W. Schulze u.a. (Hgg.): Deutsche Historiker im Nationalsozialismus

Titel
Deutsche Historiker im Nationalsozialismus.


Herausgeber
Schulze, Winfried; Otto Gerhard Oexle
Erschienen
Frankfurt am Main 1999: Fischer Taschenbuch Verlag
Anzahl Seiten
367 S.
Preis
€ 12,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tobias Kaiser, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität

"Deutsche Historiker im Nationalsozialismus" lautete der Titel einer viel beachteten Sektion des 42. Deutschen Historikertages 1998 in Frankfurt/Main. Aus den dort gehaltenen Vorträgen und der Diskussion ist der vorliegende gleichnamige Band hervorgegangen, den Winfried Schulze und Otto Gerhard Oexle unter Mitarbeit der auch am Vorwort beteiligten Gerd Helm und Thomas Ott herausgegeben haben. Die entsprechende Thematik ist den Fachhistorikern, aber auch großen Teilen der Öffentlichkeit wohl kaum verborgen geblieben. Insbesondere die Leser der Webseiten von H-Soz-u-Kult konnten und können durch die im Netz veröffentlichten Beiträge die lebhafte Debatte verfolgen. 1

Es kann an dieser Stelle nicht detailliert auf die in den letzten Jahren stark angewachsene Literatur eingegangen werden. Einen sehr guten Forschungsabriß bietet die - im Netz frei zugängliche - Einleitung des zu rezensierenden Bandes. 2 Als Resultat der neuesten Forschung kann festgehalten werden, daß sich die ältere These als unhaltbar erwiesen hat, wonach sich aus der Reihe der Historiker nur "wildgewordene Studienräte oder Außenseiter" mit dem NS eingelassen hätten, und sich somit eine Beschäftigung mit der Historiographie dieser Zeit nicht lohne. 3 Die legitimatorische Funktion der Geschichtswissenschaft in der Zeit des Nationalsozialismus kann heute nicht mehr ernsthaft bestritten werden.

Der Band versteht sich als zusammenfassende Bestandsaufnahme und enthält - auch in Form und Länge - verschiedenartige Beiträge. Neben den Druckfassungen der auf dem Historikertag gehaltenen Referate (von Peter Schöttler, Pierre Racine, Götz Aly, Michael Fahlbusch und Mathias Beer) und dem dort vorgetragenen Kommentar Jürgen Kockas sind auch kurze Comments (von Arnold Esch und Wolfgang Schieder), zu Aufsätzen ausgebaute Reaktionen (von Hans-Ulrich Wehler, Hans Mommsen und Wolfgang J. Mommsen) und thematisch passende Beiträge (von Franz-Rutger Hausmann, Wolfgang Behringer und Ingo Haar) aufgenommen worden.

Zu der begrüßenswerten Vielfalt des Bandes gehört es, daß einige wichtige biographische Beispiele vorgestellt werden: zur "Westforschung" etwa Günther Franz, Hermann Heimpel, Franz Steinbach und Franz Petri, zur "Ostforschung" vor allem Theodor Schieder und Werner Conze. Es zeigen sich Unterschiede bei den Fällen: So waren Franz und Heimpel an der Reichsuniversität Straßburg tätig - eine Tätigkeit, die besondere Linientreue der Berufenen voraussetzte. Während Franz, dessen Publikationen und Reden "von Rassismus und Antisemitismus durchtränkt" (130) waren, dort den stark ideologisierten Lehrstuhl innehatte, der "insbesondere für Geschichte des deutschen Volkskörpers und Volkstums" verantwortlich war, lehnte Heimpel just diesen Lehrstuhl ab, übernahm aber - durchaus "dans la ligne hitlérienne" (147) - den mediävistischen Lehrstuhl, ohne sich jedoch, so Racine, total mit der Nazi-Ideologie zu identifizieren.

