Titel
Aggression und Katharsis. Der Erste Weltkrieg im Diskurs der Moderne


Herausgeber
Ernst, Petra; Haring, Sabine A.; Suppanz, Werner
Reihe
Studien zur Moderne 20
Erschienen
Anzahl Seiten
415 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Angela Schwarz, Fach Geschichte, Universität Duisburg-Essen, Standort Duisburg

„Seit Jahren habe ich den Krieg erwartet, und seitdem er uns aufgezwungen wurde, danke ich Gott täglich und stündlich, dass er mich diese große herrliche Zeit, die Auferstehung unseres Volkes, erleben lässt.“ (Kathinka von Rosen-Fabricius, S. 193)

„Es ist alles umsonst, Ernst. Wir sind kaputt, aber die Welt geht weiter, als wenn der Krieg nicht dagewesen wäre. Es wird nicht mehr lange dauern, und unsere Nachfolger auf den Schulbänken werden mit gierigen Augen den Erzählungen aus dem Kriege lauschen und sich [...] wünschen, auch dabei gewesen zu sein.“ (Erich Maria Remarque, S. 23)

Obschon die europäischen Nationen dem Ersten Weltkrieg in ihren nationalen Erinne-rungskulturen einen unterschiedlichen Stellenwert zumessen mögen, ist er doch in vielerlei Hinsicht unbestritten von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung des 20. Jahrhunderts. Keine Bezeichnung scheint treffender als die von der Urkatastrophe, die die fundamentale Erschütterung der materiellen, ideellen und emotionalen Grundlagen des bisherigen Lebens in einem Wort zusammenfasst. Zeitgenossen kommentierten ihn als Befreiung aus den Fesseln des bürgerlichen Lebens, die die heraufziehende Moderne ihrem Empfinden nach dem Einzelnen wie der Nation umgelegt hatte. Der Krieg als „reinigendes Stahlgewitter“ erschien so als „große herrliche Zeit“, nicht nur männlichen Beobachtern, wie die zitierte Aussage der deutschnational ausgerichtete Österreicherin Kathinka von Rosen-Fabricius andeutet. Zeitgenossen sprachen aber ebenso von der ungeahnten Brutalität dieses Krieges, der nach einem Wort von Eric J. Hobsbawm das Zeitalter des Massakers einläutete. Erich Maria Remarque schuf mit seinem Jahre nach dem Krieg veröffentlichten Roman Im Westen nichts Neues (1929) einen ganz eigenen Gedächtnisort für den Schrecken des modernen Krieges. Zwischen diesen beiden Polen bewegte sich die Vielfalt an zeitgenössischen Einschätzungen, die den Ersten Weltkrieg innerhalb der Moderne verorteten. Mit welchen Kontinuitäten und Brüchen, mit welchen Aspekten und Methoden, mit welcher Ausstrahlung auf nachfolgende Entwicklungen dies geschah, ist Gegenstand dieses Sammelbandes.

Der Band ging aus einer Tagung des Grazer Sonderforschungsbereichs über „Moderne – Wien und Zentraleuropa um 1900“ hervor, die im Jahr 2001 abgehalten wurde. Das Ziel, sowohl interdisziplinär als auch international zu sein, um möglichst viele unterschiedliche Ansätze der Kulturwissenschaften zu berücksichtigen, hat eine vergleichsweise ungewöhnliche und auf den ersten Blick nicht unbedingt ausgewogene Zusammenstellung von Teilaspekten und nationalen Perspektiven ergeben. Der Fokus der sechzehn Einzelbeiträge liegt – im Einklang mit der Ausrichtung des SFB – auf Mitteleuropa, obwohl in einem Beitrag, der Frankreichs Umgang mit dem „Fall Richard Wagner“ erörtert, ein Blick nach Westen schweift. An Disziplinen sind all jene vertreten, die sich unter dem Etikett der Kulturwissenschaften vereinen lassen, von der Philosophie und der Geschichte bis zur Bild- und Musikwissenschaft. Selbst die Geschichte der historischen bzw. kulturwissenschaftlichen Aufarbeitung des „Großen Krieges“ – und darin ebenso die britische und die französische Sicht – findet hier Raum.

