D. Helms u.a. (Hrsg.): Geschichte wird gemacht

Cover
Titel
Geschichte wird gemacht. Zur Historiographie populärer Musik


Herausgeber
Helms, Dietrich; Phleps, Thomas
Reihe
Beiträge zur Popularmusikforschung 40
Anzahl Seiten
128 S.
Preis
€ 18,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Ahlers, Institut für Kunst, Musik und ihre Vermittlung, Leuphana Universität Lüneburg

Geschichte zu und über Musik, Musik-Geschichten über, Epochen, Länder, Musikerinnen und Musiker oder die Publika sowie die Frage nach der Nutzung dieses Wissens bzw. dieser Diskurse sind derzeit in mehreren disziplinären Zusammenhängen ein aktuelles und großes Thema.1 Hierbei stehen jedoch vor allem neue Ideen für den Umgang mit älterer oder „klassischer“ Musik im Mittelpunkt der Debatten. Zur Geschichtsschreibung der populären Musik versammelt nun das vorliegende, schmale Büchlein insgesamt sieben Aufsätze. Dabei fokussieren die Autorinnen und Autoren diejenigen jungen und ehemals auch jugendlichen Musiken, die seit etwa Mitte der 1950er-Jahre massenhaft und weltumspannend produziert, distribuiert und rezipiert werden. Mithin geht es also nicht generell um die populäre Musik ihrer jeweiligen Zeit, wodurch hier eben eine noch vergleichsweise überschaubare Zeitspanne von etwa 60 bis 70 Jahren in den Blick genommen wird.

Die Publikation erscheint als 40. Band der Beiträge zur Popularmusikforschung des jüngst zur „Gesellschaft für Popularmusikforschung“2 umbenannten Vereins. In dessen deutschsprachigem Umfeld entstehen seit einigen Jahrzehnten vielfältige Fallstudien, Analysen, Theoretisierungen und Diskussionen um die vielfältige kulturelle, soziale und globale ökonomische Praxis „populärer Musik“. Innerhalb der Forschungsgemeinschaft mit entsprechendem Fokus engagieren sich mittlerweile die Musikwissenschaften neben Medien- und Kommunikationswissenschaften, Literatur- und Bildungswissenschaften, Soziologie, Ethnologie, Informatik oder allgemeinen Kulturwissenschaften. In diesem Buch liegt – was die disziplinäre Herkunft der Autoren angeht – ein klarer Akzent auf den Musikwissenschaften, natürlich mit einer jeweils spezifischen Fokussierung. Die Auswahl und thematische Schwerpunktsetzung sind dabei möglicherweise durch den Peer-Review-Prozess zustande gekommen. Jedenfalls finden sich, verglichen mit der Anzahl der Beiträge auf der vorgelagerten, gleich benannten Arbeitstagung des Vereins, nur gut ein Viertel der dort gehaltenen Vorträge auch im Buch wieder.

Eröffnet wird das Buch durch einen Beitrag von Helmut Rösing. Rösing war bis zu seiner Emeritierung als systematischer Musikwissenschaftler tätig und kann neben seinen Schwerpunkten in der Musikpsychologie mit Fug und Recht als einer der Gründungsväter der deutschsprachigen Popularmusikstudien bezeichnet werden. Sein Artikel widmet sich einem recht weiten Rückblick zur Musikgeschichtsschreibung, um dann entlang der Darstellung jeweiliger technischer Innovationen ihrer Zeit zu einer Formulierung von „Gedanken zur Neujustierung von Musikgeschichtsschreibung“ (S. 16) zu gelangen. Rösing thematisiert dazu Aspekte wie die Frage nach Archiven und Speichern, derzeitige (Un-)Möglichkeiten von Universalgeschichten sowie potenzielle Ordnungskriterien und Adressaten. Er konstatiert, dass Orientierung aktuell ein wichtiger Faktor ist und multimediale Archive – die wiederum keine Unterschiede mehr zwischen Hochkultur oder „untergeordneten“ Kulturen vornehmen – eher zu einer Überfluss-Situation an Informationen führen, denn der Strukturierung dienen. Er schlägt inhaltlich transparente Komplexitätsreduktionen der multidimensionalen Musik(en) vor und vermutet hierin auch die Chance zu einer höheren Prägnanz des Materials selbst. Ferner schlägt er vor, die Funktion der Musik in den Mittelpunkt zu stellen sowie nicht-wissenschaftliche Akteure früh und im Sinne eines transdisziplinären Paradigmas mit in den Diskurs einzubeziehen.

Im zweiten Kapitel wirft der US-amerikanische Musiker und Musikhistoriker Elijah Wald einen kritischen Blick auf die blinden Flecken, die er innerhalb der Geschichtsschreibung der Populären Musik identifiziert hat. Es erscheint ihm auffällig, dass sowohl in nordamerikanischen als auch kontinentaleuropäischen Publikationen diejenigen Künstlerinnen und Künstler ausgeblendet werden, die aufgrund ihrer zugeschriebenen Trivialität nicht beachtenswert für eine wissenschaftlich fundierte Sammlung erscheinen. Er konkretisiert diese Momente der historischen „Stille“ – im Sinne Michel-Rolphe Trouillots – anhand des Beispiels Boney M. und fügt die Perspektive der Machtverhältnisse innerhalb von Diskursen hinzu. Wald plädiert dafür, persönliche Werte und Vorlieben sowie die Ablehnung innerhalb kollegialer Fachkreise sensibel zu beachten: „There is an obvious response to that analogy: It is important to remember Hitler and Stalin, because if we forget about them we run the risk of repeating those horrors. But if we forget bad art – even very popular bad art – what harm does that do?“ (S. 30)

