A. Ramsbrock u.a. (Hrsg.): Fotografien im 20. Jahrhundert

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Titel
Fotografien im 20. Jahrhundert. Vermittlung und Verbreitung


Herausgeber
Ramsbrock, Annelie; Vowinckel, Annette; Zierenberg, Malte
Erschienen
Göttingen 2013: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
301 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Elke Grittmann, Institut für Ästhetik und Kultur Digitaler Medien, Leuphana Universität Lüneburg

Mit den beiden Bänden zum „Jahrhundert der Bilder“ hat der Historiker Gerhard Paul vor einigen Jahren einen umfassenden und viel beachteten „Bilderatlas“ von 1900 bis heute vorgelegt.1 Pauls Ansatz einer „Visual History“, die Bilder nicht mehr nur als historische Quellen, sondern auch als Objekte eigener Wertigkeit und Wirkungsmächtigkeit fasst, sowie die sorgfältigen Einzelanalysen – von rund 160 Autor/innen in 180 Beiträgen – stießen auf eine große, weitgehend positive Resonanz in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit. Im Vordergrund der Analysen standen die ästhetischen, gesellschaftlichen und kulturellen Aspekte dieses Bildgedächtnisses. Kritisch angemerkt wurde jedoch, dass ökonomische Bedingungen, Institutionen und Machtstrukturen der Bilderproduktion im Hintergrund blieben.2 Der von Annelie Ramsbrock, Annette Vowinckel und Malte Zierenberg herausgegebene Sammelband zu „Fotografien im 20. Jahrhundert. Vermittlung und Verbreitung“ liest sich, deutlich bescheidener, nicht zufällig wie eine Anspielung auf Pauls Bände, nimmt er doch die Kritik als Ausgangspunkt, um jene „Bildagenten“ und Praktiken zu erforschen, die Produktion und Verbreitung von fotografischen Bildern bedingen. Der Band beruht teils auf Beiträgen aus einer 2010 in Berlin veranstalteten Tagung zu „Bilder[n] im 20. Jahrhundert. Institutionen, Agenten, Nahaufnahmen“ (16.–17. September 2010), teils auf Zuträgen weiterer Autor/innen und umfasst insgesamt elf Artikel.

Die Publikation bietet eine ertragreiche Zusammenführung unterschiedlicher Zugangsweisen, die die unterschiedlichen Produktionspraxen und -strukturen im Verlauf des 20. Jahrhunderts kritisch in den Blick nehmen. Die Perspektive der drei Herausgeber/innen, allesamt Historiker/innen (Potsdam, Berlin), ist deshalb so beachtenswert, weil hier ein Forschungsprogramm einer „Visual History“ entfaltet wird, das dezidiert an der Produktion und Distribution von Fotografien ansetzt und sich historisch weitaus umfassender mit den gesellschaftlichen, politischen, ökonomischen und medialen Kontexten auseinandersetzt, als dies Einzelbildanalysen oder auch viele Monografien über Fotograf/innen, einzelne Agenturen und Medien häufig leisten. Das gelingt durch die konsequente theoretische Perspektivierung: Angeknüpft wird an theoretische und methodische Ansätze der historischen Bildforschung, aber auch insbesondere Konzepte der Bildwissenschaften zu „Ordnungen von Sichtbarkeit“3 und zum „practical turn“ sowie der auch zunehmend in der Geschichtswissenschaft Aufmerksamkeit findenden Diskursanalyse, die gerade jene „Macht über die Bilder“4 systematisch in den Blick zu vernehmen mag. Dieses Programm ermöglicht es, die Wissensordnungen und Machtstrukturen ebenso wie die vielfältigen Rahmungen in den Fokus zu rücken, in denen die Bilder produziert, verbreitet, gezeigt wurden und ihre Bedeutung generierten.

Der Band ist in vier Themenfelder gliedert: Neben den Strukturen der Agenturen (Teil I) und Akteuren (Teil II) beleuchtet er Kontexte der Bildpublikationen und -verbreitung (Rahmungen und Formate, Teil III) sowie das Wechselverhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit in und durch Bilder (Teil IV). Den vier Kapiteln haben die Herausgeber/innen eine fundierte, programmatische Einführung vorangestellt, in der sie den spezifischen konzeptionellen Zugang zu den Bildern als historische Quellen entwickeln. Gegenstand der Beiträge sind neben der Pressefotografie auch Propaganda- und PR-Bilder, Bilder sozialer und politischer Bewegungen, aber auch privater Aufnahmen, die im Spannungsfeld politischer Ideologien untersucht werden.

