P. Carson: East India Company and Religion

Cover
Titel
The East India Company and Religion, 1698–1858. Worlds of the East India Company


Autor(en)
Carson, Penelope
Erschienen
Woodbridge 2012: Boydell & Brewer
Anzahl Seiten
288 S.
Preis
€ 97,83
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jürgen G. Nagel, Geschichte Europas in der Welt, FernUniversität in Hagen

Die Ostindien-Kompanien, die vom 17. bis zum frühen 19. Jahrhundert die europäisch-asiatischen Beziehungen prägten, waren in erster Linie Handelsunternehmen und in zweiter Linie imperiale Machtapparate. Genau so werden sie in der Regel von der Fachwissenschaft betrachtet. Es liegt in der Natur der Sache, so die gängige, wenn auch zumeist unausgesprochene Annahme, dass diese Kompanien sich recht weit entfernt von den Sphären des Religiösen bewegten. Mehr als für alle anderen wird dies für die englische East India Company (EIC) unterstellt. Verstand sich die niederländische Verenigde Oostindische Compagnie (VOC) zumindest als Schutzherr des calvinistischen Protestantismus in Asien, wehrte doch ihre englische Konkurrenz jegliche Christianisierungsbemühungen zunächst grundsätzlich ab. Dies ändert sich seit dem späten 18. Jahrhundert. Christliche (Zivilisierungs-)Mission wurde zum relevanten Thema im Einflussbereich der EIC. Diese hatte sich schon zuvor, aller Konzentration auf den Handel zum Trotz, religiösen Fragen widmen müssen. Als Kompanie aus einem christlichen Land – und somit selbst als christliches Unternehmen – hatte sie sich auch um die religiösen Belange ihrer christlichen Bediensteten zu kümmern. Darüber hinaus musste sie sich schon früh damit auseinandersetzen, dass sie wirtschaftliche und politische Beziehungen zu Hindus oder Muslimen unterhielt.

Diese unverkennbare Tatsache nimmt die britische Historikerin Penelope Carson in ihrer Studie The East India Company and Religion zum Anlass, die Geschichte der EIC in ihrer Hoch- und Spätphase als eine Geschichte religiöser Diplomatie neu zu schreiben. Vor allem schreibt sie ein Buch über Diskurse, über politische Strategien und Entscheidungen. Sie bleibt damit innerhalb der Institution und innerhalb der Bahnen eines Diskurses um die Company, wie er vor allem in England geführt wurde. Obschon die EIC bereits 1698 erstmals zu religiöser Rücksichtnahme verpflichtet worden war, als die obligatorische Einstellung von Pfarrern für die Bediensteten eingeführt wurde, stellen die Erneuerungen der Charter in den Jahren 1793, 1813 und 1833 den Dreh- und Angelpunkt der Schilderung dar. Während des 18. Jahrhunderts waren die Stimmen in England, die eine Verpflichtung der Kompanie auf die Verbreitung des Christentums forderten, immer lauter geworden. Für die Verhandlungen der Charter seit Ende des 18. Jahrhunderts bildeten sie die mittlerweile unüberhörbare Begleitmusik. In die Fassung von 1813 flossen sie in Gestalt der sogenannten „pious clause“ ein, die den Weg für Missionare in den Einflussbereich der Kompanie endgültig freimachen sollte.

Dass seit Ende des 18. Jahrhunderts die Religion für die EIC eine wesentlich größere Rolle als zuvor spielte, stellt Penelope Carson in ihrer Studie nachdrücklich unter Beweis. Sie verfolgt das Ziel zu zeigen, dass die Kompanie auch als Institution nicht religionsfeindlich war, sich aber der Notwendigkeit gegenüber sah, religiöse Vorstellungen in ihrem Inneren mit den politischen Notwendigkeiten in ihrem Operationsfeld auszutarieren. Dabei zeichnet sie das Bild einer Einrichtung der Toleranz und der religiösen Nicht-Einmischung. Deutlich wird ihre pragmatische Ausrichtung in der Konfrontation mit hinduistischen, muslimischen, jainistischen und nicht zuletzt christlichen Denkweisen. Ebenfalls deutlich wird der zunehmende Druck aus evangelikalen bzw. kirchlichen Kreisen, der sich nicht nur in den ausführlich beleuchteten Debatten um die Kompanie in ihrer Heimat bemerkbar machte, sondern schließlich unter Generalgouverneur William Bentinck die bisherige Toleranzpolitik beendete und eine Politik der christlichen Prioritätensetzung einleitete. Im Gedanken einer christlichen Zivilisierungsmission wurzelnde Maßnahmen gegen indische Institute wie die legendäre Witwenverbrennung wurden ergriffen. Und christliche Missionsgesellschaften nahmen in großem Umfang ihre Arbeit in Indien auf.