Derek B. Scott lehrt in England kritische Musikwissenschaft und gibt eine der renommiertesten Reihen zur populären Musik im Ashgate Verlag heraus. In seinem Artikel sind die Begriffe Innovation und Interpretation im Verhältnis zur Musikgeschichtsschreibung zentral. Für ersteren reklamiert er anhand der Darstellung ausgewählter historischer Entwicklungen, dass es vorwiegend ungetestete Annahmen auf Basis eines sehr limitierten Wissensbestands sind und waren, die zu Inventionen innerhalb der populären Musik geführt haben. Interpretationen und die diesen zugrunde liegenden theoretischen Konzepte hingegen prägen aus Scotts Sicht die Klassifikationen popmusikalischer Sparten ebenso wie eine Zuschreibung von Authentizität. Er illustriert dies anhand von Musikstilen, die er im Lichte unterschiedlicher Theorien (Queer, Gender, Performance, Communities) darstellt, um so die höchst unterschiedlichen Zugänge, vor allem aber auch die abweichenden Ergebnisse aufzeigen zu können.

In seinem Aufsatz vergleicht der Weimarer Professor für Musikwissenschaft, Geschichte des Jazz und der populären Musik Martin Pfleiderer sieben nordamerikanische Musikgeschichtsschreibungen zur populären Musik, um hierdurch einen Zugang zu den jeweiligen Funktionen, den Motiven, Erzählmodellen sowie dem Prozess der kulturellen Identitätsbildungsprozesse zu bekommen. Auffällig ist für ihn in allen untersuchten Büchern, dass „Popmusikgeschichte […] nur als Sozial- und Kulturgeschichte denkbar“ (S. 69) sei. Im Fazit stellt er fest, dass die Berücksichtigung jüngerer Zugänge zur Musikgeschichtsschreibung unter Einbeziehung globaler oder globalisierter Entwicklungen bisher noch keine weite Verbreitung gefunden hat.

Barbara Hornberger vom Institut für Medien, Theater und Populäre Kultur der Universität Hildesheim stellt den namensgebenden Song des Buchs der Band „Fehlfarben“ in das Zentrum einer kulturpoetischen Analyse und verwendet hierzu Methoden des „New Historicism“. Äußerst kenntnisreich entflechtet sie dabei die unterschiedlichen Diskursfäden, ordnet diese in zeitliche, räumliche, politische und theoretische Kontexte ein und findet so einen Schlüssel für eine ganze „Schule“: der Neuen Deutschen Welle. Sie resümiert, dass eine kulturpoetische Untersuchung ihrer Meinung nach wertvolle Ergänzungen zur Geschichtsschreibung populärer Musik beitragen kann. Die nordamerikanische Band „Steely Dan“ ist Gegenstand der Analyse des Hamburger Musikwissenschaftlers Friedrich Geiger. Seine Beobachtung ist, „dass der Rekurs auf unterschiedliche Schichten von Vergangenheit in den Texten und in der Musik von Steely Dan eine zentrale Konstante bildet“ (S. 102). Hierzu unterzieht er sowohl die Liedtexte als auch Interviews, Sekundärliteratur und die Musik der Band selbst einer ausführlichen Analyse und Interpretation.

Abschließend formuliert der Osnabrücker Musikwissenschaftler Dietrich Helms ein Plädoyer für die Verwendung einer bzw. möglichst vieler Subjekt-Perspektiven in der Historiografie der populären Musik: „Populäre Musik […] war immer wichtiger für die Konstruktion von individueller Geschichte bzw. der kollektiven Geschichte eines sozialen Nahbereichs als für eine größere kollektive Geschichte“ (S. 123). Durch die massenhafte Sammlung und Nutzung individueller, am Lebensweg orientierter Pop-Musikgeschichten entstünde die Möglichkeit, etwas von ihrer ursprünglich oralen Tradierung zu konservieren.

Das Buch gibt einen ersten, wenngleich nicht besonders umfassenden und mitunter spezifisch deutschen Einblick in die Geschichtsschreibung der populären Musik. Die Artikel sind allesamt relevant ob ihrer Ideen und theoretischen Sättigung, dennoch wäre eine größere Bandbreite der Themen und nationalen wie internationalen Diskurse um aktuelle und mögliche Historiografie(n) der populären Musik wünschenswert gewesen.

Anmerkungen:
1 Vgl. aktuelle Tagungen der Musikpädagogik unter <http://www.uni-oldenburg.de/musik/mpdmg> (24.06.2014) und Publikationen mit der Integration geschichtsdidaktischer Ansätze wie Alexander J. Cvetko / Andreas Lehmann-Wermser, Historisches Denken im Musikunterricht. Zum Potenzial eines geschichtsdidaktischen Modells für die Musikdidaktik, Teil 1: Theoretische Vorüberlegungen, in: Zeitschrift für Kritische Musikpädagogik 2011, S. 18–41, online unter <http://www.zfkm.org/11-Cvetko-Lehmann.pdf> (24.06.2014); bzw. Alexander J. Cvetko, Geschichten erzählen als Methode im Musikunterricht. Historische und empirische Studien, Münster 2013.
2 Vgl. die Website der Gesellschaft für Popularmusikforschung, <http://popularmusikforschung.de/index.htm> (25.06.2014).

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