Welchen erkenntnisreichen Zugang die kurz skizzierten theoretischen Impulse ermöglichen, zeigt gleich der erste Beitrag. Jens Jäger untersucht die Rolle der Deutschen Kolonialgesellschaft als „Bildagentur“ für die Verbreitung kolonialer Bilder im Kaiserreich. Anhand der Bildsammlungs- und Distributionspraktiken, unter anderem durch Lichtbildschauen, Ausstellungen und Publikationen, rekonstruiert Jäger die professionelle Organisation der Bildsammlungen und die auf positive Vorstellungen über den Kolonialismus abzielende Bildpolitik des Lobbyverbands. Die Wissensordnungen der Bildarchive und Bildabteilungen großer Presseverlage und Bildagenturen von 1900 bis in die 1930er-Jahre erforscht Malte Zierenberg mittels Analyse betrieblicher Quellen, Handbücher und Publikationen zur Pressebildpraxis. In der Analyse dieser Produktionsstrukturen und -praktiken von Verlagen wie Scherl und Ullstein oder Bildagenturen wie Associated Press zeigt sich insbesondere, wie die betrieblichen Archivierungssysteme zur Konventionalisierung und Ordnung des Blicks auf die Welt beitrugen. Dem sich in diesen Verlagen und Redaktionen entwickelnden neuen Tätigkeitsfeld des „Bildredakteurs“ widmet sich Annette Vowinckel im anschließenden Beitrag, der das Kapitel „Akteure“ einleitet. Am Beispiel ausgewählter Bildredakteure, deren Biografien und Autobiografien als Quelle dienen, zeigt sie auf, wie wichtig die jeweiligen Netzwerkstrukturen, in denen die Fotograf/innen agierten, für die Bildproduktion waren. Damit beleuchtet sie entscheidende professionelle Strukturen des fotojournalistischen Arbeitsprozesses, die noch viel zu wenig systematisch aufgearbeitet sind. Rolf Sachsse erschließt in einer ebenfalls nach weiterer Analyse rufenden Studie jene politische Fotograf/innenszene der Bundeshauptstadt Bonn in der jungen Republik seit Anfang der 1950er- bis in die 1970er-Jahre, die auch als ein solches Netzwerk begriffen werden könnte. Die Fotograf/innen haben das Bild der deutschen Bundespolitik entscheidend mit geprägt. Kathrin Fahlenbrach wiederum zeigt mittels eines elaborierten Modells von Ikonisierungsprozessen am Beispiel populärer Bilder der 68er-Bewegung, wie diese Aufnahmen Eingang in die visuelle Erinnerungskultur gefunden haben. Der Beitrag bietet eine kompakte und erweiterte Zusammenschau bisheriger Vorarbeiten der Autorin.

Das dritte Kapitel „Formate und Rahmungen“ setzt mit dem fast 50 Seiten starken Beitrag von Ulrich Keller zunächst ein deutliches Schwergewicht – eine gelungene Dramaturgie des Bandes. Die medialen Produktions- und Darstellungskontexte der professionellen Fotografie in Illustrierten im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts sind Ausgangspunkt für Kellers breit angelegten Essay über den „Triumph der Bildreportage im Medienwettbewerb der Zwischenkriegszeit“. Keller konstatiert einen geradezu revolutionären qualitativen Wandel der Fotoreportage Ende der 1920er-Jahre. Die ungeheure Bandbreite und Vielfalt in der ästhetischen Gestaltung und der zunehmend elaborierten narrativen Form der Fotoreportage wurde, so die These Kellers, durch das in Zusammenarbeit von Bildredakteuren und Fotograf/innen entwickelte ästhetische Potential zum idealen Medium bürgerlicher Konsumvorstellungen, politischer Propaganda, veränderter Sichtbarkeiten des Krieges, von Kultur und Gesellschaft. Diese verschmolzen zum unhinterfragbaren „Fotospektakel“, wie die zahlreichen Abbildungen aus der AIZ, Vu, Picture Post, Münchener Illustrierten Presse oder dem Illustrierten Beobachter anschaulich belegen. Auch die folgenden Beiträge von Annelie Ramsbrock zur Bedeutung der Paratexte zu den Fotografien Gesichtsverletzter in Ernst Friedrichs Antikriegsbuch „Krieg dem Kriege!“ und Christian Geulens Analyse zum „stumpfen Sinn“ (Roland Barthes) als Substruktur, die, so die These des Autors, die visuelle Rezeption von Robert Capas Aufnahmen bei der Landung am Omaha Beach erst ermöglicht hat, fokussieren jene Rahmen, die die Wirkungsmächtigkeit von Bildern im öffentlichen Diskurs mitbedingen.

