen Worten: Das eigentlich Neue und Unerhoerte politischer Umbrueche hat die fatale Gewohnheit, sich hinter vertrauten Terminologien und uralten "geistigen" Traditionen zu verbergen.


Von Vowinckel, Annette18.07.2001

Replik auf Clemens Knoblochs Replik auf meine Rezension von Claudia Althaus, Erfahrung Denken. Hannah Arendts Weg von der Zeitgeschichte zur politischen Theorie, Goettingen 2000.

Von Annette Vowinckel, Kulturwissenschaftliches Seminar der Humboldt-Universitaet Berlin
Email: <milena@berlin.snafu.de>

Kritisiert man in einem angelsaechsischen Land ein Buch, so loest man mit etwas Glueck eine engagierte Debatte aus. Kritisiert man in Deutschland ein Buch, so wird man mit etwas Pech der Ketzerei, der Rechthaberei, gar des Absteckens von Jagdrevieren bezichtigt, die man angeblich fuer sich reservieren wolle. Diese Art von Vorwuerfen sagt mehr ueber den aus, der sie macht, als ueber den, den sie treffen sollen. So betrachtet ist Clemens Knoblochs Replik auf meine Rezension weniger fuer die Arendt-Forschung, als fuer deren noch zu schreibende Wissenschaftsgeschichte von Interesse.

Zur Erinnerung: Ich hatte in meiner Rezension kritisiert, dass Claudia Althaus den geistesgeschichtlichen Hintergrund des Arendtschen Werkes nicht hinreichend beruecksichtigt und dass sie infolgedessen meiner Meinung nach irreleitende Argumente entwickelt. Dabei handelt es sich zunaechst um die These, der von Arendt so bezeichnete Abgrund zwischen Vergangenheit und Zukunft weise strukturelle Aehnlichkeit mit dem von Reinhart Koselleck beschriebenen Raum zwischen Erwartungsraum und Erfahrungsraum und Erwartungshorizont. Dieser Vergleich ist vielleicht nicht falsch, aber er vernachlaessigt die ebenso wichtige Deutung, derzufolge dieser Zwischenraume ein existenzieller Abgrund ist, in dem die Zeit 'eingefroren' und die Wahrheit 'entborgen' wird.

Ein weiterer Kritikpunkt betraf die Art und Weise der Einbeziehung einer von Althaus leider nur ungenau definierten juedischen Tradition. Althaus' These, dass diese Tradition (sollte es sie im Singular denn geben) Arendt massgeblicher gepraegt habe als die Tradition der deutschen Philosophie(bzw. Philosophien), zeugt meiner Meinung nach von einem merkwuerdigen juedischen Essentialismus: Mehr als allen anderen historisch gewachsenen Gruppen wird den Juden eine Praegung durch ihre Herkunft zugeschrieben, die keiner weiteren Begruendung bedarf. Clemens Knobloch fuehrt hier ins Feld, Althaus habe wiederholt auf den "zugeschriebenen Charakter der 'juedischen' Identitaet" Hannah Arendts hingewiesen. Dies aendert nichts an der Tatsache, dass Althaus allein hinsichtlich der juedischen Tradition - ohne weitere Begruendung - die Geistesgeschichte bemueht, die zu bemuehen sie zuvor fuer ueberfluessig gehalten hatte. Mag sein, dass sie es 'nicht so gemeint hat', dass ihr dieser Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit in der Methodik nicht aufgefallen ist. In diesem Fall waere ein klaerendes Wort von Claudia Althaus selbst angebracht.

Einige weitere Kritikpunkte (z. B. die Frage, warum das Eichmann-Buch bei Althaus so gut wie keine Rolle spielt), werden von Knobloch nicht thematisiert. Der einzige Punkt, auf den er in extenso eingeht, ist die Frage der grundsaetzlichen Legitimation von Geistesgeschichte. Dass Knobloch von Geistesgeschichte nichts haelt, ist offensichtlich, setzt er doch schon das Wort in Anfuehrungszeichen wie derzeit die Springer-Presse die DDR. Mehr noch: Der Frage nach Arendts geistiger Herkunft nachzugehen lehnt er ab -mit der Begruendung, Arendt sei so originell, dass sich solche Fragen gar nicht stellten. Unterstreichend weist er darauf hin, dass Arendt selbst der Geistesgeschichte nicht allzu viel abgewinnen konnte (was einen nabhaengigen Denker keineswegs daran hindern sollte, sie dennoch zu konsultieren). Dass Geistesgeschichte niemals hinreichend ein individuelles Werk erklaert, liegt auf der Hand. Klar ist aber auch, dass sie ein legitimes Werkzeug fuer die Erfassung des Umfelds ist, in dem ein Mensch intellektuell gepraegt wurde.

Niemand wird bestreiten, dass Arendts Werk deutliche Spuren ihres engen Kontakts zu Heidegger aufweist - auch oder vielleicht gerade da, wo sie sich von ihm distanzierte und eigene Wege ging. Angesichts der Vehemenz, mit der Knobloch in Arendts Namen die Geistesgeschichte verteufelt, sollte man glauben, es sei nicht die "gemeinsame Heldin" von Claudia Althaus und mir, sondern Knoblochs eigene Heldin, an deren Lack da gekratzt wird. Ein wenig mehr Sachlichkeit und ein wenig weniger Hagiographie taeten hier nur gut.


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