Diese Frage der partiellen Identifikation mit NS-Gedankengut stellt sich auch bei anderen betrachteten Historikern. Schieder habe im Rahmen seines Entnazifizierungsverfahrens angegeben, nie mit der "Gesamtheit der Ziele und Methoden der NSDAP" (177) konform gegangen zu sein, wie Aly in seinem "Theodor Schieder, Werner Conze oder Die Vorstufen der physischen Vernichtung" überschriebenen Beitrag ausführt. Dabei bezieht sich der Begriff der "Vorstufe" auf eine von Schieder selbst 1979 angestellte Analyse, wonach Deportation und Zwangsumsiedlung in der Regel Vorstufe der Vernichtung gewesen seien. (178) Im Zusammenhang mit dem 1992 edierten bevölkerungspolitischen Geheimgutachten 4 aus dem Jahr 1939, in dem Zwangsumsiedlungen geplant wurden, - der sogenannten "Schiederschen Denkschrift" - gewinnen diese Worte eine neue Bedeutung. Das expliziert Aly - wie schon in bisherigen Veröffentlichungen -, im Sinne einer radikalen Aufdeckung der belastenden NS-Vergangenheit der beiden Nestoren der Sozialgeschichte.

Die Fokussierung auf Handlungen einzelner Historiker zieht die Kritik Kockas auf sich, der hierin "eine handlungsgeschichtliche Akzentverschiebung" der Historiographie sieht, die zwar "die direkte Thematisierung von Verantwortung und Schuld [ermögliche], oft allerdings um den erheblichen Preis des Verzichts auf Fragen nach Bedingungen, Folgen und Zusammenhang" (351f), so Kocka. Wie soll nun zukünftige Forschung mit den Befunden der Einzelfallstudien umgehen?

Die Lösung kann nur darin liegen, daß man versucht, diese in "Analysen von Netzwerken und Praxisfeldern"(90) einzubauen, wie es Schöttler in seinem Beitrag vorschlägt und anhand der rheinischen Landesgeschichte skizziert. Auch Ingo Haars Beitrag zur völkischen "kämpfenden" Geschichtswissenschaft ordnet die Einzelfälle in den Gesamtkontext der Ostforschung ein. Weitere wichtige Netzwerke werden im Band vorgestellt: der "Kriegseinsatz der Deutschen Geisteswissenschaften" durch Franz-Rutger Hausmann und die "Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften" am Beispiel der "Südostdeutschen Forschungsgemeinschaft" durch Michael Fahlbusch. Beide Autoren sind bereits mit einschlägigen Monographien zu diesen Themen hervorgetreten. Ihre Arbeiten zeigen eindrücklich die weitgehende Vernetzung der Wissenschaften, die Professionalisierung gemeinschaftlichen Handelns, in der die zum Teil übernommene Funktion der Politikberatung eine erhebliche Rolle spielte.

Eine Hauptschwierigkeit, die in den bisher referierten Beiträgen immer wieder zu Tage kommt, wird von Hans Mommsen in seinen "Anmerkungen zur Historikerdebatte" aufgegriffen: die Frage nach dem Wesen des Nationalsozialismus. Daß die Beteiligten immer guten Gewissens sagen konnten, mit dem NS nicht hundertprozentig übereingestimmt zu haben, heutige Historiker selten eine totale Übereinstimmung mit nationalsozialistischer Ideologie finden können und die Existenz einer nationalsozialistischen "Wissenschaftstheorie" nebulös bleibt, ist nicht verwunderlich, sondern symptomatisch: "Was am Beispiel der Ostforschung zur Diskussion steht, ist nicht Ausfluß einer Affinität zum NS, sondern ist der wirkliche Nationalsozialismus" (271), so Hans Mommsen. Dieser Ansatz erklärt mehr als ein angenommener Dissens zwischen Wissenschaft und "wahrem Nationalsozialismus", auch wenn ein solcher von den meisten Beteiligten ohne Zweifel selbst so wahrgenommen wurde.

Daß die Debatte bislang gar nicht, dafür aber jetzt sehr kontrovers geführt wird, liegt sicherlich an der Wirksamkeit Conzes, Schieders, Erdmanns, Heimpels u.a. innerhalb der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft. Der Vorwurf an die Schülergeneration, die entscheidenden Fragen nicht gestellt zu haben, ist Thema vieler Aufsätze des Sammelbandes. So spart Aly nicht mit Kritik an Wehler, Kocka und Gall, denen er "selbstgewisses Euphemisieren" vorwirft, was er als "Haupthindernis auf dem Weg zur historisch gerechten Beurteilung Schieders und Conzes" ansieht. (174) Wenn Kocka nun Aly vorwirft, er stelle "die belastenden Zitate collageartig" (342) zusammen und Kocka "Positionskämpfe, die Begleichung alter Rechnungen [...] und Profilierung" in der Debatte erkennt, so wird die gereizte Atmosphäre der oft als Generationenkonflikt angesehenen Diskussion offenbar.