Das abschließende Kapitel widmet sich schließlich der privaten und Amateurfotografie, die durch Social Media und digitale Medien inzwischen enorme Bedeutung im Alltag und auch für die professionelle Bildproduktion gewonnen hat. Die historische Aufarbeitung ist daher auch für diese Fotografie höchst relevant und es spricht einmal mehr für den guten Blick der Herausgeber/innen, dieses Feld gleichberechtigt mit einzubeziehen. Monika Dommann widmet sich den rechtlichen Diskursen zur „Schaffung einer Privatsphäre für Porträts um 1900“, deren Grenzen auch aktuell immer wieder Gegenstand öffentlicher Debatten sind. Dem Einfluss von staatlich propagierten Werten und Normen der Freundschaft auf die Praxen der Amateurfotografie und „emotionale Ökonomie in der DDR“ geht Marline Otte nach. Der Beitrag von Linda Conze, Ulrich Prehn und Michael Wildt wiederum versucht methodische Wege der Rekonstruktion aufzuzeigen, um Dimensionen des Politischen in historischen Alltagsfotografien sichtbar werden zu lassen, über deren Urheber/innen wenig bekannt ist.

Die Bezeichnung „Sammelband“ wird dieser Publikation eigentlich nicht gerecht. In der Vielfalt der analysierten Praktiken der Fotografie einerseits und ihren Kontexten andererseits, die sich jeweils historisch, sozial und kulturell als wirkungsmächtig erwiesen haben, schafft der Band einen beeindruckend kohärenten Einblick in spezifische Bedingungen der Fotografie. Dass die unterschiedlichen Beiträge dann auch gleichsam en passant die Fotografie im 20. Jahrhundert weitgehend abdecken, spricht für die durchdachte Konzeption des Bandes. Die von den Herausgeber/innen theoretisch entwickelte und in den Beiträgen konsequent verfolgte Perspektive auf die Rahmungen bringt nicht nur weitere wissenschaftliche Puzzlestein-Befunde eines angesichts seiner gesellschaftlichen Bedeutung zu wenig explorierten Feldes hervor. Der Band liest sich vielmehr wie ein Auftakt eines vielversprechenden Forschungsprogramms. Er eröffnet in fast jedem Beitrag Perspektiven, für deren Weiterentwicklung und weitere Erforschung sich hoffentlich Zeit, institutionelle Rahmen und Ressourcen finden. Insgesamt schließt der Band vielfältig an aktuelle Probleme und Fragen anderer Disziplinen an, das Buch sei daher nicht nur Historiker/innen, sondern der Fotografieforschung in der Visuellen Kultur, Kunstgeschichte und in den Bildwissenschaften sowie Medien- und Kommunikationswissenschaften sehr empfohlen.

Anmerkungen:
1 Gerhard Paul (Hrsg.), Das Jahrhundert der Bilder. Bildatlas 1949 bis heute, Göttingen 2008; ders. (Hrsg.), Das Jahrhundert der Bilder. Bildatlas 1900 bis 1949, Göttingen 2009.
2 Vgl. Wolfgang Ullrich, Rezension zu: Gerhard Paul (Hrsg.), Das Jahrhundert der Bilder. Bildatlas 1949 bis heute. Göttingen 2008 / Gerhard Paul (Hrsg.), Das Jahrhundert der Bilder. Bildatlas 1900 bis 1949. Göttingen 2009, in: H-Soz-Kult, 14.08.2009, <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-11522> (20.05.2016).
3 Peter Geimer, Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt am Main 2002.
4 Malte Zierenberg, Die Produktion des Sichtbaren im Verborgenen. Diskursordnungen der Pressefotografie, ca. 1900–1930, in: Franz X. Eder / Oliver Kühschelm / Christina Linsboth (Hrsg.), Bilder in historischen Diskursen, Wiesbaden 2014, S. 173–194, hier S. 173.

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