Angesichts des Perspektivwechsels, den Penelope Carson nicht nur anstrebt, sondern auch konsequent in die Tat umsetzt, hätte das Buch durchaus einen größeren theoretischen Tiefgang vertragen. Überlegungen, die sich mit den Forschungsdebatten um Edward Saids Orientalismus-These oder mit postkolonialen Konzepten auseinandersetzen, sucht man vergebens. Insbesondere die komplexen Beziehungen der Engländer zu den religiösen Systemen Indiens und ihren Ritualen hätten dadurch mit größerer Tiefenschärfe und insbesondere aus einem weniger eurozentrischen Blickwinkel analysiert werden können – zumal die post colonial studies in diesem Bereich sicherlich zum aktuellen Forschungsstand gehören.

Eurozentrik darf jedoch nicht zu einem Generalvorwurf gegen die Studie erhoben werden. Der europäische Blickwinkel ist vielmehr der – völlig legitimen – Ausrichtung des Untersuchungsgegenstandes geschuldet. Indiens Religionen kommen durchaus zu ihrem Recht, so sie denn für die Entwicklung der Religionspolitik innerhalb der EIC von Bedeutung waren. Hinduistische Rituale sind dann von Bedeutung, wenn sie in der Debatte gegen die religiöse Toleranzpolitik der EIC im 18. Jahrhundert verwendet oder in deren Umkehrung im 19. Jahrhundert von der Kompanie bekämpft wurden. Letztendlich liegt der Fokus eindeutig auf der englischen Debatte, die wiederum vorrangig um die Frage der christlichen Mission im Machtbereich der EIC kreiste. Insofern ist der Titel des Bandes in seiner sehr allgemeinen Formulierung etwas irreführend. Genauso wie aus ihm nicht hervorgeht, dass es eigentlich ausschließlich um Indien geht. Beides ist keineswegs ein Fehler, doch sollte man es vor dem Griff zum Buch wissen.

Denn was Penelope Carson bietet, tut sie akribisch, angemessen detailliert und anschaulich. Es handelt sich um eine gründliche Quellenstudie, die ihre Argumentation vorrangig aus der relevanten Publizistik der Zeit und aus reichen Archivbeständen in Großbritannien schöpft. Daraus erwächst einerseits eine detailverliebte Schilderung des Fortgangs zentraler zeitgenössischer Debatten, andererseits eine nicht weniger genaue Darstellung einzelner Schlüsselereignisse, welche die Gliederung des Bandes maßgeblich mitbestimmen. So wird die Revolte hinduistischer Kompaniesoldaten in Vellore 1806 gegen die Europäisierung ihrer Uniformen ausführlich als Schlüsselereignis für alle späteren Widerstandsformen gegen religiös konnotierte Maßnahmen unter die Lupe genommen. So werden die Reformen von William Bentinck als Kern des Politikwandels vorgestellt. So wird die Entstehung neuer religiöse Vereinigungen in Indien als Reaktion genau darauf interpretiert. Damit entwickelt die Autorin einen Erzählbogen, der letztlich in der Great Mutiny von 1857 kulminiert, in der sich auch und gerade die aufgebauten religiösen Spannungen entluden. Die Einmischung in religiöse Belange führte schließlich, darauf läuft die Argumentation hinaus, in letzter Konsequenz zum Untergang der EIC.

Viele dieser einzelnen Geschehnisse sind der Forschung wohlvertraut. Penelope Carsons originärer Beitrag zur Forschung liegt vor allem in der Perspektive. Sie macht eindrücklich deutlich, dass eine Konzentration auf Handel und Politik nicht die ganze Geschichte erzählt; sie entwirft, wie es Tillmann W. Nechtman in seiner Rezension für H-Net formuliert hat, ein neues Narrativ für die Geschichte der EIC.1 Auch wenn man sich die eine oder andere bessere Einbettung gewünscht hätte, bringt sie auf diese Weise die Forschung zur EIC voran: ein empfehlenswertes Buch.

Anmerkung:
1 Vgl. Tillman W. Nechtman. Review of Carson, Penelope, The East India Company and Religion, 1698-1858. H-Albion, H-Net Reviews. June, 2013, <http://www.h-net.org/reviews/showrev.php?id=39092> (20.1.2016).