Wolfgang J. Mommsen warnt als Angehöriger der "alten Schülergeneration" vor vorschnellen Urteilen, was in der Diskussion jedoch wie ein Entschuldigen wirkt. Besonders betroffen scheint Wolfgang Schieder zu sein, der Sohn Theodors und ehemalige Assistent Conzes. Er wehrt sich gegen den Vorwurf, Forschung behindert zu haben und verweist auf das sehr liberale Klima, das Schieder und Conze in der Bundesrepublik ihren Schülern bereitet haben. Diese liberale Offenheit sei "wohl als eine Form aktiver Verantwortlichkeit" (305) zu sehen. Zudem erklärt Wolfgang Schieder dem verblüfften Leser, daß die Nachfolgegeneration sehr wohl Fragen gestellt, aber keine Antworten erhalten habe.

Ähnliches weiß Hans-Ulrich Wehler zu berichten, der offen zugibt, daß ihn die Enthüllungen schmerzhaft getroffen haben. Als Erklärung für das Verhalten seines Lehrers Schieder stellt er die Innovationskraft der Volksgeschichte den traditionellen Zugängen der herkömmlichen Geschichtsschreibung gegenüber. Wehler schließt auf einen "politisch-reflexiven Lernprozeß" (333) Schieders nach 1945, der sich im Bemühen um theoretisch-methodische Reflexion zeige, im Urteil Wehlers "ein schmerzhafter, aber doch überzeugender Lernprozeß und eine Wirkung auf die Geschichtswissenschaft und das historische Bewußtsein" (336), die er "nur positiv nennen" könne. Auch wenn man der Einschätzung als "Lernprozeß" folgt, so stellt sich doch die Frage, inwiefern man hier von Schmerzhaftigkeit reden kann - angesichts der problemlosen Integration in die bundesdeutsche Gesellschaft und der Tatsache, daß sich dieser Lernprozeß "in der Sicherheit des Schweigens" (Dirk van Laak, zitiert 107) abspielte. In diesem Zusammenhang ist auch Eschs Einwurf zu verstehen, der darauf hinweist, daß Heimpel die offenbar seltene Größe besaß, von persönlicher Schuld zu sprechen.

Sehr deutlich wird, daß die Historiographiegeschichte vor und nach 1945 nicht voneinander zu trennen ist. Es ist an der Zeit, einen kritisch-distanzierten Blick auf beide Epochen zusammen zu werfen. Hervorzuheben ist der Ansatz Beers in seinem Aufsatz zum ">Neuanfang< der Zeitgeschichte nach 1945". Ausgehend von Karl Dietrich Brachers These von der "doppelten Zeitgeschichte", womit die Zwischenkriegszeit seit 1917/18 und die Nachkriegszeit nach 1945 gemeint sind, sieht er eine "Überlagerung der beiden Zeitgeschichten in den Biographien der Historiker" (275). Beer untersucht diese Überlagerung anhand des Wirkens Theodor Schieders. Der Vergleich der Ansichten vor 1945 mit den Forschungen zur "Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten nach 1945", die in der Bundesrepublik durch das Vertriebenenministerium unterstützt wurden, machen gewisse methodische Kontinuitäten, aber auch reflexiv-moralische Brüche zum Nationalsozialismus deutlich.