Trotz der Flut an Literatur über den Ersten Weltkrieg haben viele Aspekte bisher noch wenig Beachtung gefunden. Man sollte etwa meinen, dass ein Krieg, der noch vor seinem Ende als „Krieg der Ingenieure“ (David Lloyd George) tituliert, vielfach als Maschinenkrieg mit einem neuartigen Grad der Technisierung identifiziert, als Auslöser von Technikrausch und Technikschock gesehen wurde, hinsichtlich des Zusammenhangs von Krieg, Technik und Moderne hinlänglich erforscht sei. Aber das ist keineswegs der Fall. Dabei bietet der Aspekt, wie Peter Wilding in seinem Beitrag anschaulich darstellt, eine Vielzahl von Ansatzpunkten, die den Krieg als neues Betätigungsfeld der Techniker hervortreten lassen, so wie es die im Zeichen von Bevölkerungswachstum und Industrialisierung rapide expandierende Stadt seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gewesen war. Einer dieser Punkte ist das Verhältnis von Technikern und Generalstäben, das falsch wiedergegeben wäre, wollte man es auf die Dichotomie hier die Neuerer, dort die Zögerer oder konservativen Strategen bringen. Andere Punkte sind die durchaus nicht eindeutige Bewertung der technischen Möglichkeiten durch die Ingenieure selbst, die fortschreitende Durchdringung von ziviler und militärischer Technik, die neue Form der Zivilisationskritik, die aus dem Kriegsgeschehen abgeleitet wurde. Denn trotz des gestiegenen Unbehagens in der Moderne, trotz erhöhter Technikkritik im Einzelnen – beides Folgen des neuen Zerstörungspotenzials – lautete die aus den Erfahrungen gezogene Lehre, die Menschen benötigten nicht weniger, sondern mehr Technik bzw. eine bessere Organisation der Technik. Das würde nämlich den Weg in eine andere, eine bessere Moderne eröffnen. Hier spiegelt sich exemplarisch die für das Projekt Moderne typische Vereinigung der Gegensätze mit all den Spannungen, die daraus für Akteure und Beobachter entstanden.

Ähnliches lässt sich über den „Krieg der Ärzte und Psychiater“ sagen, über eine Berufsgruppe, die die Auseinandersetzung zum „Krieg der Nerven“ stilisierte und damit sich selbst zu kriegswichtigen Experten. Der Soldat erhielt in einem technisierten Krieg die Rolle einer mehr oder minder gut funktionierenden Maschine zugewiesen, der Arzt die des Mechanikers, der die beschädigte Maschine wieder einsatzfähig machen würde. Allerdings, so betont Hans-Georg Hofer zu recht, verstanden sich die Ärzte nicht nur als Handlanger des Militärs, die traumatisierte Soldaten nach erfolgreicher Behandlung an die Front entlassen würden. Vielmehr konnte, darin liegt ein erneuter Hinweis auf die Ambivalenz der Moderne, die Diagnose „Kriegspsychose“ auch zum Schutzraum derjenigen werden, die sonst wegen einer bewussten Verweigerungshaltung von Kriegsgerichten abgeurteilt worden wären.

Am Ende kristallisiert sich für die Leser/innen des Bandes trotz der unterschiedlichen Mosaiksteine doch ein Gesamtbild heraus, heterogen und ambivalent ebenso wie die Wahrnehmung des Ersten Weltkrieges durch die Zeitgenossen. Es zeigt sich, in welch unterschiedliche, z.T. sogar gegensätzliche Entwürfe der Moderne sich die Kriegserfahrung integrieren und wie sehr sie sich trotz aller Brüche in einen Diskurszusammenhang einordnen lässt, der vom späten 19. Jahrhundert bis in die 30er und 40er-Jahre des 20. hineinreicht. So wird letztlich ein Teil jener Faszination des Krieges als Chance zum Auf- und Ausbruch greifbar, ebenso ein Teil jenes neuen Gefühls der Unsicherheit und Verlorenheit. Ein anderer hingegen verschließt sich bzw. rückt nun erst in den Blick, so dass neue, weiterführende Fragen aufkommen. Man darf auf weitere Ergebnisse aus diesem Forschungsprojekt gespannt sein und hoffen, dass die Anregungen und Hinweise auf Forschungsdesiderate bald angenommen und umgesetzt werden.

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