Die Beiträge zeichnen in ihrer Zusammenschau trotz aller Unterschiede ein neues Bild der Wissenschaftslandschaft vor 1945. Der von Schöttler vorgeschlagene Weg der Analyse der Netzwerke wird sicherlich die unterschiedlichen Urteile nicht auflösen und muß, wie dieser selbst propagiert, durch biographische Analysen ergänzt werden. Es ist dieses Phänomen biographischer Brüche und lebensweltlicher Schwierigkeiten, das die Diskussion schwierig, aber auch interessant macht und zu dem weitere Forschungen angestrengt werden müssen - ebenso wie zur Frage mentalitätsgeschichtlicher Ursachen der Haltungen von Wissenschaftlern, die nicht per se als Entschuldigungen diffamiert werden sollten. Der Mitherausgeber Oexle stellt in seinem bemerkenswerten einleitenden Essay hierzu konzeptionelle Überlegungen an. Er schlägt vor, nach Schlüsselbegriffen wie "Gemeinschaft", "Ordnung", "Ganzheit" zu fragen und nach den dahinterstehenden ">Dispositionen< [...] im Sinne einer >Mentalitätengeschichte<" (53) zu suchen. Es ist mit Sicherheit notwendig, auf den so skizzierten Bahnen weiter zu forschen und die zur Zeit noch sehr konträren Auffassungen dabei einzubeziehen. Der vorliegende Band bietet hierfür eine hervorragende Grundlage, da er bisherige Arbeiten zusammenfaßt und wichtige konzeptionelle Überlegungen bietet. Es ist ihm größtmögliche Verbreitung zu wünschen!

Anmerkungen:
1 Vgl. die Übersicht über die Essays unter http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/beitrag/essays/essay.htm und insbesondere das Interviewprojekt "Fragen, die nicht gestellt wurden! oder gab es ein Schweigegelübde der zweiten Generation?", in: H-Soz-u-Kult, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/beitrag/intervie/index.htm.
2 Vgl. H-Soz-u-Kult, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/beitrag/intervie/fischer/nsband.htm. Als wichtigste Literatur sei genannt: Michael BURLEIGH: Germany turns Eastwards. A Study of Ostforschung in the Third Reich, Cambridge 1988; Karen SCHÖNWÄLDER, Historiker und Politik. Geschichtswissenschaft im Nationalsozialismus, Frankfurt am Main/New York 1992; Willi OBERKROME, Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918-1945, Göttingen 1993; Martin KRÖGER/Roland THIMME, Die Geschichtsbilder des Historikers Karl Dietrich Erdmann. Vom Dritten Reich zur Bundesrepublik. Mit einem Vorwort von Winfried SCHULZE, München 1996; Ursula WOLF, Litteris et Patriae. Das Janusgesicht der Historie, Stuttgart 1996; Götz ALY, Macht - Geist - Wahn. Kontinuitäten deutschen Denkens, Berlin 1997; Peter SCHÖTTLER (Hrsg.), Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918-1945, Frankfurt am Main 1997; Götz ALY: »Daß uns Blut zu Gold werde«. Theodor Schieder, Propagandist des Dritten Reichs, in: Menora. Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte 1998, S. 13-27; Johannes FRIED: Eröffnungsrede zum 42. Deutschen Historikertag am 8. September 1998 in Frankfurt am Main, in: ZfG 46 (1998), S. 869-874; Ursula WIGGERSHAUS-MÜLLER: Nationalsozialismus und Geschichtswissenschaft. Die Geschichte der Historischen Zeitschrift und des Historischen Jahrbuchs von 1933-1945, Hamburg 1998; Michael FAHLBUSCH: Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Die »Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften« von 1931-1945, Baden-Baden 1999.
3 Hans ROTHFELS, Die Geschichtswissenschaft in den dreißiger Jahren, in: Andreas FLITNER (Hrsg.), Deutsches Geistesleben und Nationalsozialismus. Eine Vortragsreihe der Universität Tübingen. Mit einem Nachwort von Hermann DIEM, Tübingen 1965, S. 99. Werner CONZE, Der Weg zur Sozialgeschichte nach 1945, in: Christoph SCHNEIDER (Hrsg.), Forschung in der Bundesrepublik Deutschland. Beispiele, Kritik, Vorschläge, Weinheim/Deerfield Beach, Florida/Basel 1983, S. 73.
4 Angelika EBBINGHAUS/Karl Heinz ROTH: Vorläufer des »Generalplans Ost«. Eine Dokumentation über Theodor Schieders Polendenkschrift vom 7. Oktober 1939, in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 7 (1992), S. 62-94.

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